Freitag, 16. Juni 2017
Terry und der Tote im Wald – ein nicht ganz ernst gemeinter Kurzkrimi der Siebzigerjahre
„Willi, fahr schon mal den Wagen vor.“ Kriminalhauptkommissar Steven Terry musste noch eben telefonische Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft nehmen, bevor er ebenfalls in seinen beigefarbenen Trenchcoat schlüpfte und die Treppen zum Parkplatz hinuntereilte. Unterwegs fuhr er sich noch einmal vorsorglich mit dem statisch nicht aufladbaren Hornkamm durch die schütteren Haare, denn er trat stets äußerst gepflegt auf. Ein einfacher Plastikkamm hätte es indes auch getan, da naturpomadierte Haare, die nur einmal wöchentlich in Kontakt mit den fettbindenden Tensiden eines Shampoos kamen, durch statische Aufladung kaum aus der Form gerieten.
Willi Lüttke wartete pflichtschuldig am Steuer des Dienstwagens mit dem für ihn typischen devoten Gesichtsausdruck. „Hast Du etwas in Erfahrung bringen können, Steven?“, fragte Willi.
„Allerdings.“, erwiderte Terry. „Wir können die Verhaftung vornehmen, wenn er uns in die Falle geht.“
„Wo genau findet die Beerdigung statt?“
„Johannesfriedhof, Mittelgang. Nicht zu verfehlen.“
„Na dann los.“
Mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und versteinerten Gesichtern wappnete die Trauergemeinde sich gegen den eisigen Wind, der hin und wieder von Sprühregen begleitet wurde. Die Männer trugen überwiegend schwarze Regenmäntel zum eleganten Anzug, nur wenige waren in kurze Popeline-Jacken gewandet. Die Damen litten entsetzlich unter dem scharfen Wind, waren ihre Beine doch meistenteils mit zarten Seidenstrümpfen bekleidet, die auch nicht von den Mänteln bedeckt wurden, weil die aktuelle Mode ihnen einen kurzen Schnitt aufzwang.
„So ein Sauwetter und das Anfang Mai.“, fluchte Willi Lüttke.
Gerlinde Winkler hatten sie bald ausgemacht. Die aparte Erscheinung, die über dem schwarzen Etui-Kleid nur eine Jacke aus Walkstoff trug, dazu einen Hut auf den hochgesteckten Haaren, das Gesicht hinter einem Schleier aus schwarzem Tüll verborgen, war die fünfte in der Reihe der Kondolierenden. Roman Winkler dagegen entdeckten sie nicht. Hatte er sich etwa bereits aus dem Staub gemacht? Das Geld dafür stand ihm unweigerlich zur Verfügung.
Um nicht pietätlos zu wirken, warteten sie ab, bis Gerlinde Winkler eine Schaufel Erde ins Grab geworfen und der Ehefrau des verstorbenen Pfarrers kondoliert hatte. Als sie außer Hörweite der Angehörigen war, kamen sie auf sie zu : „Guten Morgen, Frau Winkler“, sprach Steven Terry die attraktive Mittvierzigerin an. „Gibt es einen besonderen Grund, dass Ihr Mann heute nicht zur Beerdigung erschienen ist?“
„Keinen besonderen Grund.“, erwiderte sie emotionslos. „Er fühlt sich einfach nicht wohl. Etwas angegriffen von der vielen Arbeit, eine leichte Erkältung, da wollte er bei diesem Wetter nicht im eisigen Wind und Nieselregen stehen. Er ist auch nicht in die Firma gegangen, sondern arbeitet heute ausschließlich von zu Hause aus. Kann ich ihm etwas ausrichten?“
„Nein, das wird nicht nötig sein.“, erwiderte Steven Terry. „Wir werden ihn direkt zu Hause aufsuchen.“
„Brauchen Sie mich auch? Ich bin nämlich zum anschließenden Kaffeetrinken eingeladen.“
„Das ist kein Problem.“, erwiderte Willi Lüttke. „Wir wollen ja nur Ihren Mann sprechen.“

Die Villa der Winklers lag im besten Viertel der Stadt und war vom Friedhof aus fußläufig erreichbar. Im Vorgarten blühte der Rhododendron in leuchtenden Farben, noch wenige Tage zuvor hatte die Sonne aus allen Löchern geschienen und Pflanzen wie Menschen mit ihrer wohltuenden Wärme verwöhnt.
