Montag, 4. November 2019
Nie zweimal in diesselbe Scheiße
Im Licht des Deckenstrahlers wirkte B. H.s Gesicht noch wächserner als im Scheinwerferlicht oder war es teigig? Der Kommissar konnte sich nicht so ganz entscheiden, es war schon bleich wie Hefeteig, aber aufgedunsen war der Mann nicht, einfach nur farblos, genauso wie seine Gletschereis-blauen Augen. Wenn man geradewegs in die hineinsah, fing man sofort an zu frieren.
Die Hände hatte er betont entspannt im Schoß der übereinander geschlagenen Beine abgelegt. Sehr gepflegte Hände, blitzsauber manikürte Nägel, nein der Herr H. machte sich die Finger nicht schmutzig, das überließ er seinen haarlosen Ungeheuern. Aber zwei bekannte Politiker waren tot, und die Aggression war ohne Zweifel von rechts gekommen. Und B.H., der auf Ossi machte, obwohl er im Westen aufgewachsen war, wenn auch kein Österreicher, der auf Deutscher machte, hatte zumindest deutlich dazu beigetragen, den Hass zu schüren, der in diesen grausamen Bluttaten gipfelte.
„Herr H.“, begann der Kommissar das Verhör. „In Ihren Veröffentlichungen fordern Sie immer wieder die – ich zitiere: „Säuberung Deutschlands von kulturfremden Menschen.“ Sind diese beiden Todesfälle der Anfang?“
„Wenn Sie das so sehen.“, erwiderte B. H. „Ich habe allerdings nichts damit zu tun.“
„Nein, natürlich nicht. Die Tatsache, dass einer der beiden über einen Migrationshintergrund verfügte, ist vermutlich auch nur dem Zufall geschuldet, nicht wahr?“
„Entschuldigen Sie bitte, aber wenn in England plötzlich ein Pakistani einen wichtigen Ministerposten besetzen würde, käme es da auch zu Ausschreitungen. Man will sich doch in seinem eigenen Land nicht von einem Zugereisten sagen lassen, was man zu tun und zu lassen hat.“
„Aber die Menschen, die zu uns gekommen sind, sind doch jetzt da und gehören dazu, das sind doch keine Zugereisten.“
"Neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein groß angelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein."
„Ach, und das setzen Sie durch, indem Sie Migranten ins Nirvana schicken?“
„Nein, aber ich gebe zu, dass es wohl nur mit Gewalt zu schaffen ist. In der erhofften Wendephase stehen uns harte Zeiten bevor, denn umso länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft."
„Ach, und die erhoffte Wendephase, das ist die absolute Mehrheit Ihrer Partei?“
B.H. zuckte mit den Schultern und lächelte süffisant. Dann sagte er: "Vor allem eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben: Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen."
„Natürlich, die grundguten sauberen Deutschen müssen die Mittel heiligen, wenn sie dem Zweck der Volksgesundheit dienen wollen und dann kommen sie nicht drum herum, sich die Finger schmutzig zu machen, nicht wahr? Ein bisschen, Folter hier, ein bisschen Mord und Totschlag da, da bleibt kein Auge trocken, oder?“
„Man wird, so fürchte ich, nicht um eine Politik der wohltemperierten Grausamkeit herumkommen.“
„Wohltemperiert? Waterboarding bei angenehmen 37 Grad? Schlafentzug mit Katzenscheiße-Espresso? Todesschuss direkt zwischen die Augen? Glauben Sie tatsächlich, zur Erreichung Ihrer politischen Ziele solche Maßnahmen rechtfertigen zu können?“
„Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln. Die Verantwortung dafür tragen dann diejenigen, die die Notwendigkeit dieser Maßnahmen mit ihrer unsäglichen Politik herbeigeführt haben."
„Ach, das wird ja immer besser. Klingt verdächtig nach Minirock-Argument. Wir foltern und morden ja nur, weil man uns provoziert hat, oder was?“
„Ich halte es mit Hegel. 'Brandige Glieder könnten nicht mit Lavendelwasser kuriert werden.'.Die Regierung ist lediglich und allein der autochthonen Bevölkerung verpflichtet.“
„Der autochthonen Bevölkerung verpflichtet? Übersetzt also der ethnisch-deutschen?“
„Genau. Und dies müssen wir notfalls mit Grausamkeit durchsetzen. Ich stelle fest, dass wie leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind mitzumachen. Ich denke an einen Aderlass.“
„Und wie sieht das dann so ganz praktisch aus?“
„Diejenigen Deutschen, die unseren politischen Zielen nicht zustimmen, werden aus unserem Deutschland ausgeschlossen werden. Ich trete für die Reinigung Deutschlands ein. Mit starkem Besen sollten eine feste Hand und ein Zuchtmeister den Saustall ausmisten.“
„Und wenn Sie dann fertig sind mit Ausmisten, was kommt dann?“
„Dann geht es wieder aufwärts.“
„Aufwärts mit wem?“
„Mit denen, die dann da sind.“
„Wie viele werden das noch sein?“
„Das ist irrelevant. Entscheidend ist die Qualität, nicht die Quantität.“

