Freitag, 14. März 2025
2nd Spoiler 13
c. fabry, 00:00h
1981
In der zweiten Klasse kamen zwei Jungen dazu, die das Schuljahr wiederholen mussten und es ergab sich, dass Sigrid neben einem von ihnen saß: Raimund Ramöller. Er war ein stiller, schüchterner Junge, der jedes Mal den Kopf einzog, wenn die Lehrerin, Frau Heinrich ihn ansprach. Sigrid empfand Mitleid mit ihm, denn er hatte sich schließlich nicht ausgesucht, dass er im Unterricht nicht so mitkam und deshalb ein Jahr wiederholen musste. Sie fragte, ob er in der Pause Zielschießen mit Stöckchen spielen wolle und er war dabei. Beide hatten so viel Spaß daran, dass sie eine Gewohnheit daraus machten und sich nebenbei Witze erzählten. Sigrid kannte die besten; zumindest lachte Raimund so herzerfrischend darüber, dass das Mädchen innerlich bei jeder gezündeten Pointe ein Stück größer wurde. Weiter wuchs sie, als Raimund sie zum Klettern auf die einzeln stehenden Bäume animierte und sie ihr Talent entdeckte. Schrammen auf der Haut und grüne Streifen in der Kleidung waren ihr dabei vollkommen egal. Und zum Glück schaffte Renate es, über den Mehraufwand in der Waschküche großzügig hinwegzusehen.
Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern schien sich zu festigen. Es war ein sonniger Morgen Anfang September, als Renate beim Frühstück verkündete: „Die neuen Kartoffeln sind gekommen. Ich backe heute Reibeplätzchen.“
„Oh, das ist toll!“, rief Sigrid begeistert. „Mit Zucker?“
„Vor allem mit Apfelmus.“
„Das ist auch lecker.“
In der großen Pause sprach Sigrid Raimund an: „Komm doch nach der Schule mit zu uns. Meine Mama macht heute Reibeplätzchen, die werden nie alle, da kannst du welche mitessen und die sind echt lecker. Und bis die fertig sind, können wir noch ein bisschen spielen und danach auch.“
„Au ja!“, jubelte Raimund. „Reibeplätzchen sind mein Lieblingsessen.“
Es duftete schon aus der Küche. Oma Hildegard stand am Herd und Sigrid kündigte ihren Überraschungsgast an. „Wie schön!“, erwiderte Hildegard. „Dann mache ich ein paar mehr. In einer halben Stunde sind sie fertig.“
Sigrid lotste Raimund zum Spielen auf die Apfelwiese, wo die meisten Früchte noch auf den Bäumen hingen und der reichen Ernte entgegenreiften. Sie lud Raimund ein, ihr Schaukelbrett zu testen und gab ihm Anschwung. Sie wechselten sich ab und Raimund konnte viel kräftiger schubsen als all ihre Freundinnen. Es machte großen Spaß, so plötzlich in die Höhe zu schnellen und mit den Zehenspitzen auf die Äpfel zu zielen.
Dann rief die Oma zum Essen. Der erste Puffer musste mit Apfelmus bedeckt sein. Danach war der weiße Streuzucker erlaubt, der in einem großen Porzellantopf auf dem Tisch stand. Sigrid staunte nicht schlecht, was in Raimunds Bauch alles hineinging. Ihr Ehrgeiz wurde geweckt 7und sie gab alles, um sich nicht abhängen zu lassen. Die ersten süßen Kartoffelpfannkuchen glitten nur so über die Zunge, bald wurde es mühsam, nachzulegen und schließlich gaben beide auf. Raimund führte mit 15 zu 13, aber Sigrid konnte einfach nicht mehr.
Plötzlich erschien Ingrid Ramöller in der Tür, Raimunds Mutter. Sie machte kein freundliches Gesicht und Sigrid erschien sie irgendwie teigig und aus der Form geraten. Raimund starrte sie mit offenem Mund und hoch gezogenen Schultern an. Ingrid streckte ungeduldig die Hand aus und herrschte ihren Sohn an: „Raimund, du kommst jetzt sofort hier her!“
Ängstlich rutschte Raimund von der Küchenbank und ging auf seine Mutter zu. Die zog ihn ins Wohnzimmer, um von da aus in den Flur und nach draußen zu verschwinden. Auf einmal machte Raimund ein undefinierbares Geräusch und das gesamte Mittagessen schoss in hohem Bogen aus seinem Hals und verteilte sich auf dem Teppich.
