Freitag, 6. Juni 2025
2nd Spoiler 17
c. fabry, 17:19h
1988
Sigrids Konfirmation stand unter dem Schatten der Krebserkrankung ihres Varters. Renate hatte schon dafür plädiert, auf eine Feier zu verzichten, um Ulrichs Kräfte zu schonen.
"Das kannst du nicht machen!", ermahnte sie Hildegard. "Egal, wie schwer es auch sein mag, gerade jetzt braucht Sigrid ihr Fest und zwar so, wie es sich gehört und wie es auch bei allen anderen zugeht."
"Ich hatte es bei meiner Konfirmation auch nicht leicht.", entgegenete Renate trotzig.
"Das kann sein, aber sie wurde gefeiert", erklärte Hildegard. "Außerdem ist Ulrich sicher auch meiner Meinung. Er will ganz bestimmt ein Fest für seine Tochter und er wird auch dabei sein wollen.
Hildegard setzte sich duch und Sigrid bekam ihr Fest.
Sie konnte sich später kaum an ihren Ehrentag erinnern, zu sehr war er beherrscht von Angst und Sorge um den geliebten Vater. Sie wusste später noch, dass es reichlich Geldgeschenke gab, einen großen Stapel HAndtücher, von denen sie noch immer einige in Gebrauch hatte und das Wichtigste: ein kleiner, weißgoldener Kettenanhänger, kein christliches Symbol, nur ein einzeln gefasster Bergkristall, der für Sigrid funkelte wie ein Diamant undden sie hütete wie ihren Augapfel.
Doch wer die Gäste im Einzelnen waren, was es zu essen gab, wie es in der Kirche zugegangen war und wie der weitere Tagesverlauf sich gestaltet hatte, vollzog sich nahezu vollständig ihrer Erinnerung. Was sie wußte, wußte sie aus Erzählungen, Dokumenten und Fotografien. In ihrem Kopf war da nur ihr schlichtes Kleid, die Kette und Ulrichs Gestalt, das bleiche, eingefallene Gesicht, die dunkel umschatteten Augen, die zerbrechlich wirkenden, mageren Schultern, die knochigen Hände und die viel zu schwachen Beine, die ihn kaum noch trugen, sodass er Teile der Feier im Rollstuhl verbachte.
Die Erinnerung zerriss ihr auch Jahrzehnte später noch das Herz. Sie wollte ihn a n ihrer Seite behalten: stark, lustig, einfühlsam, lebendig und warm. Er hätte ihr in dieser Zeit weiter den Rücken stärken müssen, ihre Teenager-Launen aushalten, sie aus tiefen Löchern retten und vor allzu gewagten Höhenflügen bewahren. Stattdessen war er schwach und bedürftig und sie fühlte sich so hilflos und ohnmächtig, weil sie nichts tun kopnnte, außer da zu sein. Sie ahnte nicht, wie bedeutsam das war.
Sigrids Konfirmation stand unter dem Schatten der Krebserkrankung ihres Varters. Renate hatte schon dafür plädiert, auf eine Feier zu verzichten, um Ulrichs Kräfte zu schonen.
"Das kannst du nicht machen!", ermahnte sie Hildegard. "Egal, wie schwer es auch sein mag, gerade jetzt braucht Sigrid ihr Fest und zwar so, wie es sich gehört und wie es auch bei allen anderen zugeht."
"Ich hatte es bei meiner Konfirmation auch nicht leicht.", entgegenete Renate trotzig.
"Das kann sein, aber sie wurde gefeiert", erklärte Hildegard. "Außerdem ist Ulrich sicher auch meiner Meinung. Er will ganz bestimmt ein Fest für seine Tochter und er wird auch dabei sein wollen.
Hildegard setzte sich duch und Sigrid bekam ihr Fest.