Sie läuteten an der Haustür, die bald darauf von einer Angestellten geöffnet wurde. Fräulein Drexhage, eine altjüngferliche Vollblut-Hausdame der alten Schule geleitete die ihr bereits bekannten Herren ins Wohnzimmer mit der Bitte, sich einen Augenblick zu gedulden. Die Villa stammte aus dem vergangenen Jahrhundert, die Einrichtung dagegen war modern und sehr exklusiv. Die kugelrunden weißen Deckenleuchten schienen über dem gläsernen Couchtisch zu schweben wie schwerelose Himmelskörper. Die schnörkellosen, mit weißem Veloursleder bezogenen Polstermöbel verströmten eine kühle Eleganz, die lediglich durch den weißen Flokatiteppich aufgelockert wurde. Auf einem Beistelltischchen verströmte ein Strauß üppiger Fliederdolden in weiß, hell- und dunkelviolett einen betörenden Duft.
Die Wohnzimmertür öffnete sich und der Maschinenteile-Fabrikant Roman Winkler trat ein. Zur schwarzen Hose trug er ein cremefarbenes Hemd, anstelle einer Krawatte einen weinroten Seidenschal elegant um den Hals gelegt und in das offene Hemd eingesteckt, dazu eine leichte Kaschmir-Strickjacke im selben Farbton. Sein volles, dunkles, von Silberfäden durchzogenes Haar umspielte in ausladenden Wellen sein Solarium-gebräuntes Gesicht. Es war nicht zu übersehen, dass er trotz des Aufwandes, den er um sein Äußeres betrieb, dem Alkohol regelmäßig zusprach. So auch jetzt. „Guten Tag, die Herren.“, begrüßte er die Beamten mit sonorer Stimme. „Kann ich Ihnen bei diesem entsetzlichen Wetter einen wärmenden Cognac zur Aufmunterung anbieten?“
„Nein danke.“, erwiderte Steven Terry. „Wir sind im Dienst.“
Winkler goss sich selbst jedoch eine große Portion aus der geschliffenen Karaffe in den gewaltigen Cognacschwenker, bat die Beamten Platz zu nehmen, setzte sich dann selbst in einen Thron-artigen Sessel, schlug die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Er ließ das Branntwein-Getränk durch schwingende Bewegungen seiner rechten Hand im Glas kreisen und betrachtete versonnen das Farbenspiel in der goldbraunen Flüssigkeit. „Womit kann ich Ihnen dienen, meine Herren?“, fragte er.
„Herr Winkler.“, begann Steven Terry die Befragung. „Wir wissen mittlerweile von Ihrem Verhältnis mit Gabriela Watermann, die Sie im Tennisclub kennengelernt und regelmäßig getroffen haben.“
„Der Gentleman genießt und schweigt.“, erklärte Roman Winkler mit einem süffisanten Lächeln und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.
„Ja“, entgegnete Terry streng. „Vor allem gegenüber der Ehefrau, von deren Wohlwollen ihre gesamte Existenz abhängt, denn die Firma ist ja das Erbe Ihrer Frau und im Falle einer Scheidung bliebe nicht viel für Sie übrig.“
„Das ist richtig.“, erwiderte Winkler. „Aber aus welchem Grund sollten meine Frau und ich uns scheiden lassen? Unsere Ehe verläuft absolut harmonisch.“
„Und wenn Ihre Frau von der Affäre erfährt?“, hakte Willi Lüttke nach.