„Was hast du dir nur dabei gedacht, dich so zu überfressen?“, schimpfte seine Mutter und zerrte ihn nach draußen. „Ich komme gleich wieder und mach das weg.“, rief sie beim Hinausgehen.
„Nicht nötig.“, rief Hildegard. „Versorg lieber dein krankes Kind. Wir schaffen das schon.“
Mutter und Oma machten sich direkt ans Werk, trugen die groben Brocken ab, saugten die Flüssigkeit mit Schwämmen auf und verteilten dann Natronlauge zum Einweichen und späterem Abtupfen.
„Der arme Junge.“, stöhnte Renate. „Darf nicht einmal nach Herzenslust essen, was ihm gut schmeckt.“
„Ach“, erwiderte Hildegard, „Ingrid hat sich sicher Sorgen gemacht, weil er von der Schule nicht nach Hause gekommen ist. Ich hätte anrufen sollen. Daran habe ich nicht gedacht.“
„Trotzdem muss man ein kleines Kind nicht so einschüchtern.“, erwiderte Renate.
„Das kannst di aber auch ganz gut.“, hielt Hildegard dagegen.
„Sigrid“, wandte sich Renate hilfesuchend an ihre Tochter, „hab ich dir schon mal so doll Angst gemacht, dass du brechen musstest?“
Sigrid schüttelte den Kopf.
„Vielleicht waren es einfach zu viele Reibeplätzchen. Also lass gut sein.“, meinte Hildegard.
Raimund besuchte Sigrid nie wieder und wurde auch in der Schule wortkarger. Sie fand das schade, fand sich aber schnell damit ab, denn es gab genug andere Spielkameraden und -kameradinnen.
In der zweiten Klasse kamen zwei Jungen dazu, die das Schuljahr wiederholen mussten und es ergab sich, dass Sigrid neben einem von ihnen saß: Raimund Ramöller. Er war ein stiller, schüchterner Junge, der jedes Mal den Kopf einzog, wenn die Lehrerin, Frau Heinrich ihn ansprach. Sigrid empfand Mitleid mit ihm, denn er hatte sich schließlich nicht ausgesucht, dass er im Unterricht nicht so mitkam und deshalb ein Jahr wiederholen musste. Sie fragte, ob er in der Pause Zielschießen mit Stöckchen spielen wolle und er war dabei. Beide hatten so viel Spaß daran, dass sie eine Gewohnheit daraus machten und sich nebenbei Witze erzählten. Sigrid kannte die besten; zumindest lachte Raimund so herzerfrischend darüber, dass das Mädchen innerlich bei jeder gezündeten Pointe ein Stück größer wurde. Weiter wuchs sie, als Raimund sie zum Klettern auf die einzeln stehenden Bäume animierte und sie ihr Talent entdeckte. Schrammen auf der Haut und grüne Streifen in der Kleidung waren ihr dabei vollkommen egal. Und zum Glück schaffte Renate es, über den Mehraufwand in der Waschküche großzügig hinwegzusehen.
Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern schien sich zu festigen. Es war ein sonniger Morgen Anfang September, als Renate beim Frühstück verkündete: „Die neuen Kartoffeln sind gekommen. Ich backe heute Reibeplätzchen.“
„Oh, das ist toll!“, rief Sigrid begeistert. „Mit Zucker?“
„Vor allem mit Apfelmus.“
„Das ist auch lecker.“
In der großen Pause sprach Sigrid Raimund an: „Komm doch nach der Schule mit zu uns. Meine Mama macht heute Reibeplätzchen, die werden nie alle, da kannst du welche mitessen und die sind echt lecker. Und bis die fertig sind, können wir noch ein bisschen spielen und danach auch.“
„Au ja!“, jubelte Raimund. „Reibeplätzchen sind mein Lieblingsessen.“
Es duftete schon aus der Küche. Oma Hildegard stand am Herd und Sigrid kündigte ihren Überraschungsgast an. „Wie schön!“, erwiderte Hildegard. „Dann mache ich ein paar mehr. In einer halben Stunde sind sie fertig.“
Sigrid lotste Raimund zum Spielen auf die Apfelwiese, wo die meisten Früchte noch auf den Bäumen hingen und der reichen Ernte entgegenreiften. Sie lud Raimund ein, ihr Schaukelbrett zu testen und gab ihm Anschwung. Sie wechselten sich ab und Raimund konnte viel kräftiger schubsen als all ihre Freundinnen. Es machte großen Spaß, so plötzlich in die Höhe zu schnellen und mit den Zehenspitzen auf die Äpfel zu zielen.
Dann rief die Oma zum Essen. Der erste Puffer musste mit Apfelmus bedeckt sein. Danach war der weiße Streuzucker erlaubt, der in einem großen Porzellantopf auf dem Tisch stand. Sigrid staunte nicht schlecht, was in Raimunds Bauch alles hineinging. Ihr Ehrgeiz wurde geweckt 7und sie gab alles, um sich nicht abhängen zu lassen. Die ersten süßen Kartoffelpfannkuchen glitten nur so über die Zunge, bald wurde es mühsam, nachzulegen und schließlich gaben beide auf. Raimund führte mit 15 zu 13, aber Sigrid konnte einfach nicht mehr.
Plötzlich erschien Ingrid Ramöller in der Tür, Raimunds Mutter. Sie machte kein freundliches Gesicht und Sigrid erschien sie irgendwie teigig und aus der Form geraten. Raimund starrte sie mit offenem Mund und hoch gezogenen Schultern an. Ingrid streckte ungeduldig die Hand aus und herrschte ihren Sohn an: „Raimund, du kommst jetzt sofort hier her!“
Ängstlich rutschte Raimund von der Küchenbank und ging auf seine Mutter zu. Die zog ihn ins Wohnzimmer, um von da aus in den Flur und nach draußen zu verschwinden. Auf einmal machte Raimund ein undefinierbares Geräusch und das gesamte Mittagessen schoss in hohem Bogen aus seinem Hals und verteilte sich auf dem Teppich.
„Was hast du dir nur dabei gedacht, dich so zu überfressen?“, schimpfte seine Mutter und zerrte ihn nach draußen. „Ich komme gleich wieder und mach das weg.“, rief sie beim Hinausgehen.
„Nicht nötig.“, rief Hildegard. „Versorg lieber dein krankes Kind. Wir schaffen das schon.“
Mutter und Oma machten sich direkt ans Werk, trugen die groben Brocken ab, saugten die Flüssigkeit mit Schwämmen auf und verteilten dann Natronlauge zum Einweichen und späterem Abtupfen.
„Der arme Junge.“, stöhnte Renate. „Darf nicht einmal nach Herzenslust essen, was ihm gut schmeckt.“
„Ach“, erwiderte Hildegard, „Ingrid hat sich sicher Sorgen gemacht, weil er von der Schule nicht nach Hause gekommen ist. Ich hätte anrufen sollen. Daran habe ich nicht gedacht.“
„Trotzdem muss man ein kleines Kind nicht so einschüchtern.“, erwiderte Renate.
„Das kannst di aber auch ganz gut.“, hielt Hildegard dagegen.
„Sigrid“, wandte sich Renate hilfesuchend an ihre Tochter, „hab ich dir schon mal so doll Angst gemacht, dass du brechen musstest?“
Sigrid schüttelte den Kopf.
„Vielleicht waren es einfach zu viele Reibeplätzchen. Also lass gut sein.“, meinte Hildegard.
Raimund besuchte Sigrid nie wieder und wurde auch in der Schule wortkarger. Sie fand das schade, fand sich aber schnell damit ab, denn es gab genug andere Spielkameraden und -kameradinnen.
