Freitag, 30. Juni 2017
Am Anfang war das Wort
Annegret: - Oh Gott! Wo bin ich? Was ist passiert? Ich kriege keine Luft! Hilfe! Wieso hört mich keiner? Wieso höre ich mich nicht einmal selbst? Ich kann nicht sprechen! Mein Rücken tut so weh. Meine Beine sind so kalt, so kalt, dass ich sie kaum noch fühlen kann. Ist das der Tod? Es ist so eng und so dämmrig. Irgendwo dahinten ist Licht. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich glaube ich werde ohnmächtig.
Godehard: - Liegt sie etwa unter der Tür? Mein Gott hat das eben gekracht. Und sie macht keinen Mucks. Ist sie ohnmächtig oder tot?
„Annegret? Hörst Du mich?“
„...“
„Annegret, bleib ganz ruhig liegen, ich rufe die Feuerwehr und einen Rettungswagen.“
Annegret: - Wer ist das? Was ist eigentlich passiert? Wo war ich denn eben? Ich kann mich nicht erinnern. -

Kurze Zeit später rückten Feuerwehr und Rettungswagen an. Eine tonnenschwere Schiebetür, die man in den Siebzigerjahren nachträglich im Gemeindesaal eingebaut hatte, um den Raum im Bedarfsfall teilen zu können, war aus der Schiene gesprungen und hatte Annegret Grotjohann unter sich begraben. Geistesgegenwärtig hatte Godehard Fischer sofort den Rettungsdienst alarmiert und beobachtete nun völlig atemlos, wie die Tür mit Hydraulikhebern und Luftkissen von der hilflosen Frau gehoben wurde, bis die Sanitäter schließlich an die Schwerverletzte herankamen.

Sie lebte noch, schien auch ansprechbar, auch wenn sie selbst nicht sprach, aber in ihren Blicken waren Reaktionen zu erkennen. Der Kopf schien unversehrt geblieben zu sein, vermutlich verhinderte der Schock ihre Sprachfähigkeit. Die Sanitäter verbrachten die Verletzte in den Rettungswagen, die Feuerwehr machte sich daran, nach der Unfallursache zu forschen.
„Wie furchtbar.“, sagte Godehard Fischer, der noch immer kreidebleich im Gesicht war. Niemand hatte sich bisher um ihn gekümmert, dabei stand auch er offenkundig unter Schock. Einer der Feuerwehrleute überredete ihn, sich wenigstens zu setzen und ein Glas Wasser zu trinken. Fischer begann drauflos zu reden und der Feuerwehrmann hörte zu.
„Gerade eben hat sie noch hier gesessen. Und Sie ist eine Person mit so einer bewegten Lebensgeschichte. Zwanzig Jahre war sie Pfarrfrau in Unterhutzingen, eine glückliche dreifache Mutter, die in ihrer Lebensrolle aufging, da wurde ihr Ehemann plötzlich und unerwartet Opfer eines Verkehrsunfalls. Sechs Jahre lang hat er im Koma gelegen, bis er vor vier Jahren schließlich starb. Sie hat sich allein um die Zukunft ihrer Kinder gekümmert, ihren Mann täglich besucht und halbtags als Erzieherin gearbeitet. Als er starb, waren die Kinder in ihrem eigenen Leben angekommen und sie musste die Leere ausfüllen. Damals ist sie zu uns gestoßen, zu unserer Schreibwerkstatt. Mit kurzen Texten über Trauer im Alltag hat sie angefangen. Irgendwann entwickelten sich Geschichten daraus, manche davon wurden zu Gegenständen für Predigten. Mittlerweile verfasst sie ganze Romane. Zwei hat sie schon veröffentlicht und gar nicht mal so erfolglos. Und nun verpasst das Leben ihr den nächsten Rückschlag.“
Der Feuerwehrmann holte ein zweites Glas Wasser.

