Freitag, 29. Dezember 2023
Spoiler 11
1981
Im ersten Schuljahr blieb niemand sitzen. Aber zum Ende des zweiten Schuljahres hatte der Klassenlehrer entschieden, dass Raimund besser dran wäre, wenn er die zweite Klasse wiederholte. Das war grundsätzlich eine kluge und angemessene Entscheidung, in Raimunds Fall hingegen ein großes Unglück, weil es ihm erstens Schläge von seinem Vater einbrachte, der die Schmach eines sitzen gebliebenen Sohnes als persönlichen Affront empfand und weil zweitens ein Lehrkraft-Wechsel damit verbunden war, von dem aufgeschlossenen, fortschrittlichen und empathischen Herrn Kowalski zu der strengen, erbarmungslosen Frau Heinrich. Ihre uneingeschränkte Verachtung bekam der kleine Raimund vom ersten Tag an zu spüren. Sie hatte nicht viel übrig für die kleinen Trampel vom Bauernhof, die man ständig in ihre Schranken weisen musste und denen alle Feinheiten des Lebens fremd waren. Hier half nur eine harte Hand, klare Ansagen, feste Regeln, konsequente Sanktionen bei Verstößen, damit sie wenigstens das Wichtigste lernten und einem nicht auf dem Kopf herumtanzten. Rechnen, Schreiben, Lesen, Stillsitzen und Gehorchen - wenn sie das gelernt hatten, war Frau Heinrich mit sich zufrieden. Sie war die erste Frau, vor der Raimund sich fürchtete - und die ihn wütend machte. Ein wenig fürchtete er sich zwar auch vor Oma Lisbeth, aber die beachtete ihn meistens kaum, sodass sie keine ernsthafte Bedrohung für ihn darstellte.

Einen Vorteil konnte Raimund hingegen für sich verbuchen: in der neuen Klasse saß er neben Sigrid Husemann aus dem Gasthof Bierhoff - die war besonders nett und die beste Spielkameradin auf dem Pausenhof. Sigrid war nicht so eine Ziege wie die anderen Mädchen, hatte Spaß am Klettern, gab nicht viel darauf, ob sie sich schmutzig machte und kannte die besten Witze, weil sie die alle im Gasthof aufgeschnappt hatte.
Nach ein paar Tagen schlug Sigrid spontan vor: "Komm doch nach der Schule mit zu uns - meine Mama macht heute Reibeplätzchen, die werden nie alle, da kannst du welche mitessen und die sind echt lecker. Und bis die fertig sind, können wir noch ein bisschen spielen und danach auch."
"Au ja!", jubelte Raimund. "Reibeplätzchen sind mein Lieblingsessen."

Eigentlich wusste Raimund überhaupt nicht, was er sich unter dem Namen dieses Gerichtes vorstellen sollte, aber die Aussicht, gleich nach der Schule eine unendlich lange Zeit mit Sigrid zu verbringen und dazu auch noch ein leckeres Mittagessen serviert zu bekommen - denn lecker war es allemal, wenn Sigrid es pries und zudem von Plätzchen die Rede war - diese Aussicht ließ die Sommersonne in seinem kleinen Bauch aufgehen.

Sie hatten es nicht weit, denn direkt gegenüber der Bushaltestelle befand sich der Gasthof, in dem Sigrid wohnte. Sie betraten das Gebäude durch den Nebeneingang. Sigrid warf ihren Ranzen unter die Flurgarderobe und rief laut: "Oma, ich hab' Raimund mitgebracht, damit die Reibeplätzchen alle werden und es morgen gutes Wetter gibt."
"Oh, wie schön!", hörte Raimund eine Stimme aus der Küche antworten. "Dann mache ich ein paar mehr. In einer halben Stunde sind sie fertig."
"Komm", forderte Sigrid ihren Spielkameraden auf. "Wir gehen auf die Apfelwiese."

Die Äpfel waren noch nicht reif, aber die Bäume waren voller Früchte, die schon bald gepflückt werden oder sanft ins dichte, weiche Gras fallen würden, um dann schleunigst zu Apfelmus oder Schweinefutter verarbeitet zu werden. Nur die Klaräpfel waren bereits zur Hälfte abgeerntet und einige von ihnen kochten gerade in der Gasthofküche zu köstlichem, heißem Obstbrei ein.
Sigrid besaß ein stabiles Schaukelbrett, das mit festen Hanfseilen am kräftigsten Ast eines stattlichen Obstbaums befestigt war. Sie ließ Raimund großzügig den Vortritt und gab ihm mit kräftigem Schubsen ordentlich Schwung, sodass er mit den Zehenspitzen einige Blätter des Baumes berühren konnte. Beim Herabfallen spürte er ein deutliches Kitzeln in seinem Bauch.

Kurz darauf saß Raimund selig an Bierhoffs Küchentisch und verschlang genüsslich die knusprigen Reibeplätzchen, dazu ein bisschen Apfelmus, aber die meisten, genau wie Sigrid, mit weißem Zucker bestreut: warm, süß, fettig und leicht gesalzen - er konnte erst aufhören zu essen, als sein kleiner Bauch so spannte, dass wirklich nichts mehr hineinging.

Plötzlich stand Ingrid in der Küche. Die Mischung aus ängstlicher Sorge, Erleichterung und Zorn, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, konnte Raimund nicht lesen. Nur dass irgendetwas nicht stimmte, das spürte er deutlich und die Glücksgefühle in seinem Bauch machten einem undefinierbaren Grummeln Platz, das sein Körper dadurch abzustoßen versuchte, dass er sich in hohem Bogen erbrach: mitten auf den Wohnzimmer-Teppich. Das brachte ihm nicht nur Schläge von Horst ein, sondern auch den schweigenden Liebesentzug seiner Mutter. Sie hatte ihm zwar erklärt, dass er immer direkt von der Schule nach Hause zu kommen hatte, worin nun aber die Ungeheuerlichkeit seines Fehltrittes gelegen hatte, vermochte ihm niemand zu erklären. Und so wurde der Beginn einer wunderbaren Kinderfreundschaft bereits im Keim erstickt.

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