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Mittwoch, 22. Januar 2025
Dystopie
c. fabry, 10:45h
"Wie würdest Du eine Gruppe demokratisch an der Programmplanung beteiligen?"
"Ich würde Vorschläge machen. Zum Beispiel: Eishalle, Filmnachmittag, Karnevalsparty, Pizza machen, Spielenachmittag, Frühlingsbasteln, Schnitzeljagd."
"Und dann?"
"Wie und dann?"
"Wie würdest du die Gruppe beteiligen?"
"Ach so. Ja gut, ich würde zwei oder drei Filme zur Auswahl anbieten, fragen, ob jemand Snacks mitbringen möchte. Bei der Karnevalsparty würde ich fragen, wer die Krapfen mitbringt, wer die Chips, wer die Kästespieße usw. und für die Pizza würde ich verschiedene Zutaten einkaufen, dann können die ja entscheiden, wer was auf sein Stück legt."
"Und das reicht dir?"
"Klar. Wieso nicht. Werden alle beteiligt. Ich bin immer für Partizipation."
Sie hatte sich für eine lupenreine Demokratin und glühende Antifaschistin gehalten. Auch dann noch, als sie davon sprach, dass Angebote für Knder und Jugendliche nicht demokratisch sein könnten, weil diese ja gar nicht in der Lage seien, den Überblick zu behalten. Man müsse sie leiten und führen und sie müssten folgen. Es geschehe zu ihrem Besten man müsse sie schützen.
Damals war sie fast noch ein Teenager.
Nun - 20 Jahre später - in unserer zerstörten Welt von 2045 gehört sie zu den glühenden Followern derer, denen sie schon damals ihre Seele verkauft hat. Sie macht mit. Sie funktioniert. So kann sie überleben. Denkt sie. Ich denke, daran wird bald jemand etwas ändern. Der Jasper, der damals nie zu Wort kam, der wird sich demnächst Gehör verschaffen. Ich habe gesehen, wie er vor ihrem Haus rumlungert. Ein Gescheiterter, einer der nicht mitmacht und nicht funktioniert. Einer der es nicht geschafft hat, weil er denkt, dass sie ihn nicht gelassen hat, als er es gebraucht hätte.
"Ich würde Vorschläge machen. Zum Beispiel: Eishalle, Filmnachmittag, Karnevalsparty, Pizza machen, Spielenachmittag, Frühlingsbasteln, Schnitzeljagd."
"Und dann?"
"Wie und dann?"
"Wie würdest du die Gruppe beteiligen?"
"Ach so. Ja gut, ich würde zwei oder drei Filme zur Auswahl anbieten, fragen, ob jemand Snacks mitbringen möchte. Bei der Karnevalsparty würde ich fragen, wer die Krapfen mitbringt, wer die Chips, wer die Kästespieße usw. und für die Pizza würde ich verschiedene Zutaten einkaufen, dann können die ja entscheiden, wer was auf sein Stück legt."
"Und das reicht dir?"
"Klar. Wieso nicht. Werden alle beteiligt. Ich bin immer für Partizipation."
Sie hatte sich für eine lupenreine Demokratin und glühende Antifaschistin gehalten. Auch dann noch, als sie davon sprach, dass Angebote für Knder und Jugendliche nicht demokratisch sein könnten, weil diese ja gar nicht in der Lage seien, den Überblick zu behalten. Man müsse sie leiten und führen und sie müssten folgen. Es geschehe zu ihrem Besten man müsse sie schützen.
Damals war sie fast noch ein Teenager.
Nun - 20 Jahre später - in unserer zerstörten Welt von 2045 gehört sie zu den glühenden Followern derer, denen sie schon damals ihre Seele verkauft hat. Sie macht mit. Sie funktioniert. So kann sie überleben. Denkt sie. Ich denke, daran wird bald jemand etwas ändern. Der Jasper, der damals nie zu Wort kam, der wird sich demnächst Gehör verschaffen. Ich habe gesehen, wie er vor ihrem Haus rumlungert. Ein Gescheiterter, einer der nicht mitmacht und nicht funktioniert. Einer der es nicht geschafft hat, weil er denkt, dass sie ihn nicht gelassen hat, als er es gebraucht hätte.
