Freitag, 6. Januar 2023
Der Künstler
Grau hatte das Jahr angefangen, lauwarm, feucht, trostlos. Der Lichterglanz von Weihnachten, die festliche Stimmung von Silvester, das war alles vorbei. Sie hatte die schwülstige Weihnachtsdekoration abgeräumt und Blumenzwiebeln auf die Fensterbänke gestellt, Vorboten des Frühlings. Nun lag wieder diese lange Durststrecke vor ihr: Eintönigkeit, ein Tag wie der andere, man saß irgendwie in der Wohnung fest, alle igelten sich ein, bis die ersten wirklich warmen Sonnenstrahlen die Menschen endlich wieder aus ihren Häusern hervor lockten und sich der eine oder die andere zu einem Besuch aufraffte. Bis dahin passierte nichts. Nicht einmal der hässliche Geranienmann von gegenüber zupfte an seinen Blümchen, die waren drinnen, im Winterschlaf.

Der junge Künstler im Erdgeschoss mit seinen gewaltigen, opulenten Gemälden irritierte sie noch immer. Oft lief er den ganzen Tag in Unterwäsche herum und auf den Bildern war rein gar nichts zu erkennen, obwohl sie doch so riesengroß waren. Aber hier bewegte sich heute wenigstens etwas. War er dazu übergegangen, Skulpturen zu erschaffen? Da kam etwas aus der Leinwand heraus, so etwas wie ein Körper. Sie sah genauer hin: Ja, es war der Körper einer Frau, das war eindeutig zu erkennen, sogar auf die Entfernung. Verstörend war, dass überall an der Frau Hebel angebracht waren, an den Händen, den Füßen, einer Schulter einer Hüfte und über dem Kopf, der Hebel ragte aus einer Turmfrisur, das war mehr als eigenartig.

Unvermittelt wurde sie aus ihren Betrachtungen gerissen, als es an der Tür klingelte. Wer mochte das sein? Es war der Gemeindepfarrer, der sie in dieser anregungsarmen Zeit besuchen wollte. Sie kochte ihm einen Kaffee und reichte dazu ein paar Plätzchen, die noch von Weihnachten übrig waren. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, bat sie den Theologen, doch einmal einen Blick aus dem Fenster in die gegenüberliegende Erdgeschoss-Wohnung zu werfen.
Ihm fiel nichts Besonderes auf und als sie aufstand, um sich selbst noch einmal zu überzeugen, ob sie vielleicht schlecht geträumt hatte, musste sie zugeben, dass die Wohnung aussah wie immer, inklusive des jungen Künstlers in Unterwäsche. Das Großbild mit der eingearbeiteten Skulptur war wie vom Erdboden verschluckt. Sie konnte es trotzdem nicht für sich behalten und beschrieb ihrem Seelsorger in allen Einzelheiten, was sie gesehen oder zu sehen geglaubt hatte. Der hörte aufmerksam zu, beruhigte sich, dass das wohl nichts weiter als Bilder eines Alptraums gewesen waren und als er die Wohnung verlassen hatte, schritt er schmunzelnd durchs Treppenhaus. Seniorinnen, denen langweilig war und die zu viel ferngesehen hatten. Natürlich war sie einsam, aber er hatte nun wirklich keine Zeit, sie häufiger zu besuchen, konnte aber vielleicht ein wenig herumtelefonieren, um die Angehörigen in die Pflicht zu nehmen.

Das tat er am nächsten Tag, dann machte er einen vorläufigen Haken an die Geschichte und konzentrierte sich auf seine Sonntagspredigt. Die gelang außerordentlich gut, der restliche Sonntag verlief entspannt und beschaulich und am Montag hatte die Alltagsroutine ihn wieder, viel Papierkram im Gemeindebüro, Absprachen, ein Trauergespräch, ein Traugespräch, Vorbereitungen für den kirchlichen Unterricht. Immerhin konnte er am frühen Abend Feierabend machen, Essen mit der Familie, abhängen vor dem Fernseher.
In der Lokalzeit tauchten entsetzlich Bilder eines grausigen Fundes auf, groteske Kunst neben dem Haupteingang der Universität. Eine Junge Frau mit Messern auf einer Weichfaserplatte fixiert und mit Acryl übermalt. Die Identifikation des Opfers stand noch aus, vom Täter fehlte jede Spur.

Die ältere Dame würde noch heute Abend von ihrem Pfarrer Besuch bekommen.

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Dienstag, 3. Januar 2023
Zwölf überflüssige Morde mit absurden Weihnachtsaccessoires, Nr. 12
Stille Nacht, heilige… Ohrfeige. Da war ein falscher Ton. Noch einmal von vorn. Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht, nur das traute...Ohrfeige. Wieder ein falscher Ton. Sie wachte auf. Tränen liefen ihr in die Ohren. Sie schluchzte.
Hörte das denn nie auf? Sie war Fünfundfünfzig und noch immer verfolgte sie der brutale, musikalische Drill ihres Elternhauses. Die Mutter war bereits vor Jahren verstorben, der Vater lebte noch immer. Heute musste sie ihn besuchen. Hatte gestern Gänsebrust im Backofen gegart, Rotkohl gekocht und Knödelteig hergestellt. Den Blätterteig mit Salzkaramell zum Dessert hatte sie im Delikatessengeschäft gekauft und die Hühnersuppe als Vorspeise aus der Truhe genommen, die war noch vom letzten Jahr übrig. Sie hasste ihren alten Herrn, konnte ihn aber auch nicht allein lassen.
Nach dem Essen saßen sie noch am Tisch. Er hatte sie innerhalb von drei Stunden mindestens zwanzig Mal beleidigt, herabgewürdigt oder gedemütigt. Jetzt regte er sich gerade über das Vorgehen gegen die Reichsbürgerszene auf. Das waren eben kaisertreue Royalisten. Was war dagegen zu sagen? Er redete sich in Rage, bis er blau anlief. Wohl das Herz, dachte sie.
"Mach was!", keuchte er.
Sie stand auf und nahm die Blockflöte aus der Vitrine. Und sie blies Stille Nacht so schrill und schief und falsch wie sie nur konnte. Bis es mit ihm zu Ende war. Dann rief sie einen Rettungswagen, legte auf und sah ihn an.
"So.", sagte sie. "Jetzt ist endlich stille Nacht."