Sie konnte sich später kaum an ihren Ehrentag erinnern, zu sehr war er beherrscht von Angst und Sorge um den geliebten Vater. Sie wusste später noch, dass es reichlich Geldgeschenke gab, einen großen Stapel HAndtücher, von denen sie noch immer einige in Gebrauch hatte und das Wichtigste: ein kleiner, weißgoldener Kettenanhänger, kein christliches Symbol, nur ein einzeln gefasster Bergkristall, der für Sigrid funkelte wie ein Diamant undden sie hütete wie ihren Augapfel.
Doch wer die Gäste im Einzelnen waren, was es zu essen gab, wie es in der Kirche zugegangen war und wie der weitere Tagesverlauf sich gestaltet hatte, vollzog sich nahezu vollständig ihrer Erinnerung. Was sie wußte, wußte sie aus Erzählungen, Dokumenten und Fotografien. In ihrem Kopf war da nur ihr schlichtes Kleid, die Kette und Ulrichs Gestalt, das bleiche, eingefallene Gesicht, die dunkel umschatteten Augen, die zerbrechlich wirkenden, mageren Schultern, die knochigen Hände und die viel zu schwachen Beine, die ihn kaum noch trugen, sodass er Teile der Feier im Rollstuhl verbachte.
Die Erinnerung zerriss ihr auch Jahrzehnte später noch das Herz. Sie wollte ihn a n ihrer Seite behalten: stark, lustig, einfühlsam, lebendig und warm. Er hätte ihr in dieser Zeit weiter den Rücken stärken müssen, ihre Teenager-Launen aushalten, sie aus tiefen Löchern retten und vor allzu gewagten Höhenflügen bewahren. Stattdessen war er schwach und bedürftig und sie fühlte sich so hilflos und ohnmächtig, weil sie nichts tun kopnnte, außer da zu sein. Sie ahnte nicht, wie bedeutsam das war.
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Freitag, 30. Mai 2025
2nd Spoiler 16
c. fabry, 11:44h
1987
Etwa ein-ein-halb Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl klagte Ulrich zunehmend über Schwäche und Abgeschlagenheit. Er schob es zunächst auf den hohen Arbeitsdruck und das Älterwerden, aber als er kaum noch die Treppe hochkam, suchte er den Hausarzt auf. Nach vielen Untersuchungen bei verschiedenen Fachärzten, erhielt er die niederschmetternde Diagnose: Er war an Leukämie erkrankt. Vor Sigrid konnten es die Erwachsenen nicht lange geheim halten und sie spürte eine überschäumende Wut auf ihre Mutter, die Tschernobyl verharmlost hatte, so als hätte sie damit Ulrichs Erkrankung verursacht. Ulrich nahm den Kampf gegen den Krebs auf, das kostete seine gesamte Kraft und so mussten Renate und Hildegard nun dafür sorgen, den Betrieb des Gasthofes aufrecht zu erhalten.
Am Dienstag nach dem Mittagessen machte Sigrid sich zurecht für den Konfirmationsunterricht. Sie trug gerade Mascara auf, als ihre Mutter sie rief: „Sigrid, lauf mal eben zu Brünings und hol ein Graubrot.“
„Ich kann nicht, ich muss zum Pastor.“, erwiderte Sigrid.
„Bis dahin ist noch eine halbe Stunde Zeit. Beeil dich einfach!“
„Wegen dir bin ich jetzt abgerutscht.“, maulte der Teenager und wischte sich missmutig die Wimperntusche von der zarten Haut um die Augen. „Außerdem ist das Deine Aufgabe.“, protestierte sie.