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Freitag, 27. Dezember 2024
2nd Spoiler 12
c. fabry, 13:31h
1978
Als Vierjährige besuchte Sigrid endlich den Kindergarten in Häger. Sie war begeistert von den ihr uferlos erscheinenden Spielmöglichkeiten, von dieser perfekt auf die Träume und Sehnsüchte von Kindern abgestimmte Welt. Stühle, auf die man sich einfach setzen konnte, ohne zu klettern, an Tischen in passender Höhe, kleine Klos, niedrige Waschbecken, leuchtend farbiges Essgeschirr, herrliche Bauklötze, Puppen mit perfekter Ausstattung, Lego, Bastelpapier, Brettspiele, Holzperlen, Musikinstrumente, Malutensilien...und liebenswert freundliche Erzieherinnen, die sich täglich neue Abenteuer ausdachten, mitspielten, zuhörten, trösteten, einen zum Lachen brachten.
Darüber hinaus wimmelte es von Spielkameradinnen und Spielkameraden. Welch ein Vergnügen es war, mit anderen Kindern Rollenspiele in der Puppenecke zu veranstalten, große Schlösser aus Holzklötzen zu bauen und sie wieder einzureißen, hoch zu schaukeln, Verstecken zu spielen oder Sandkuchen zu backen.
Sigrid schloss Freundschaften mit Jungen und Mädchen, erhielt Einladungen zu Geburtstagsfeiern, verabredete sich und war mit ihrem Leben im Großen und Ganzen glücklich und zufrieden.
Allmählich lernte sie, ihre Mutter zu lesen, wann es besser war, ihr aus dem Weg zu gehen, ihr nicht zu widersprechen, sie nicht zu stören. War sie entspannt und ausgeglichen, ließ sich gut mit ihr auskommen, lachen, spielen und verwöhnt werden.
Renate hatte ebenfalls das Gefühl, dass sie nun in ruhigerem Fahrwasser unterwegs war und sah die Ursache dafür im Kindergarten, der sie entlastete und Sigrid etwas zu bieten hatte.
Als Vierjährige besuchte Sigrid endlich den Kindergarten in Häger. Sie war begeistert von den ihr uferlos erscheinenden Spielmöglichkeiten, von dieser perfekt auf die Träume und Sehnsüchte von Kindern abgestimmte Welt. Stühle, auf die man sich einfach setzen konnte, ohne zu klettern, an Tischen in passender Höhe, kleine Klos, niedrige Waschbecken, leuchtend farbiges Essgeschirr, herrliche Bauklötze, Puppen mit perfekter Ausstattung, Lego, Bastelpapier, Brettspiele, Holzperlen, Musikinstrumente, Malutensilien...und liebenswert freundliche Erzieherinnen, die sich täglich neue Abenteuer ausdachten, mitspielten, zuhörten, trösteten, einen zum Lachen brachten.
Darüber hinaus wimmelte es von Spielkameradinnen und Spielkameraden. Welch ein Vergnügen es war, mit anderen Kindern Rollenspiele in der Puppenecke zu veranstalten, große Schlösser aus Holzklötzen zu bauen und sie wieder einzureißen, hoch zu schaukeln, Verstecken zu spielen oder Sandkuchen zu backen.
Sigrid schloss Freundschaften mit Jungen und Mädchen, erhielt Einladungen zu Geburtstagsfeiern, verabredete sich und war mit ihrem Leben im Großen und Ganzen glücklich und zufrieden.
Allmählich lernte sie, ihre Mutter zu lesen, wann es besser war, ihr aus dem Weg zu gehen, ihr nicht zu widersprechen, sie nicht zu stören. War sie entspannt und ausgeglichen, ließ sich gut mit ihr auskommen, lachen, spielen und verwöhnt werden.
Renate hatte ebenfalls das Gefühl, dass sie nun in ruhigerem Fahrwasser unterwegs war und sah die Ursache dafür im Kindergarten, der sie entlastete und Sigrid etwas zu bieten hatte.