„Dann wäre sie verständlicherweise etwas verärgert, aber das ist nichts, was man nicht mit ein paar romantischen Abenden und einem kleinen Urlaub wieder geradebiegen kann. Haben Sie vor, mich bei ihr anzuschwärzen?“
„Keineswegs.“, erwiderte Terry. „Aber ich muss Sie jetzt noch einmal fragen: Wo genau waren Sie am Mittwoch Abend zwischen 18.00 und 22.00 Uhr? Und ich rate Ihnen, unbedingt die Wahrheit zu sagen.“
„Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Bis etwa 18.30 Uhr war ich in der Firma. Von dort habe ich ein Spritztour unternommen. Ich bin über die Dörfer bis nach Herford gefahren, habe in irgendeinem Imbiss ein halbes Hähnchen gegessen und bin dann wieder eine andere Strecke zurückgefahren. Dabei habe ich mich ein wenig verirrt und war erst gegen 22.30 Uhr wieder zu Hause.“
„Mit welchem Wagen?“
„Mit dem Citroën.“
„Sehen Sie.“, sagte Terry ruhig. „Und damit haben Sie nun quasi den Mord an Pfarrer Robert Leuschner gestanden. Ich sage Ihnen jetzt, wie es war, Herr Winkler. Sie hatten seit einiger Zeit ein Verhältnis mit der neunzehnjährigen Gabriela Watermann. Bei einem ihrer Treffen in eindeutigen Posen wurden Sie von Fräulein Watermanns drei Jahre jüngeren Schwester Saskia beobachtet. Saskia Watermann hatte als Kindergottesdienst-Helferin großes Vertrauen zu Pfarrer Leuschner und berichtete ihm von ihren Beobachtungen und den Seelennöten, die das bei ihr auslöste. Leuschner stellte Sie zur Rede und Sie schlugen vor, das Ganze in Ruhe zu besprechen, aber so, dass ihre Frau nichts davon mitbekäme. Sie verabredeten sich mit dem Pfarrer für Mittwoch Abend in Ihrer Jagdhütte im Mindener Wald. Das Telefongespräch fand am Sonntag statt, am Montag meldeten Sie ihre Jagdflinte als gestohlen. Damit der Diebstahl glaubwürdig erschien, sind Sie selbst noch am Sonntag in Ihre Jagdhütte eingebrochen und haben die Flinte an einem sicheren Ort in der Nähe versteckt. Am Mittwoch verließen Sie gegen 18.30 Uhr die Firma in Ihrem Citroën. Sie fuhren jedoch nicht herum, sondern direkt zu Ihrer Jagdhütte, wo Sie gegen 19.30 Uhr mit dem Pfarrer verabredet waren. Sie holten die Flinte aus dem Versteck und legten sich in der Hütte auf die Lauer. Was Ihnen nämlich entgangen ist: Saskia Watermann war zu dieser Zeit mit einer Freundin zu einer Radtour unterwegs. Gegen 18.50 Uhr sah sie zufällig Ihren Wagen auf dem Weg zur Jagdhütte. Sie verdächtigte Sie, mit ihrer Schwester unterwegs zu sein und folgte dem Weg, den Sie mit dem Auto gefahren waren. Die Mädchen schlichen sich kurz vor der Hütte in den Wald und beobachteten, wie Sie, der bereits einige Minuten vor ihnen angekommen war, die Hütte verließen und in den hinteren Teil des Waldes verschwanden. Da Saskia es für unwahrscheinlich hielt, dass ihre Schwester mitten in den Tannen auf ihren Liebhaber wartete, kehrten sie und ihre Freundin unverrichteter Dinge zurück. Sie holten inzwischen die Flinte aus dem Versteck und legten sich unweit der Hütte auf die Lauer. Als der Pfarrer schließlich wie verabredet vorfuhr und aus seinem Wagen stieg, schossen Sie ihn nieder. Sie hoben die Leiche auf den Beifahrersitz und fuhren zu einer anderen Stelle im Wald, wo Sie den Toten bestatteten. Dann fuhren Sie mit diesem Wagen zu einem weiteren Ort im Wald, etwa fünf Kilometer entfernt, an dem Sie die Flinte vergruben, die mittlerweile gefunden wurde. Schließlich ließen Sie den Wagen in einer der Ihrer Hütte nahegelegenen Tongruben versinken, in der Hoffnung, er würde nie gefunden. Sie liefen mehrere Kilometer zu Fuß zur Hütte zurück, entsorgten wie auch immer die Kleidungsstücke, an denen sich Blut- und Schmauchspuren befanden und fuhren zurück nach Hause, wo sie gegen 22.30 Uhr ankamen. Wie uns Ihre Frau berichtete, seien Sie bei Ihrer Ankunft direkt hungrig über den Kühlschrank hergefallen – nach einem halben Hähnchen gegen 19.30 Uhr wäre das wohl kaum der Fall gewesen. Und jetzt bin ich gespannt auf Ihre Ausreden, Herr Winkler.“
Roman Winkler leerte den Cognacschwenker in einem Zug. „Man muss wissen, wann man verloren hat.“, erklärte er gelassen. „Nur so kann man in Würde verlieren. Wenn ich bitte noch eben meinen Anwalt informieren dürfte? Danach stehe ich voll zu Ihrer Verfügung.“

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