Donnerstag, 23. November 2023
Spoiler 6
1966
Ingrid war wahnsinnig aufgeregt. Zeltfeste und Hochzeiten waren nach nunmehr zwei Jahren die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie den elterlichen Hof verlassen durfte. Mit dem Ende der Schulzeit hatten auch praktisch all ihre Sozialkontakte geendet. Eine Ausbildung sei nicht nötig, hatten die Eltern gemeint, irgendwann würde sie ja doch heiraten und da war ein gut situierter Bauer das Beste, was ihr passieren konnte. Die effektivste Vorbereitung darauf war, dass sie auf dem Hof jede Arbeit tat und außerdem entlastete sie damit ihre Eltern und Brüder. Ingrid träumte heimlich von einem bequemen und eleganten Leben als mondäne Arztfrau oder Anwaltsgattin. Es musste nicht gleich ein superreicher Industrieller sein. Aber sie wäre schon froh gewesen, wenn nur irgendein anständiger Kerl mit ausreichend Vieh und Land an den Hacken ein Auge auf sie geworfen hätte. Aussichtsreiche Kandidaten begegneten ihr aber nur bei Festen und Feiern.

Und nun war es wieder einmal soweit: Ihr Bruder Gerd heiratete eine als Einzelkind aufgewachsene Bauerntochter aus dem benachbarten Bardüttingdorf, die den großen Hof ihrer Eltern erben würde. Dieser Bruder hatte ausgesorgt und Rainer würde den Hof auch nicht übernehmen; er ging in ein paar Wochen zur Marine und hatte sich dort für zwölf Jahre verpflichtet. Unter anderen Umständen hätte Ingrid sich über diese Entwicklung freuen können. Als Jüngste stand ihr zwar ohnehin das Erbe zu, aber oft wurde an diesem alten Recht herumgeschraubt, sodass eigentlich immer der jüngste Sohn das Erbe antrat, während die jüngste Tochter leer ausging. Im Augenblick hätte Ingrid aber gern auf das Erbe verzichtet, wenn nur Rainer bleiben würde und sie nicht für die Marine im Stich ließe. Nun war sie bald ganz allein mit ihren schrecklichen Eltern. Darum betete sie inbrünstig, ihr möge bei Gerds Hochzeit ein aussichtsreicher Kandidat begegnen, der sie aus ihrem Martyrium befreite.
Das als nach dem Vier-Gänge-Menü der Tanzboden eröffnet wurde, forderte niemand den ungeschickten Backfisch mit den hängenden Schultern, der blühenden Akne und der unzeitgemäßen Zopffrisur auf. Ingrids Körper hatte etwas Plumpes, ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und unsicher. Damit schützte sie sich unbewusst vor Belästigungen und Übergriffen - aber leider verhinderte das auch die schönen und aufregenden ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Die hübschen Jungen in ihrem Alter würdigten sie keines Blickes und nicht einmal mit den Mittelmäßigen konnte sie sich unterhalten, denn worüber hätte sie mit ihnen reden sollen, wo sie doch seit zwei Jahren von allem ferngehalten wurde?

Es wurde einerseits angenehmer nach Gerds Hochzeit, denn der älteste Bruder hatte sie in einem fort beleidigt und im Gegensatz zu Rainer nie Partei für sie ergriffen. Andererseits fehlte Gerds Arbeitskraft auf dem Hof. Das war bis vor einem Jahr schon einmal zwei Jahre lang so gewesen, in der Zeit, als Gerd bei der Bundeswehr diente, aber da hatte er wenigstens am Wochenende mit angefasst oder wenn er Urlaub hatte. Und die Kaserne war auch nicht so weit weg gewesen. Nach der Grundausbildung hatte er abends noch mit ins Heu gekonnt oder bei der Getreideernte geholfen. Dies würde jetzt ausbleiben. Er hatte nun einen eigenen Hof zu versorgen. Und dann würde auch noch Rainer fehlen - nicht nur als Arbeitskraft sondern als Einziger in der Familie, mit dem man mal ein vernünftiges Wort wechseln konnte. Kein Wunder, dass er es auch nicht mehr zu Hause aushielt. Er nutzte seine Chance und sie hätte das auch getan, darum konnte sie es ihm nicht verübeln. Sie fürchtete die schlechte Laune ihrer Mutter und die häufiger auftretenden cholerischen Ausbrüche ihres Vaters. Der einzige Vorteil der sich verändernden Situation bestand darin, dass der Alte nun viel zu erschöpft von der Arbeit sein würde, um mitten in der Nacht aufzuwachen und sich über sie herzumachen.

Alles kam so, wie Ingrid es befürchtet hatte - nur ihre Hoffnung auf Schonung ihrer Nachtruhe erfüllte sich nicht. Dazu reichte es bei dem 44-jährigen Fritz noch immer.
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