Freitag, 5. April 2024
Spoiler 21
1992 - Ingrid
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.

So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.

Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.

Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.

1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.

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Und was würden sie mir raten
Wenn ich die Um2 pflegen müsste;-)

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Nicht machen.

Gibt ja Pflegedienste.

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