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Montag, 2. Januar 2023
Zwölf überflüssige Morde mit absurden Weihnachtsaccessoires, Nr. 11
Es plärrte seit Stunden aus der Wohnung im dritten Stock, vielleicht noch viel länger, Sabine war erst heute Morgen in ihre Wohnung zurückgekehrt und alle anderen im Haus schienen auch noch im Urlaub, bei Freunden oder Familienangehörigen zu verweilen. Nur der sexuell hyperaktive Robin war zu Hause und ließ "Last Christmas" von Wham in Dauerschleife laufen. Das reichte jetzt wirklich. Sie stürmte die Treppe hoch und klingelte Sturm. Nichts rührte sich. Sie klopfte und rief: "Hey, Robin, es reicht! Weihnachten ist vorbei, du kannst jetzt "Happy New Year" von Abba auflegen."
Robin ignorierte sie.
"Alles klar.", murmelte sie wütend vor sich hin und ging zurück in ihre Wohnung. "Rufe ich eben die Polizei, wegen Ruhestörung."
Ein Tag zuvor.
Robin freute sich auf Louis. Er war zwar nicht direkt ein Sahneschnittchen, aber so herrlich unprätentiös. Er freute sich, wenn man sich ihm zuwandte und er akzeptierte, wenn man die Nase voll von ihm hatte. Und er war so dankbar, so hingebungsvoll, dass Robin beinahe so etwas wie romantische Gefühle entwickelte. Eine Zeitlang war das ganz erfrischend, wie ein gut gekühlter Mittelklassesekt. Aber irgendwann ging Louis ihm dann auf die Nerven, mit seiner gesammelten Klischeeromantik: Rote Rosen, aphrodisierende Dinner, aufgebrezelt zusammen ausgehen, Händchen halten… das war auf Dauer nichts für Robin.
Doch gleich würde es toll werden. Louis würde vor Begeisterung schier vergehen, dass er einen Teil des Weihnachtsfestes mit Robin verbringen durfte, in intimer Zweisamkeit, in einem Haus, das sie ganz für sich allein hatten, wo sie so laut sein durften wie sie wollten.
Es fing alles ganz toll an, mit einem besonderen Essen, das Louis in der Küche zauberte, während Robin den Tisch deckte und ein paar Rosenblätter auf dem Bett verteilte, weil Louis das so liebte.
Dann war es eine ganze Weile sehr still in der Küche und Robin wunderte sich, wollte Louis aber nicht die Überraschung kaputt machen. Schließlich trat der Gast mit bedeutungsvollem Blick aus der Tür. "Setz dich in den Schaukelstuhl und schließ die Augen. Ich habe etwas ganz Besonderes für dich vorbereitet."
Robin tat, wie ihm geheißen und wunderte sich, als er fühlte, wie Louis weiche Bänder um seine Handgelenke wand und diese an den Armlehnen des Stuhls befestigte. Dann nahm er sich die Fußgelenke vor und zurrte die Bänder an den Kufen fest.
"Bondage, mein Lieber?", fragte Robin grinsend. "Das sind ja ganz neue Töne an dir." Louis fixierte seinen Oberkörper an der Lehne, das fand Robin weniger angenehm und öffnete die Augen.
"Das reicht jetzt, so kriege ich ja gar keine Luft."
Louis schwieg und ging zur Musikanlage. Er rief ein Programm auf und schon erklang "Last Christmas" von Wham.
"Oh Gott, Louis, mach das aus, du weißt wie sehr ich das hasse."
"Und ich liebe es.", erwiderte Louis und kehrte mit einem kalten Lächeln zurück. Dann band er Robin einen Knebel in den Mund. Er konnte noch atmen, aber nicht mehr sprechen, nur wütend blicken. Louis setzte sich und sah ihn lange an.
"Ich habe in der Küche deinen Kalender herum liegen sehen. So viele Dates. Ganz besonders aufregende an den Tagen, an denen du mir abgesagt hast, weil du so viel arbeiten musstest oder krank warst. Ich gebe dir jetzt einfach den ganzen Schmerz zurück, den du mir zugefügt hast und dann sind wir quitt. 'Last Christmas' bis zum Erbrechen, vielleicht lernst du was draus – vorausgesetzt, du überlebst es."
Als sie ihn fanden, saß er gefesselt und geknebelt in einem Designer-Schaukelstuhl. Die Musik lief noch, doch bei ihm hatte alles aufgehört.

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Sonntag, 1. Januar 2023
Zwölf überflüssige Morde mit absurden Weihnachtsaccessoires, Nr. 10
"Auch einen Glühwein?"
"Ja, gerne, aber mit Schuss."
"Sollst du haben."
Podrick reichte seinem alten Schulfreund den dampfenden Becher. Der blies ein wenig über die Oberfläche und nahm dann genüssliche den ersten Schluck.
"Da fehlt aber der versprochene Schuss.", beschwerte er sich.
Das letzte, was er sah, war ein Mündungsfeuer.

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