Der Rettungswagen raste über die Landstraßen. Immer wieder kam Annegret kurz zu Bewusstsein. Sie sah sich selbst im Sandkasten und hatte plötzlich das Gefühl von mit Sand panierter Katzenscheiße an der Hand. Auch der Geruch kroch ihr in die Nase. Ihre Beine schmerzten vom Fangen Spielen auf dem Hof der Grundschule. Die Bilder wechselten in rasantem Tempo: Mutters Geburtstagsfeiern mit Ananas-Sahne-Torte, Kindergottesdienst und das absurde Gefühl, Schuld am Kreuzestod Jesu zu haben, Radtouren durch Kornfelder, sittsame Geburtstagsfeiern mit Erdbeerbowle, wüste Feten in Scheunen und Garagen, Michael, die erste große Liebe, Dietrich mit seinen warmen Augen und den großen Händen. Cordelias Geburt, Jobst und Mariola, Erdbeertorte mit Sahne auf den blauen Bunzlauer Tellern, Sommerwind, Novembernebel. Cordelias Abiturfeier. Die Nachricht von Dietrichs Unfall. Dietrich an den lebenserhaltenden Geräten. Cordelias Auszug, Mariolas Konfirmation, Jobsts Abiturfeier, Dietrichs Beerdigung und dann war da nur noch Greta Johann, Greta Johann, „Rosentau“ von Greta Johann, „Liebe im Schatten“ von Greta Johann, Stifte, Zettel, Kladden, Geschichten, Laptop, Verlagspost, Greta Johann, ich bin Greta Johann.

Godehard Fischer ließ den Vormittag Revue passieren. Ausgerechnet heute war Annegret so guter Dinge gewesen. Ihr aktueller Roman stand kurz vor der Fertigstellung. Heiner hatte gemeint: „Ach Annegret, du hältst uns doch auch nur noch aus Mitleid die Treue. Du spielst doch mittlerweile in einer ganz anderen Liga.“
Roswitha hatte sauertöpfisch drein geblickt und auf Annegrets Reaktion gelauert. Sie ertrug es nur schwer, dass die stämmige Witwe, die weder beruflich noch optisch etwas hermachte, im literarischen Umfeld so außerordentlich erfolgreich war, während sie selbst, die sich in ihrer Zartheit und der geschmackvollen Art sich zu kleiden, durchaus für eine aparte Erscheinung hielt und die ja auch als Gymnasial-Lehrerin für Englisch, Deutsch und Literatur eine gewisse Expertise geltend machen konnte, kaum wahrgenommen, ja geradezu ignoriert wurde.
Aber diplomatisch und frei von jedwedem Argwohn hatte Annegret geantwortet: „Ich habe hier angefangen, weil ich Kontakt zu netten Menschen gesucht habe und ich bleibe dabei, weil ich diesen Kontakt weiter pflegen will. Wenn dabei ein weiteres Gefühl im Spiel ist, ist das sicher kein Mitleid, sondern vielmehr Dankbarkeit und Wertschätzung.“
Sigmar, der sich selbst als unromantischen Realisten bezeichnete, sagte: „Du bist einfach zu gut für diese Welt.“
„Für die Welt kann man gar nicht zu gut sein.“, wandte die redselige Karin ein. Im Geiste bezeichnete Godehard sie immer als das Maschinengewehr des Literaturkreises. Er betete regelmäßig, dass sie nie auf die Idee kam, eine öffentliche Lesung anzubieten. Sie sprach so schnell, dass einem schwindelig davon wurde. So auch jetzt. „Also das ist doch ganz toll, wenn wir uns als Gruppe gegenseitig so wichtig sind wie Angehörige einer Familie, dass uns ganz egal ist, ob uns das bei unserem Schreiberfolg weiterbringt. Wir sind ja schließlich eine Gruppe der Kirchengemeinde, da benutzt man sich nicht gegenseitig, sondern unterstützt sich und sieht sich als Gemeinschaft. Und ich finde, Annegrets Erfolg ist auch unser Erfolg. Das soll nicht heißen, dass Annegret das nicht auch ohne uns hätte schaffen können, aber wir waren die ganze Zeit an ihrer Seite und sie war die ganze Zeit an unserer Seite und hat uns an ihrem Leben teilhaben lassen und das ist doch toll.“
„Also ich würde jetzt gerne die Vorleserunde fortsetzen.“, erklärte Gudrun resolut. „Ich bin nämlich hier, weil es mir Spaß macht, zu hören, was die anderen geschrieben haben und meine Texte vorstellen zu können. Seelenmassage könnt ihr hinterher in der Eisdiele betreiben.“
„Ich glaube, ich bin als nächste dran.“, meinte Livia. Als niemand widersprach fuhr sie fort: „Ich habe heute ein Gedicht mitgebracht:

Glaube
Ich glaube was ich sehen kann,
doch hat das Fuß und Hand?
Wirkt eine Illusion real,
täuscht sich auch mein Verstand.

