Samstag, 22. Juli 2017
Vulkanausbruch
Es war nur ein Augenblick, ein Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes und schon stand sie in Flammen. Nicht zum ersten Mal. Ihre Blicke hatten sich nur kurz getroffen, aber mit einer solchen Intensität, dass das Bild sich augenblicklich auf ihrer biologischen Festplatte einbrannte und zwar für immer. Es gesellte sich zu den anderen, bereits gespeicherten Bildern vom TEN SING-Festival, vom Vorbereitungstreffen für die Romfahrt, vom Kirchentag. Sie hatte nicht geahnt, dass sie ihm auch beim Jubiläumsfest des Kirchenkreises begegnen würde, über die Aktivitäten des Jugendreferates war sie nicht informiert, Jugendpfarrer war ja Jochen Twellsiek. Dass man so einen zum Jugendpfarrer gemacht hatte, war für sie nicht nachvollziehbar, ein selten unpragmatischer Typ mit der Empathie eines Fisches. Julian dagegen... Als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, vor einem Jahr beim Open Space zum Thema Jugend und Gemeinde, da hatte sie noch gedacht, was für eiskalte Augen, der könnte doch glatt jemanden umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann hatten sie sich zufällig unterhalten. Wie heiße Milch mit Honig war seine sanfte Stimme in sie hinein geströmt und als er mit seinen vermeintlich eiskalten Augen in die ihren blickte, verwandelten diese sich in wärmende Sonnen, die begannen ihre Seele sachte aber stetig immer weiter Richtung Siedepunkt zu treiben. Zuerst hatte sie nur große Sympathie empfunden, sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt und ihm ihren Respekt gezollt. Die Veranstaltung war zu Ende gegangen und sie hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu sehen. Vor einem halben Jahr hatte sie ihn auf dem Festival urplötzlich in der Menge ausgemacht und sich gewundert, warum diese Tatsache ihren Puls nach oben trieb. Ihre Blicke hatten sich getroffen und dann war er auf sie zugekommen und hatte sie angesprochen. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass sie ihn nie wieder aus ihrem Kopf verbannen konnte. Beim Vorbereitungstreffen für die Romfahrt war sie dann auf ihn zugegangen und hatte ihm ins Gesicht gesagt, wie sehr sie sich freue, dass er auch mit im Team sei. Vor sich selbst rechtfertigte sie sich damit, dass sie Netzwerke knüpfen musste, um im kommenden Jahr überzeugend bei ihrer Bewerbung als Jugendpfarrerin auftreten zu können. Sollte Jochen sich doch um Diakonie kümmern, das passte ohnehin viel besser zu ihm.
„Uomini da diecianove“, klang es in ihrem Kopf, die erste Zeile von „I Maschi“ von Gianna Nannini. Süße Neunzehn und sie war doppelt so alt, könnte seine Mutter sein. „Na, und? Ist doch nicht strafbar, ist ja schließlich erwachsen.“
Sie wandte den Blick kurz in die andere Richtung und blickte in ein paar wirklich eiskalte Augen. Es war Jochen. Er beobachtete sie. Warum tat er das? Sie war doch einfach nur hier, unterhielt sich mit Leuten wie alle anderen auch. Ahnte er, dass sie plante, ihn vom Thron zu stoßen?
Dann spürte sie zwei Hände an ihren Schultern. Oh Gott, dachte sie, Wanderkrötenalarm, Sigmar von hinten, gleich muss ich kotzen. Sie drehte sich um und knickte ein wenig in den Knien ein, denn sie blickte in zwei gelbgrüne Samtaugen. Julian hatte gerade die nächste Grenze überschritten, eine Hürde genommen und jetzt war die Frage, ob sie die Latte für die nächste Begegnung höher legen durfte.
„Tschuldigung“, sagte er lächelnd, „Anders komme ich hier nicht vorbei.“
„Du musst dich nicht entschuldigen.“, sagte sie. „Ist mir ein Vergnügen.“
Julian strahlte sie an und ging weiter. Rom, wir kommen, dachte sie.
Die Natur forderte ihren Tribut und trieb sie zum Toilettenwagen. Als sie zum Festplatz zurückging, trat plötzlich Jochen zwischen zwei Ständen hervor, an deren Rückseite sie sich aufhielten.
„Übertreib es besser nicht.“, sagte er. „Das hat schon so manchem das Genick gebrochen.“
„Was meinst du?“, fragte sie.
„Julian, meine ich. Ich beobachte das schon länger. Glaub nicht, dass das niemand merkt. Zumindest ich merke es und ich werde nicht tatenlos zusehen.“
Dann verschwand er in Richtung Toilettenwagen.
Dieser letzte Satz traf sie wie ein Giftpfeil. Sie spürte, wie die Kräfte sie schon verließen. Horrorbilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf: angeekelte Blicke von Kollegen, peinliche Gespräche mit dem Sup, Aussagen vor einer disziplinarischen Kommission, Strafversetzung oder im schlimmsten Fall sogar Beschäftigungsverbot. Sie konnte nicht zulassen, dass Jochen ihr Leben zerstörte. Er war gerade allein im Toilettenwagen. Sie hatte noch das Skalpell vom Passepartout-Workshop in der Handtasche. Sie dachte nicht lange nach, dazu war keine Zeit. Sie ging zurück zum Wagen. Nur eine Tür war verschlossen. Sie betrat die Nebenkabine und schloss sich ein. Kurz darauf ging nebenan die Spülung. Sie spülte ebenfalls. Jochen schloss auf, sie tat es ihm gleich. Jochen ging zum Handwaschbecken, sie trat hinter ihn. Seine Halsschlagader trat deutlich hervor, eine Tatsache, die seinem fortgeschrittenen Alter geschuldet war. Jugendpfarrer mit fünfzig, das war ja auch unverantwortlich, Zeit für eine weibliche Ablösung in den Dreißigern. Sie musste nur einmal in die Tasche greifen und weil er nichts ahnte, ließ sich der Schnitt präzise ansetzen. Er versuchte noch, die Wunde zuzudrücken, aber es war zwecklos. Vor Ablauf einer Minute ging er zu Boden. Wie durch ein Wunder hatte sie kaum Spritzer abbekommen. Sie wusch sich die Hände und die Tatwaffe, wickelte das Skalpell in Handtuchpapier und trug es in einen der zahlreichen überquellenden Müllsäcke. Selbst wenn es gefunden würde, würde niemand einen Zusammenhang zu ihr herstellen. Wieder auf dem Festplatz holte sie sich einen Kaffee. Kurz darauf traf ihr Blick auf Julians grüne Samtaugen. Rom, wir kommen, dachte sie noch. Dann zerriss ein markerschütternder Schrei das friedliche Treiben und nichts würde mehr sein wie es war.

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