Freitag, 21. April 2023
Goereese Jongens - ein Zweiteiler - Teil 1
War doch schön bei Oma. Anneke rekelte sich auf der weichen Matratze und blickte verträumt unter den hellen Dachfirst. Fast so unbeschwert wie in Kindertagen. Draußen zwitscherten die Vögel. Warum kam sie nicht öfter? Oma wäre froh. Sie roch Kaffee und frische Pfannkuchen. Schnell in Hose und T-Shirt geschlüpft und die steile Stiege hinab in die helle, kleine Küche. Der Duft hatte nicht zu viel versprochen. Es schmeckte köstlich und dazu kam von der Oma der neueste Tratsch: Heribert hatte wieder geheiratet, eine aus Brielle, die hier niemand kannte, schien aber ganz nett zu sein.
Frau Hiemstra war vor zwei Wochen nach dreieinhalb Jahren im Pflegeheim gestorben.
Julika de Graaf vom größten Hof in den Polderwiesen war schwanger und Johann Gerritsen war seit drei Wochen spurlos verschwunden. War einfach nicht von der Arbeit nach Hause gekommen.

Mit Johann war Anneke als Kind um die Häuser gezogen, so manchen langen Sommer. Und durch die Wiesen, die Dünen, die Strände.
Als sie mobiler wurden, war Johann mit dem Moped auf Goeree herumgeknattert und Anneke durch Rotterdam geradelt, später durch Den Haag, zum Studieren.
Als Teenager war es ihr bei Oma zu eng geworden. Nicht im Haus, sondern im Dorf. Man trat aus der Tür und die übelgelaunte Theunissen schoss mit giftigen, herablassenden und missbilligenden Blicken über Annekes Gestalt: die wild toupierten Haare, die bunten Shirts oder Blusen, die zerrissenen Jeans, die klobigen DocMartens. Die meisten hier gaben ihr das Gefühl, falsch zu sein, versagt zu haben und damit jedes Recht auf Zugehörigkeit verwirkt zu haben. Nur sie machten es richtig, mit den sauber geschrubbten Giebelwänden, den hochglänzend gewienerten Fenstern und lackierten Türen, den immer frischen Blumen auf den gründlich gefegten Trottoires, den aufgeräumten Stuben, durch die man bis zum Garten hindurchsehen konnte.
Die Schönheit des Ortes war teuer erkauft, die Idylle trügerisch. Sie war eine Anklage, ein immerwährender Vorwurf: Sieh her, wir machen es richtig, das wird Dir niemals gelingen.

Und jetzt war Johann verschwunden. Auch das noch.
"Oma, ich muss mal raus. Darf ich dein Rad nehmen?"
"Klar, wenn du es bis heute Abend zurück bringst."

Anneke fuhr über den Marktplatz am Hafen, wo die lebenslustigen Zugezogenen und einheimischen Rebellen sich auf ein Bier trafen. So wie früher. Aber am Hafen lungerten keine Jugendlichen mehr herum. Das Dorf wurde langsam zur Schlafstadt für kinderlose Paare und alte Menschen. Für Leute mit Geld. Leute mit sehr klären Vorstellungen.

Anneke fuhr hinaus in die Wiesen, zu dem kleinen Hof, auf dem Johann aufgewachsen war. Seine Oma hatte in der gleichen Straße gelebt wie ihre Oma, da hatten sie sich kennengelernt.

Der Hof sah aus wie damals. Johanns Eltern waren noch nicht alt und hatten den Betrieb im Griff. Anneke nahm allen Mut zusammen und lenkte Omas Rad bis zur offenen Stalltür.
"Goede middag.", rief sie. Greta kam heraus, Johanns Mutter, und musterte sie zunächst argwöhnisch, bis sie sie schließlich erkannte.
"Ich hab das mit Johann gehört.", sagte Anneke. "Kann ich irgendwas tun?"
"Bist Du bei der Polizei oder Privatdetektivin?", fragte Greta.
Anneke schwieg beredt. Das hatte gesessen.
"So meinte ich das nicht.", sagte sie kleinlaut.
"Ich auch nicht.", entgegnete Greta schuldbewusst. "Komm, wir trinken einen Kaffee zusammen."

Anneke erfuhr nichts Neues. Johann war auf dem Heimweg von der Arbeit abhanden gekommen - oder hatte sich aus dem Staub gemacht.

Immerhin. In der Gegend von Renesse brachten sich die Leute meistens um, wenn sie nicht mehr könnten, hatte Oma mal behauptet. Vielleicht wollte Johann auch einfach nur irgendwo neu anfangen. Er war viel zu lebenslustig für diese Umgebung.

Später fuhr Anneke durch die Dünen zum Surferstrand. Hier hatten sie sich als Kinder auf die Bretter geträumt und manchmal verlorene Münzen gefunden und sich ein Eis gekauft. Heute wirkte alles kleiner, schäbiger und glanzloser als damals.
Ein Surfer ging vom Wasser geradewegs auf das Café zu. Als er näher kam, erkannte sie ihn.

Fortsetzung folgt.

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