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Freitag, 6. Dezember 2024
2nd Spoiler 11
c. fabry, 10:58h
1976
Trotzanfälle von Kleinkindern können Eltern leicht an ihre Grenzen bringen. Bei Dreijährigen ist dieser erste Akt bewusster Selbstständigkeit im Leben besonders ausgeprägt. Oft beginnt es aber schon vor Vollendung des dritten Lebensjahres. So ging es auch mit Sigrid. Sie hatte sehr klare Vorstellungen bezüglich ihrer Präferenzen von Lebensmitteln, Farben oder Spielzeugen. Dabei erwies sie sich als Kompromisslos, unabhängig davon, ob es nur einen Handgriff erforderte oder man die halbe Welt aus den Angeln heben musste, um ihrem Wunsch zu entsprechen. Das konnte sehr anstrengend sein, vor allem dann, wenn egen weiterer Faktoren ohnehin schon Dampf im Kessel war.
An diesem Morgen wollte sie ihren Brei aus der Schale mit den Kätzchen.
„Miez!“, sagte Sigrid bestimmt.
In einer Stunde musste die Gaststube hergerichtet sein – eine Gruppe von Geschäftsleuten hatte sich zum Frühschoppen angemeldet. Das Katzenschälchen war noch schmutzig vom Vortag und stand krustig eingetrocknet im unteren Drittel eines gigantischen Spülberges, den zu beseitigen sie sich für die Zeit des Kochens der Mittagsmahlzeit vorgenommen hatte. Hildegard saß beim Friseur und Ulrich erledigte Einkäufe.
„Die Miez schläft ganz tief, die kann heute Morgen nicht.“, versuchte Renate, ihre Tochter zu beschwichtigen. „Wenn du alles aufisst, findest du die Ente.“
„Will keine Ente!“, protestierte Sigrid. „Ich will die Miez!“
„Aber die Miez ist krank.“
„Ich will die Miez! Ich will die Miez!“, kreischte Sigrid in immer höheren Tönen und schlug mit Wucht rhythmisch mit dem Löffel auf den Brei, sodass der Tisch, die Bank, die Stühle und sogar die Wand Spritzer abbekamen.
„Jetzt hab‘ ich aber genug!“, brüllte Renate und ihre Faust sauste auf den Tisch. „Die Miez ist krank und du isst jetzt deinen Brei und hörst auf hier rumzusauen!“
Sigrid hielt kurz inne vor Schreck, dann brüllte sie um so höher und lauter: „Die Miez! Ich will die Miez!“, begleitet von heißen Tränen und herzzerreißenden Schluchzern.
Plötzlich stand Ulrich in der Küchentür. „Was ist den hier los?“, fragte er.
„“Gar nichts.“, schrie Renate gereizt. „Sie macht Theater, das ist alles.“ Dann wandte sie sich erneut an das Kind: „Sei endlich still und iss. Sonst kommt die Miez nie wieder.“
Nun geriet Sigrid noch mehr in Rage.
„Warum gibst du ihr das Schälchen nicht?“, fragte Ulrich verwirrt.
Renates Stimme überschlug sich fast, als sie erklärte: „Weil es dreckig und angetrocknet ganz unten im Spülberg steckt und ich keine Zeit habe.“
„Sag das doch gleich.“, meinte Ulrich. Er nahm Sigrid auf den Arm und sagte: „Komm, wir suchen die Miez, Mama hat keine Zeit..“
Er ging mit der Kleinen zum Stapel mit dem schmutzigen Geschirr und ziegte ihr den Rand eines Schüsselchens, bei dem es sich wahrscheinlich um das begehrte Objekt handelte.