Aufgebracht stürmte Renate ins Bad und bemühte sich, ihre Stimme nicht zu erheben, um Ulrich nicht zu beunruhigen: „Dein Vater ist krank, deine Oma und ich müssen hier den Laden zusammenhalten und du hast nichts Anderes im Kopf, als dich aufzubrezeln. Hol jetzt das Brot! Ich habe Gäste, die darauf warten. Oma macht das andere Essen fertig und ich stehe hinter der Theke. Also beweg deinen Hintern! Hier ist Geld. Und beeil dich!“
Tränen der Wut malten schwarze Bäche auf Sigrids Wangen. Mit einem Waschhandschuh rieb sie sie ab und raste dann mit dem Fahrrad zur Bäckerei, um das bestellte Brot zu holen. Wütend knallte sie es auf den Küchentisch, stürmte ins Bad, korrigierte notdürftig ihr Make-up und schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Unterricht.
Früher hätte Ulrich ihr tröstend zur Seite gestanden und Partei für sie ergriffen, doch auch Sigrid wollte den schwer erkrankten Vater nicht über die Maßen beanspruchen, egal, ob er gerade wieder zu einer Behandlung im Krankenhaus war oder sich zu Hause davon erholte. Sie machte sich große Sorgen und fühlte sich von Renate stets ungerecht behandelt. Jede kämpfte in ihrer eigenen Arena.
Etwa ein-ein-halb Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl klagte Ulrich zunehmend über Schwäche und Abgeschlagenheit. Er schob es zunächst auf den hohen Arbeitsdruck und das Älterwerden, aber als er kaum noch die Treppe hochkam, suchte er den Hausarzt auf. Nach vielen Untersuchungen bei verschiedenen Fachärzten, erhielt er die niederschmetternde Diagnose: Er war an Leukämie erkrankt. Vor Sigrid konnten es die Erwachsenen nicht lange geheim halten und sie spürte eine überschäumende Wut auf ihre Mutter, die Tschernobyl verharmlost hatte, so als hätte sie damit Ulrichs Erkrankung verursacht. Ulrich nahm den Kampf gegen den Krebs auf, das kostete seine gesamte Kraft und so mussten Renate und Hildegard nun dafür sorgen, den Betrieb des Gasthofes aufrecht zu erhalten.
Am Dienstag nach dem Mittagessen machte Sigrid sich zurecht für den Konfirmationsunterricht. Sie trug gerade Mascara auf, als ihre Mutter sie rief: „Sigrid, lauf mal eben zu Brünings und hol ein Graubrot.“
„Ich kann nicht, ich muss zum Pastor.“, erwiderte Sigrid.
„Bis dahin ist noch eine halbe Stunde Zeit. Beeil dich einfach!“
„Wegen dir bin ich jetzt abgerutscht.“, maulte der Teenager und wischte sich missmutig die Wimperntusche von der zarten Haut um die Augen. „Außerdem ist das Deine Aufgabe.“, protestierte sie.
Aufgebracht stürmte Renate ins Bad und bemühte sich, ihre Stimme nicht zu erheben, um Ulrich nicht zu beunruhigen: „Dein Vater ist krank, deine Oma und ich müssen hier den Laden zusammenhalten und du hast nichts Anderes im Kopf, als dich aufzubrezeln. Hol jetzt das Brot! Ich habe Gäste, die darauf warten. Oma macht das andere Essen fertig und ich stehe hinter der Theke. Also beweg deinen Hintern! Hier ist Geld. Und beeil dich!“
Tränen der Wut malten schwarze Bäche auf Sigrids Wangen. Mit einem Waschhandschuh rieb sie sie ab und raste dann mit dem Fahrrad zur Bäckerei, um das bestellte Brot zu holen. Wütend knallte sie es auf den Küchentisch, stürmte ins Bad, korrigierte notdürftig ihr Make-up und schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Unterricht.
Früher hätte Ulrich ihr tröstend zur Seite gestanden und Partei für sie ergriffen, doch auch Sigrid wollte den schwer erkrankten Vater nicht über die Maßen beanspruchen, egal, ob er gerade wieder zu einer Behandlung im Krankenhaus war oder sich zu Hause davon erholte. Sie machte sich große Sorgen und fühlte sich von Renate stets ungerecht behandelt. Jede kämpfte in ihrer eigenen Arena.
