Freitag, 1. Dezember 2023
Spoiler 7 - nichts für Kinder
1967
Ostern war gerade vorbei. Am Montag war Gerd mit seiner Frau zum Kaffeetrinken da gewesen. Waltraud war ein ziemlicher Besen, das gönnte Ingrid ihrem Bruder. Die würde ihn sein Leben lang in Schach halten. Besonders nett war sie allerdings nicht. Sie ging mit Ingrid um wie mit einer Magd und nicht wie mit einer Schwägerin. In ihrem Dorf nannte man sie die Warmenau-Prinzessin, aber nicht etwa wegen ihrer bezaubernden Schönheit und Grazie oder wegen eines feinsinnigen und kultivierten Wesens, nein, sie führte sich auf wie eine Herrscherin, die es als verwöhntes Einzelkind schlichtweg erwartete, dass sie stets erhielt, wonach sie verlangte.
Ingrid spürte nicht die geringste Lust, dem jungen Paar einen Gegenbesuch abzustatten. Und jetzt hatte sie der Alltag längst wieder - Fritz war mit der Getreideaussaat beschäftigt und Lisbeth und Ingrid hatten es im Stall umso eiliger.
Ach wenn sie doch einen Mann fände, der mit seinem Vermögen den elterlichen Hof einfach in die Tasche stecken könnte, jeder würde verstehen, wenn sie zu ihrem reichen Bräutigam ziehen würde, und der könnte großzügig Knechte und Mägde abstellen und alle wären zufrieden. Dann könnte Fritz sich ja zur Abwechslung mal mit der Magd vergnügen.

Aber dann erreichte sie eine Nachricht, mit der niemand gerechnet hatte: Ihr Bruder Rainer war plötzlich verstorben. Und als die Eltern nicht locker ließen, nachzufragen, wie jemand bei der Marine umkommen könne, wenn die Bundeswehr sich doch gar nicht im Krieg befände, wurden sie mit der grausamen Wahrheit konfrontiert, dass Rainer selbstständig seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Erhängt hatte er sich, weil er die rüden Umgangsformen bei der Marine nicht länger ertragen hatte. Und statt seine Vorgesetzten mit klagen zu überziehen wegen der Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht, schämten sich Lisbeth und Fritz für ihren Sohn, der so kläglich versagt hatte und nicht einmal den Grundwehrdienst in Friedenszeiten ertragen hatte. Sie sprachen nicht mehr von ihm, stellten auch keine Bilder auf und die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt. Nur Ingrid trauerte um ihren Bruder, doch auch sie schwieg, denn es wollte ja sonst niemand über ihn reden und so dachte sie viel zu selten an ihn und die Erinnerungen begannen bereits zu verblassen.

Sie hatte wieder einen besonders harten Tag im Stall hinter sich, denn Lisbeth hatte sich nach dem Mittagessen mit Fieber ins Bett gelegt, was Fritz zum Anlass genommen hatte, schon am Nachmittag den Gasthof aufzusuchen, um in bierseliger Gesellschaft das häusliche Elend eine Zeitlang auszublenden. Als er betrunken zurückkehrte, lag Ingrid schon im Bett, war völlig ermattet eingeschlafen und schreckte hoch, weil Fritz durch seine alkoholisch eingeschränkte Feinmotorik und Koordinationsfähigkeit mehrere Gegenstände auf der Deele umstieß und dabei ein ohrenbetäubendes Spektakel veranstaltete. Ingrid zog sich die Decke über den Kopf, bis Poltern und Fluchen verstummt waren und schlief dann bald wieder ein.

Als sie wieder erwachte, fröstelte sie, weil der Alte ihre Decke zurückgeschlagen hatte und sich an ihrem Nachthemd zu schaffen machte. Sich selbst hatte er unten herum schon entblößt und sein gieriges Keuchen roch nach Schnaps, Bier, Zigaretten und einem deutlich übersäuerten Magen, vom bestialischen Gestank der Ausscheidungen seiner zahlreichen Kariesbakterien einmal ganz zu schweigen. Das alles mischte sich mit dem süßlich ungesunden Gestank seines ungewaschenen, alternden Männerkörpers.
Diesmal war Ingrids Abscheu und Ekel stärker als ihre Angst. Sie begann zu schreien und auf die haarige, verschwitzte Brust ihres Vaters einzuschlagen. Er wollte ihr den Mund zuhalten, aber er musste auch ihre Schläge abwehren, und er war viel zu betrunken, um derartig koordinierte Bewegungen zu vollziehen. Ingrid schrie immer weiter, schrill und laut, als ginge es ums nackte Überleben und sie trommelte immer weiter auf den betrunkenen Sack über ihr ein, bis schließlich Lisbeth in der Tür stand. Die ging auf das Bett zu, bekam ihren Mann am Hemd zu fassen und zerrte ihn von der gemeinsamen Tochter. Er fiel zu Boden. Ingrid schrie noch immer. Lisbeth verpasste ihr eine schallende Ohrfeige und zischte: " Bist du still! Was sollen denn die Nachbarn denken?"
"Welche Nachbarn?", dachte Ingrid, ohne es auszusprechen.
Fritz kam wieder auf die Beine und zog seine Schlafanzughose hoch. Er wankte in Richtung Schlafzimmer und Lisbeth folgte ihm auf den Fersen. Sie blickte sich nicht einmal zu ihrer Tochter um.

Ingrid erfuhr niemals, was sich danach zwischen ihren Eltern abspielte. Es war ihr auch egal. Auf jeden Fall war es das letzte Mal, dass ihr Vater ihr Schlafzimmer betreten hatte.

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