„Guck mal, Siggi, ich kann die Miez da jetzt auch nicht raus holen, die ist ganz tief vergraben und bis wir die ausgegraben haben, hast du so doll Hunger, dass du gar nicht mehr gucken kannst. Jetzt essen wir was, dann graben wir die Miez aus und heute Mittag isst du wieder aus der Miez. Was meinst du?“
Sigrid schien noch nicht zufrieden, wurde aber langsam ruhiger und die Abstände zwischen den Schluchzern vergrößerten sich. Ulrich sang ihr etwas vor und überzeugte sie mit albernen Spielchen, den Brei zu löffeln, bis sie wieder lachte. Auch Renate beruhigte sich, überließ das Kind dem Vater und bereitete die Gaststube vor. Als sie in die Küche zurück kam, hatte ihr Mann das Katzenschälchen ausgegraben und Sigrid stand auf einem Hocker vor dem Spülbecken und reinigte unter väterlicher Anleitung ihr Lieblingsgeschirr. Das entlockte Renate ein liebevolles Lächeln. Sie gab Mann und Tochter einen Kuss, den Sigrid eher stoisch erduldete.
Und dann kam Weihnachten. Es war anstrengender als bei anderen Leuten, das Weihnachtsgeschäft im Gasthof mitzunehmen und gleichzeitig ein stimmungsvolles Fest für die ganze Familie vorzubereiten mit gutem Essen, Festschmuck, Lichterbaum, Geschenken und leuchtenden Kinderaugen. Aber es gelang. Als sie den Schlüssel hinter dem letzten Gast umdrehten, nahmen sie Platz in der Weihnachtsstube, die sie nebenbei abwechselnd vorbereitet hatten. Sigrid hatte bereits zu Abend gegessen, es wurde gesungen, dann durfte die Kleine zum Entzücken der Erwachsenen ihre Geschenke auspacken und etwas naschen. Danach blieb ihr noch etwas Zeit zum Spielen, während die Erwachsenen ihre Päckchen öffneten und Hildegard in der Küche verschwand, um das Abendessen für die Erwachsenen anzurichten.
Als Renate ihre Tochter zu Bett brachte, ganz beseelt von dem perfekten, stimmungsvollen Abend, spürte sie, dass etwas das Bild störte. Sie trug das Kind ins Schlafzimmer, aber die Kleine wirkte dabei leicht distanziert, als handele es sich nicht um ihre Mutter sondern eine Tante, eine Fremde, von der man nicht wusste, ob man ihr trauen konnte.
Trotzanfälle von Kleinkindern können Eltern leicht an ihre Grenzen bringen. Bei Dreijährigen ist dieser erste Akt bewusster Selbstständigkeit im Leben besonders ausgeprägt. Oft beginnt es aber schon vor Vollendung des dritten Lebensjahres. So ging es auch mit Sigrid. Sie hatte sehr klare Vorstellungen bezüglich ihrer Präferenzen von Lebensmitteln, Farben oder Spielzeugen. Dabei erwies sie sich als Kompromisslos, unabhängig davon, ob es nur einen Handgriff erforderte oder man die halbe Welt aus den Angeln heben musste, um ihrem Wunsch zu entsprechen. Das konnte sehr anstrengend sein, vor allem dann, wenn egen weiterer Faktoren ohnehin schon Dampf im Kessel war.
An diesem Morgen wollte sie ihren Brei aus der Schale mit den Kätzchen.
„Miez!“, sagte Sigrid bestimmt.
In einer Stunde musste die Gaststube hergerichtet sein – eine Gruppe von Geschäftsleuten hatte sich zum Frühschoppen angemeldet. Das Katzenschälchen war noch schmutzig vom Vortag und stand krustig eingetrocknet im unteren Drittel eines gigantischen Spülberges, den zu beseitigen sie sich für die Zeit des Kochens der Mittagsmahlzeit vorgenommen hatte. Hildegard saß beim Friseur und Ulrich erledigte Einkäufe.
„Die Miez schläft ganz tief, die kann heute Morgen nicht.“, versuchte Renate, ihre Tochter zu beschwichtigen. „Wenn du alles aufisst, findest du die Ente.“
„Will keine Ente!“, protestierte Sigrid. „Ich will die Miez!“
„Aber die Miez ist krank.“
„Ich will die Miez! Ich will die Miez!“, kreischte Sigrid in immer höheren Tönen und schlug mit Wucht rhythmisch mit dem Löffel auf den Brei, sodass der Tisch, die Bank, die Stühle und sogar die Wand Spritzer abbekamen.
