Donnerstag, 21. Dezember 2023
Spoiler 10
1979
Voller Stolz fuhr Ingrid ihrem einzigen Sohn ein letztes Mal mit dem Kamm durch die goldenen Locken. Die hatte er von seinem Großvater väterlicherseits. Sie beugte sich hinab und drückte seinen kleinen Kopf gegen ihren mächtigen Busen.
Horst hatte am Wochenende sogar den Mercedes auf Hochglanz poliert, weniger zu Ehren seines Sohnes, als um selbst eine gute Figur abzugeben. Auf seinen Sohn war er ohnehin nicht gut zu sprechen. Erst diente die Brut als Dauerausrede, wenn er an seine Frau ran wollte und als er aus dem Gröbsten raus war, verbrachte Ingrid jede freie Minute mit dem Kind und in der Nacht war sie todmüde.
Natürlich war Horst bei der Einschulung seines Sohnes dabei, er wollte ja nicht als ungehobelt gelten, aber es widerstrebte ihm zutiefst, dass sich alles um den Jungen drehte.

Raimund hatte noch gar nicht begriffen, welche Bedeutung dem heutigen Tag zukam. Er war noch nie ohne seine Mutter von zu Hause fort gewesen, denn vom Kindergarten hatte Ingrid gar nichts gehalten. Er vermisste die anderen Kinder nicht, auf dem Hof gab es täglich viel Spannendes zu entdecken und die Mama erzählte ihm Geschichten, sang Lieder mit ihm, gab ihm Süßigkeiten und tausend Küsse. Sie war immer für ihn da, egal ob er sich weh getan hatte, vor Angst zitterte, traurig war oder sich einfach nur langweilte.
Der Papa dagegen war ihm fremd. Auch wenn er es liebte, ihn bei der Arbeit zu beobachten und ihn im Spiel zu imitieren, fühlte er sich ihm nicht nah. Seine unbändige Kraft war bewundernswert und furchteinflößend zugleich. Nur manchmal sah der Papa ihn anders an und dann entfernte sich sein Blick und sein Gesicht wurde kurz weich, bevor es sich wieder verhärtete.
Wenn Raimund bei den Hausaufgaben saß, die ersten Buchstaben übte, Zeichnungen von Obststücken ausmalte, um ein Gefühl für Zahlen zu entwickeln, waren alle zufrieden. Wenn er aber Hilfe brauchte, weil ihm eine Aufgabe nicht gelingen wollte, eilte Ingrid nur allzu bereitwillig zur Hilfe, während Horst jedes Mal missmutiger darauf reagierte.
"Wenn du deine Schularbeiten nicht alleine schaffst, musst du zur Hilfsschule.", fuhr er seinen Sohn an. Seiner Ansicht nach mussten Kinder nebenbei aufwachsen, sie hatten einfach mitzulaufen, man hielt sich nicht mit ihnen auf. Die Drohung mit der Sonderschule hörte Raimund nicht zum ersten Mal. Sein Vater hatte ihm mehrfach in den düstersten Farben die zukünftige Karriere seines Scheiterns ausgemalt: die ständige Gesellschaft von Kindern, die allesamt genauso dumm waren wie er, drakonische Strafen bei Nichterreichen des ohnehin viel zu niederschwelligen Klassenziels und eine berufliche Perspektive jenseits von sinnstiftender Erfüllung, gesellschaftlicher Anerkennung und existenzsichernden Verdienstmöglichkeiten - oder um es in einer für den kleinen, verunsicherten Raimund verständlichen Sprache auszudrücken: "langweilige, schwere Arbeit, alle lachen dich aus und du hast nie genug Geld, um dir zu kaufen, was du brauchst."
Raimund begann zu greinen. "Ich muss gar nicht zur Hilfsschule!", stieß er schluchzend hervor. "Ich bin nicht doof. Die andern Kinder werden auch geholfen!"
Der kleine grammatikalische Lapsus entzog sich der väterlichen Wahrnehmung. Auch Horsts Gehirnwindungen waren nicht die kurvenreichste Strecke in der Galaxis - nicht einmal im von wenigen Erhebungen durchzogenen Häger.
"Ich helfe dir ja.", beruhigte Ingrid ihn.
"Du solltest dich mal lieber ums Abendbrot kümmern!", fuhr Horst sie an. "Ich komme um vor Hunger!"
"Bis du verhungert bist, das dauert aber ein paar Wochen.", murmelte Ingrid leise, abgewandt, aber unüberhörbar.
Ein Knall zerschnitt die Luft. Ingrid hatte eine Ohrfeige kassiert.
"Komm, Raimund.", sagte sie. "Wir beide gehen jetzt zu Brünings und holen dir ein Eis. Danach kannst du besser denken und ich kann Abendbrot machen. Papa schmiert sich am besten ein Leberwurstbrot und wäscht sich erstmal."
Raimund freute sich über die aussichtsreiche Wendung, vor allem aber darüber, der bedrückenden häuslichen Atmosphäre zu entkommen.

Lisbeth stand in der Tür. Der säuerliche Ausdruck in ihrem verhärmten Gesicht grub sich von Jahr zu Jahr tiefer in die erschlafften Muskeln. "So kurz vor dem Abendessen noch ein Eis.", schnarrte sie. "Das ist doch wohl nicht nötig. Wie soll denn aus dem Jungen was werden, wenn du ihn so verwöhnst?"
"Ein Eis hat noch keinem geschadet.", erwiderte Ingrid und rauschte eilig mit Raimund davon.

Wenn sie mit ihrem Sohn allein war, war für Ingrid die Welt in Ordnung, dann war da niemand, der sie bedrohte, beschimpfte, abwertete oder ihr Gewalt antat. Stattdessen verwöhnte sie den Kleinen, überhäufte ihn mit Gefälligkeiten und Zärtlichkeiten und bekam dafür so unendlich viel Liebe, Bewunderung und wohltuende körperliche Nähe zurück, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollständig, heil, stark, schön und nahezu unverwundbar fühlte. Raimund war ihr Schatz, ihre Zuflucht, ihre Kraftquelle. Sie ernährte sich von seiner bedingungslosen Liebe.

"Einmal brauner Bär", bestellte sie bei Brünings Edeltraut, sie kannte die Vorlieben ihres kleinen Jungen ganz genau und Raimund bebte vor Vorfreude auf das süße, kalte Geschmackserlebnis mit dem warm auf der Zunge explodierenden Feuerwerk aus körnig zerfallendem Karamell.
Ingrid zog das Papier von der Süßigkeit, reichte Raimund den Stiel und beobachtete mit Hingabe, wie die kleinen, roten, weichen Kinderlippen die Spitze des Eises umschlossen so wie vor wenigen Jahren ihre Brustwarzen. Ein Jammer, dass diese Zeit so kurz gewesen war, dass alles Schöne so schnell vorbei ging und das nächste Ungemach gleich um die Ecke auf der Lauer lag.

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