Das, was logisch ist, das stimmt.
Geschenk der Wissenschaft.
Aber woher weht der Wind,
wenn eine These fehlerhaft?

Ich glaube, was ich fühlen kann:
Wärme, Nähe, Trauer, Glück.
Etwas, das ich von Gott bekam,
das gebe ich ihm gern zurück."

Das Reimen, wollte Livia nicht so recht gelingen, fand Godehard. Da konnte ihm niemand in der Gruppe das Wasser reichen, nicht einmal Annegret, die machte ja mehr in Prosa. Was Annegret wohl gerade dachte?

Annegret war sich noch immer nicht im Klaren darüber, was eigentlich mit ihr geschehen war. Sie wusste, wer sie war, hatte ihr Leben kurz Revue passieren lassen und schließlich festgestellt, dass sie sich in ihrem siebten Lebensjahrzehnt befand, eine schnucklige Eigentumswohnung mit Handtuchgarten bewohnte und seit dem Tod ihres Mannes ganz und gar im Schreiben aufging. Ja, sie hatten sich heute Morgen zum Literaturkreis getroffen. Sie erinnerte sich an Roswithas missgünstig lauernden Blicke, nachdem Heiner einen kleinen Flirt gewagt hatte – und an Livias unsägliches Gedicht, die Ärmste, sie glaubte das Schreiben für sich entdeckt zu haben, endlich am Lebensabend zu ihrer wahren Bestimmung gefunden zu haben, aber sie beherrschte literarische Handwerk genauso wenig wie ihre früheren Steckenpferde. Sie hatte sich schon als Solosängerin versucht, als Kochkursleiterin, als Hobbytheologin und als Malerin. Was sie auch anfasste, was dabei herauskam war jedes Mal gnadenlos dilettantisch und nicht einmal mittelmäßig. Doch nicht einmal mit Mittelmäßigkeit wollte Livia sich zufrieden geben und die Gruppe ertrug sie still. Dann war die Zeit irgendwann um gewesen und alle bis auf Godehard und sie selbst waren nach Hause gegangen. Godehard wollte sich noch ein wenig von ihr beraten lassen oder um es deutlicher zu formulieren, sie als kostenlose Lektorin ausnutzen. Sie hatten kurz geredet, dann war er zur Toilette verschwunden und plötzlich war da dieses Krachen gewesen, die plötzliche Dunkelheit und entsetzlicher Schmerz. Irgendetwas hatte sie unter sich begraben. Ein Regal, ein Schrank, oder war da am Ende eine Wand eingestürzt? Sie wusste es nicht.

Godehard machte sich Sorgen um Annegret. Woran genau würde sie sich erinnern? Was hatte sie mitbekommen? Roswithas Missgunst, Livias Neid und Gudruns Desinteresse waren offensichtlich gewesen, aber hatte sie auch gespürt, wie sehr es seine Eitelkeit verletzt hatte, dass sie mit ihren Herzschmerz-Romanen so viel Anerkennung bekam, während er selbst mit seiner hochkarätigen, philosophischen Dichtung zur Bedeutungslosigkeit verdammt war? Machte sie sch am Ende einen Reim darauf, dass die Tür ausgerechnet während seines Toilettengangs aus den Schienen gesprungen war? Hatte sie womöglich gehört, wie er von der anderen Seite dagegen gedrückt hatte? Natürlich hatte er Handschuhe benutzt, wer täte das nicht, aber wenn die Feuerwehr zweifelsfrei feststellte, dass an der Tür manipuliert worden war, dass sie jemand mutwillig aus der Schiene gerissen hatte, durch bewusst falsches Hin- und Herschieben und wenn dann jemand gesehen hatte, dass er bereits zwei Stunden vor Beginn des Treffens im Gemeindehaus war, dann würde er in echte Erklärungsnot kommen und am Ende sein Lebenswerk im Gefängnis beschließen. Er fürchtete sich schon jetzt.
Annegret Grotjohann konnte nie wieder laufen.

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