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Donnerstag, 22. Mai 2025
2nd Spoiler 15
c. fabry, 10:15h
1986
Im April geschah es, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Vor allem Kinder und Jugendliche wurden in Angst und Schrecken versetzt oder waren zumindest verunsichert. Bei Regen nicht mehr draußen spielen, die Schuhe abwaschen, frische Milch war plötzlich ungesund, genauso wie Salat, Spinat oder Gartenkräuter. Die allseits gedrückte Stimmung schlug den Heranwachsenden aufs Gemüt, auch an der zwölfjährigen Sigrid ging dieser Schrecken nicht spurlos vorbei. Würde das jetzt für immer so weitergehen? Gab es noch eine Zukunft? Kam noch Schlimmeres auf sie zu?
Mit ihrem Vater konnte sie darüber sprechen, er hatte Verständnis für ihre Ängste und teilte sie. Als Renate ein solches Gespräch mitbekam, platzte ihr irgendwann der Kragen. „Jetzt hört auf, euch so anzustellen! Das bringt doch überhaupt nichts. Das Kraftwerk ist mehr als tausend Kilometer entfernt, im Osten, wir haben meistens Westwind. Wer in der Ukraine wohnt, muss sich vielleicht Sorgen machen, aber wir doch nicht. Im Fernsehen sagen sie, wir müssen jetzt ein halbes Jahr vorsichtig sein, besser keine Pilze im nächsten Herbst, zumindest keine von draußen und dann ist das meiste zerfallen. Wir sterben schon nicht an Strahlenkrankheit oder Krebs.“
„Ganz so ocker kannst du das nicht sehen.“, entgegnete Ulrich. „Dafür weiß man noch viel zu wenig.“
„Es ist schlimm, aber auch kein Weltuntergang.“, versuchte Hildegard zu vermitteln. „Man muss in der nächsten Zeit ein bisschen aufpassen, aber wir werden das überstehen. Die Menschheit hat viel schlimmere Katastrophen überstanden und ist immer wieder fröhlich und lebensfroh gewesen, hat Kinder in die Welt gesetzt und großgezogen und einfach weitergemacht. Du wirst wieder frische Erdbeeren mit Schlagsahne essen, Waldpilze sammeln und ohne Angst im Regen tanzen. Versprochen.“
Im April geschah es, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Vor allem Kinder und Jugendliche wurden in Angst und Schrecken versetzt oder waren zumindest verunsichert. Bei Regen nicht mehr draußen spielen, die Schuhe abwaschen, frische Milch war plötzlich ungesund, genauso wie Salat, Spinat oder Gartenkräuter. Die allseits gedrückte Stimmung schlug den Heranwachsenden aufs Gemüt, auch an der zwölfjährigen Sigrid ging dieser Schrecken nicht spurlos vorbei. Würde das jetzt für immer so weitergehen? Gab es noch eine Zukunft? Kam noch Schlimmeres auf sie zu?
