Freitag, 8. Dezember 2023
Spoiler 8
1970
Ingrid nahm ihren 21. Geburtstag zur Kenntnis. Gefeiert wurde nicht.
"Wenn du feiern willst, kümmere dich selbst darum.", hatte die Mutter gesagt. Aber wen hätte Ingrid schon einladen sollen? Sie hatte keine Freundinnen und Freunde erst recht nicht. Sie war jetzt volljährig, sie konnte tun, was sie wollte, aufbrechen, zu welchem Ort auch immer sie wollte, aber wohin hätte sie schon gehen können? Sie war nicht ausgebildet, besaß kein eigenes Geld und hatte - wie gesagt - keine Freunde, die sie hätten beherbergen und unterstützen können. Ihre einzige Chance auf etwas Würde bestand in der baldigen Heirat eines anständigen Mannes - die Besten waren bereits in festen Händen, so viele in Ingrids Alter waren bereits verlobt.
Bis zur nächsten Tanzveranstaltung in der Umgebung war es noch acht Wochen hin, dann begann die Saison und bis dahin wollte sie gut aussehen. Die Feld- und Gartenarbeit verrichtete sie jetzt, so oft es ging leicht bekleidet, damit sie Farbe bekam. Sie aß nicht so viel von allem, was fettig war und süßte Kaffee und Tee nur noch mit Süßstoff. Tatsächlich verlor sie ein paar Pfunde und fühlte sich gleich attraktiver, da konnten auch die spitzen und abwertenden Bemerkungen ihrer missgünstigen Mutter nichts ausrichten. Lisbeths Beleidigungen machten keinen Eindruck mehr auf sie, denn mit den hohlen Wangen, den dunklen Ringen unter den Augen, den Krähenfüßen und den gekräuselten Lippen und dem viel zu dünnen aschblond-grauen Haar wirkte ihre Mutter mehr wie ein Gespenst als wie eine gestandene Bäuerin. Ingrid hatte ihre Statur mehr vom Vater geerbt; stämmige Beine und einen kräftigen Rücken, dazu war sie mit üppigen Brüsten und einer vollendeten Hüftrundung gesegnet. Sie war ein richtiges Vollweib, das durchaus das Potential besaß, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, wenn sie nur nicht immer so mürrisch dreingeblickt hätte. Aber aus ihrem vollen, langen Haar ließ sich Einiges machen und das neue Tanzkleid hing schon auf dem Bügel - nichts Großartiges, aber fesch und für die üblichen Zeltfeste mehr als ausreichend. Dieses Jahr würde es klappen, da war sie sich sicher, jetzt war sie endlich auch einmal dran. Gerds Frau erwartete nämlich bereits das zweite Kind und ließ keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, dass Ingrids Enkel-Lieferungen jawohl noch in weiter Ferne lägen, zumal sie sich noch nicht einmal einen geeigneten Vater für die Kinder angelacht habe. Ingrid wollte es allen zeigen.

So versank sie gerade in ihren Gedanken an einem Mittwoch im Mai, durchgeschwitzt und erschöpft von der Arbeit, die Schweine lärmten in Erwartung der Fütterung und Ingrid gab sich dem fast schon kontemplativen Rhythmus des Handgemelks hin, als sie sich wunderte, warum die Schweine nicht allmählich Ruhe gaben. Sie molk die Kuh noch zu Ende, dann schlurfte sie in Richtung der Schweineboxen, um nachzusehen, was da nicht nach Plan lief.
Die Sauen gingen gierig schreiend und quiekend die Wände hoch und Ingrid stellte sofort fest, dass sie noch kein Futter bekommen hatten. Nur ganz hinten war es ruhig. Warum war Fritz einfach weggegangen und hatte die Tiere nicht komplett versorgt? Sie rief ihn, erhielt aber keine Antwort und weil sie ihn nirgends erblickte, erbarmte sie sich der Tiere und setzte die Fütterung fort. Als alle zufrieden grunzten, schrubbte sie ihre Hände, tauschte die Holzpantinen gegen Hausschuhe aus und ging in die Küche, wo die Mutter bereits den Tisch fürs Abendessen deckte.
"Is' Vatter immer noch nich' fertig mit füttern?", fragte Lisbeth angespannt.
"Ich habe gefüttert.", antwortete Ingrid. "Wo unser Vatter is' weiß ich auch nich'. Wahrscheinlich im Gasthof."
"So was macht der nicht.", antwortete Lisbeth. "Der läuft doch nicht mitten bei der Arbeit weg."
"Wer weiß.", erwiderte Ingrid. "Je oller, je doller."
"Jetzt geh unsern Vatter suchen.", wies die Mutter sie scharf zurecht. "Gibt gleich Abendbrot."
Widerwillig schlurfte Ingrid in den Stall zurück. Wo sollte sie den Alten denn suchen? Seufzend schlüpfte sie in ihre Pantinen. Sie würde wohl auf dem ganzen Hof herumstöbern müssen, eher gäbe Lisbeth keine Ruhe. Sie spürte einen leichten Harndrang und entschloss sich, den Toilettengang auf einem Weg zu erledigen. Das Plumpsklo im Stall war jetzt schön ruhig, wo die Tiere versorgt waren.
Als sie die Tür öffnete, starrte sie verwundert auf ihren Vater und wollte ihn gerade anfauchen, weil er stundenlang auf dem Klo saß und nicht antwortete, wenn man ihn rief, doch dann dämmerte ihr, dass Fritz weder antworten noch irgendetwas hören konnte. Seine halb geöffneten Augen blickten starr ins Nichts, der Oberkörper war zur Seite gekippt und lehnte schlaff in einer Mauerecke, die Lippen schimmerten bläulich, die Gesichtsfarbe erschien blass und wächsern. Und auch wenn sie viele Jahre lang diesen Moment herbeigesehnt hatte, schrie sie aus Leibeskräften und konnte gar nicht mehr aufhören, auch nicht, als Lisbeth dazu kam und mit einfiel in die vermeintliche Totenklage.

Mit der Tanzboden-Bekanntschaft wurde es auch in diesem Jahr nichts, das Trauerjahr war einzuhalten, auch wenn es für Ingrid nichts zu betrauern gab.

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