„Jetzt hab‘ ich aber genug!“, brüllte Renate und ihre Faust sauste auf den Tisch. „Die Miez ist krank und du isst jetzt deinen Brei und hörst auf hier rumzusauen!“
Sigrid hielt kurz inne vor Schreck, dann brüllte sie um so höher und lauter: „Die Miez! Ich will die Miez!“, begleitet von heißen Tränen und herzzerreißenden Schluchzern.
Plötzlich stand Ulrich in der Küchentür. „Was ist den hier los?“, fragte er.
„“Gar nichts.“, schrie Renate gereizt. „Sie macht Theater, das ist alles.“ Dann wandte sie sich erneut an das Kind: „Sei endlich still und iss. Sonst kommt die Miez nie wieder.“
Nun geriet Sigrid noch mehr in Rage.
„Warum gibst du ihr das Schälchen nicht?“, fragte Ulrich verwirrt.
Renates Stimme überschlug sich fast, als sie erklärte: „Weil es dreckig und angetrocknet ganz unten im Spülberg steckt und ich keine Zeit habe.“
„Sag das doch gleich.“, meinte Ulrich. Er nahm Sigrid auf den Arm und sagte: „Komm, wir suchen die Miez, Mama hat keine Zeit..“
Er ging mit der Kleinen zum Stapel mit dem schmutzigen Geschirr und ziegte ihr den Rand eines Schüsselchens, bei dem es sich wahrscheinlich um das begehrte Objekt handelte.
„Guck mal, Siggi, ich kann die Miez da jetzt auch nicht raus holen, die ist ganz tief vergraben und bis wir die ausgegraben haben, hast du so doll Hunger, dass du gar nicht mehr gucken kannst. Jetzt essen wir was, dann graben wir die Miez aus und heute Mittag isst du wieder aus der Miez. Was meinst du?“
Sigrid schien noch nicht zufrieden, wurde aber langsam ruhiger und die Abstände zwischen den Schluchzern vergrößerten sich. Ulrich sang ihr etwas vor und überzeugte sie mit albernen Spielchen, den Brei zu löffeln, bis sie wieder lachte. Auch Renate beruhigte sich, überließ das Kind dem Vater und bereitete die Gaststube vor. Als sie in die Küche zurück kam, hatte ihr Mann das Katzenschälchen ausgegraben und Sigrid stand auf einem Hocker vor dem Spülbecken und reinigte unter väterlicher Anleitung ihr Lieblingsgeschirr. Das entlockte Renate ein liebevolles Lächeln. Sie gab Mann und Tochter einen Kuss, den Sigrid eher stoisch erduldete.
Und dann kam Weihnachten. Es war anstrengender als bei anderen Leuten, das Weihnachtsgeschäft im Gasthof mitzunehmen und gleichzeitig ein stimmungsvolles Fest für die ganze Familie vorzubereiten mit gutem Essen, Festschmuck, Lichterbaum, Geschenken und leuchtenden Kinderaugen. Aber es gelang. Als sie den Schlüssel hinter dem letzten Gast umdrehten, nahmen sie Platz in der Weihnachtsstube, die sie nebenbei abwechselnd vorbereitet hatten. Sigrid hatte bereits zu Abend gegessen, es wurde gesungen, dann durfte die Kleine zum Entzücken der Erwachsenen ihre Geschenke auspacken und etwas naschen. Danach blieb ihr noch etwas Zeit zum Spielen, während die Erwachsenen ihre Päckchen öffneten und Hildegard in der Küche verschwand, um das Abendessen für die Erwachsenen anzurichten.
Als Renate ihre Tochter zu Bett brachte, ganz beseelt von dem perfekten, stimmungsvollen Abend, spürte sie, dass etwas das Bild störte. Sie trug das Kind ins Schlafzimmer, aber die Kleine wirkte dabei leicht distanziert, als handele es sich nicht um ihre Mutter sondern eine Tante, eine Fremde, von der man nicht wusste, ob man ihr trauen konnte.
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