Mit ihrem Vater konnte sie darüber sprechen, er hatte Verständnis für ihre Ängste und teilte sie. Als Renate ein solches Gespräch mitbekam, platzte ihr irgendwann der Kragen. „Jetzt hört auf, euch so anzustellen! Das bringt doch überhaupt nichts. Das Kraftwerk ist mehr als tausend Kilometer entfernt, im Osten, wir haben meistens Westwind. Wer in der Ukraine wohnt, muss sich vielleicht Sorgen machen, aber wir doch nicht. Im Fernsehen sagen sie, wir müssen jetzt ein halbes Jahr vorsichtig sein, besser keine Pilze im nächsten Herbst, zumindest keine von draußen und dann ist das meiste zerfallen. Wir sterben schon nicht an Strahlenkrankheit oder Krebs.“
„Ganz so ocker kannst du das nicht sehen.“, entgegnete Ulrich. „Dafür weiß man noch viel zu wenig.“
„Es ist schlimm, aber auch kein Weltuntergang.“, versuchte Hildegard zu vermitteln. „Man muss in der nächsten Zeit ein bisschen aufpassen, aber wir werden das überstehen. Die Menschheit hat viel schlimmere Katastrophen überstanden und ist immer wieder fröhlich und lebensfroh gewesen, hat Kinder in die Welt gesetzt und großgezogen und einfach weitergemacht. Du wirst wieder frische Erdbeeren mit Schlagsahne essen, Waldpilze sammeln und ohne Angst im Regen tanzen. Versprochen.“
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Freitag, 16. Mai 2025
2nd Spoiler 14
c. fabry, 19:03h
1984
Als Zehnjährige wechselte Sigrid planmäßig auf die Gesamtschule in Spenge. Alles war neu, nicht nur der Schulweg, das Gebäude, die Lehrenden, und die Art des Unterrichts; auch die Mitschülerinnen und Mitschüler. Die meisten waren in traditionellen Schulformen untergekommen, nicht eine von Sigrids Freundinnen war mit ihr gekommen und sie musste sich nun mühsam einen neuen Freundeskreis aufbauen.
An einem sonnigen Mittwochnachmittag trat sie tränenüberströmt in den Hausflur. Renate bemerkte es sofort und fragte: „Ist was passiert?“
„Nein“, antwortete Sigrid. „Nur wieder die blöde Anja“
„Was hat sie denn gemacht?“
„Nichts.“
„Wegen nichts heulst du doch nicht.“
„Die erzählt überall, dass ich stinke. Und jetzt will niemand mehr neben mir sitzen, weder in der Klasse, noch im Bus.“
Renate trat an Sigrid heran und schnüffelte. „Ich rieche nichts.“, sagte sie. „Vorsichtshalber wäscht du dich jeden Morgen gründlich mit Seife unter den Armen und benutzt ab sofort Deo. Meinetwegen kannst du auch duschen. Und wenn du jeden Tag das T-Shirt oder die Bluse wechselst, kannst du gar nicht stinken.“
So wurde es gemacht, doch die Sticheleien hörten nicht auf. Renate hatte nicht verstanden, das der vermeintliche Körpergeruch ihrer Tochter nur als Vorwand diente, um sie auszugrenzen und zu erniedrigen. Vom nächsten Vorfall – bei so einem altmodischen Vornamen wie Sigrid müsse man davon ausgehen, dass ihre Eltern Geschwister seien – erzählte sie der Mutter nichts, doch doch nur Maßnahmen ergriff, um das vermeintliche Fehlverhalten ihrer Tochter auszuräumen. Stattdessen richtete sie den Schmerz nach innen, wurde übellaunig, träge, einsilbig und patzig.
Renate ahnte nicht, was in ihrer Tochter vorging, wenn sie stundenlang über den Hausaufgaben brütete und nicht vorankam. Sie hatte keine Kraft für Nachhilfetätigkeiten und in der Bildungseinrichtung, die ihre Tochter nun aufsuchte, sollte das eigentlich die Schule erledigen. Überall ließ Sigrid Sachen fallen und liegen, ihr Zimmer sah regelmäßig so aus, als hätten Einbrecher darin gewütet und Mutter und Tochter prallten wiederholt aufeinander, beide gleichermaßen am Ende ihrer Kräfte, ohne ebendies voneinander zu ahnen.
Wenn aber Ulrich nicht gerade schwer in der Schankstube beschäftigt war, vertraute sie sich ihm an, immer mit der dringenden Bitte, der Mama nichts davon zu erzählen, die verstehe das nicht.
„Die Mama versteht das schon.“, erwiderte Ulrich. „Nur hat sie vielleicht zu schnell Lösungen parat, die dir gar nicht helfen. Und ich habe auch keine Lösung. Ich kann nur zuhören.“
„Das ist aber viel besser.“, meinte Sigrid.
„Aber irgendwann muss das doch mal aufhören.“, sagte der Vater.
„Mir fällt schon was ein.“, erklärte Sigrid. „Und bis dahin erzähle ich dir alles und halte durch.“
Das ist tapfer und weise.“, entgegnete Ulrich.
Als Zehnjährige wechselte Sigrid planmäßig auf die Gesamtschule in Spenge. Alles war neu, nicht nur der Schulweg, das Gebäude, die Lehrenden, und die Art des Unterrichts; auch die Mitschülerinnen und Mitschüler. Die meisten waren in traditionellen Schulformen untergekommen, nicht eine von Sigrids Freundinnen war mit ihr gekommen und sie musste sich nun mühsam einen neuen Freundeskreis aufbauen.
An einem sonnigen Mittwochnachmittag trat sie tränenüberströmt in den Hausflur. Renate bemerkte es sofort und fragte: „Ist was passiert?“
„Nein“, antwortete Sigrid. „Nur wieder die blöde Anja“
„Was hat sie denn gemacht?“
„Nichts.“
„Wegen nichts heulst du doch nicht.“
„Die erzählt überall, dass ich stinke. Und jetzt will niemand mehr neben mir sitzen, weder in der Klasse, noch im Bus.“
Renate trat an Sigrid heran und schnüffelte. „Ich rieche nichts.“, sagte sie. „Vorsichtshalber wäscht du dich jeden Morgen gründlich mit Seife unter den Armen und benutzt ab sofort Deo. Meinetwegen kannst du auch duschen. Und wenn du jeden Tag das T-Shirt oder die Bluse wechselst, kannst du gar nicht stinken.“
So wurde es gemacht, doch die Sticheleien hörten nicht auf. Renate hatte nicht verstanden, das der vermeintliche Körpergeruch ihrer Tochter nur als Vorwand diente, um sie auszugrenzen und zu erniedrigen. Vom nächsten Vorfall – bei so einem altmodischen Vornamen wie Sigrid müsse man davon ausgehen, dass ihre Eltern Geschwister seien – erzählte sie der Mutter nichts, doch doch nur Maßnahmen ergriff, um das vermeintliche Fehlverhalten ihrer Tochter auszuräumen. Stattdessen richtete sie den Schmerz nach innen, wurde übellaunig, träge, einsilbig und patzig.
Renate ahnte nicht, was in ihrer Tochter vorging, wenn sie stundenlang über den Hausaufgaben brütete und nicht vorankam. Sie hatte keine Kraft für Nachhilfetätigkeiten und in der Bildungseinrichtung, die ihre Tochter nun aufsuchte, sollte das eigentlich die Schule erledigen. Überall ließ Sigrid Sachen fallen und liegen, ihr Zimmer sah regelmäßig so aus, als hätten Einbrecher darin gewütet und Mutter und Tochter prallten wiederholt aufeinander, beide gleichermaßen am Ende ihrer Kräfte, ohne ebendies voneinander zu ahnen.
Wenn aber Ulrich nicht gerade schwer in der Schankstube beschäftigt war, vertraute sie sich ihm an, immer mit der dringenden Bitte, der Mama nichts davon zu erzählen, die verstehe das nicht.
„Die Mama versteht das schon.“, erwiderte Ulrich. „Nur hat sie vielleicht zu schnell Lösungen parat, die dir gar nicht helfen. Und ich habe auch keine Lösung. Ich kann nur zuhören.“
„Das ist aber viel besser.“, meinte Sigrid.
„Aber irgendwann muss das doch mal aufhören.“, sagte der Vater.
„Mir fällt schon was ein.“, erklärte Sigrid. „Und bis dahin erzähle ich dir alles und halte durch.“
Das ist tapfer und weise.“, entgegnete Ulrich.
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