Der Kommissar stellte angewidert fest, dass er es offensichtlich mit einem politisch gefährlichen Faschisten zu tun hatte, vollkommen geistesgestört, aber brandgefährlich, gerade weil er so wahnsinnig war, einer der voranmarschierte ohne Rücksicht auf Verluste, einer dem keine Entgleisung peinlich war, weil er seine Entgleisungen für einen Ausdruck der Stärke hielt.
Nur die Morde, die konnte er ihm ums Verrecken nicht nachweisen, obwohl er dafür verantwortlich war wie kaum ein anderer. Stattdessen riskierte er sein Leben, denn wenn die dumpfen Rassisten seines blöden Volkes diesem Faschisten zur Macht verhalfen, dann wäre sein Kopf einer der ersten die rollten. Aber darum war er Polizist geworden, damit die Verbrecher dort landeten, wo sie hingehörten und so lange er sein Amt ausübte würde er sich mit seiner ganzen Kraft dafür einsetzen.

Die Kollegin aus der IT-Abteilung trat überraschend ein. Sie fragte ganz unbefangen: „Kannst du mir mal eben beim Kaffeeautomaten helfen? Diese Teufelsmaschine verweigert mal wieder die Auslieferung.“
Irgendetwas in ihrem Gesicht passte nicht zu ihrem sorglosen Tonfall, das hielt ihn davon ab, sie anzufahren, was zum Teufel ihr einfiele, ihn mitten im Verhör mit solchen Kinkerlitzchen zu behelligen. Stattdessen stand er auf und erwiderte charmant: „Na, dann wollen wir dem streikenden Roboter mal seine Rechte vorlesen.“ Er folgte der Kollegin auf den Flur. Draußen hielt sie ihm wortlos ein Protokoll unter die Nase. Ein siegesgewisses Lächeln grub sich in seine Wangen. Endlich hatte er B.H. an den Eiern.

ENDE

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Freitag, 25. Oktober 2019
Der dritte Mann
Leise fiel der sanfte Regen auf das glänzende Kopfsteinpflaster im historischen Kern der westfälischen Provinzkleinstadt. Das Wetter gab dem Spiel den besonderen Drive, sorgte für eine authentische Atmosphäre.

Hin und wieder huschte jemand um die Ecke, mal im Schein einer Straßenlaterne, mal im Schatten eines windschiefen Fachwerkgiebels. Sie befand sich auf dem Weg in den amerikansichen Sektor, eine Streicholzschachtel in der Tasche, die zehn Ampullen Insulin darstellte, und einen Ausweis, der unter gar keinen Umständen von der Polizei kontrolliert werden durfte, denn dann war nicht nur sie verloren, sondern auch das Spiel vorbei. Ihr Wohnort stand darin, Nonnengasse 12, sowjetischer Sektor, Wien, Hauptstadt der Republik Österreich. Und ihr Name: Harry Lime.

Sie hatte Berengar schon seit einer halben Stunde nicht mehr gesehen und sie wusste auch immer noch nicht, ob er ein heimlicher Abnehmer, ein unbescholtener Bürger oder ein verdeckt ermittelnder Polizist war. Zu ihrer Bande gehörte er jedenfalls nicht, die Insulinschmuggler hatten sich bereits sämtlichst gefunden. Ein Jammer, sie wäre gern mit ihm durch die verregneten Gassen gehuscht, hätte mit ihm Schutz vor dem stärker werdenden Regen gesucht, unter irgendeinem Vordach, im Schatten eines Baumes, wo man sich dicht aneinanderdrängen musste, damit man trocken blieb, so dass man den anderen riechen konnte, seinen Atem hören, vielleicht sogar seinen Herzschlag spüren konnte. Berengar, der ihr mit seinen unglaublichen Augen, seinen wilden Locken und seinen geschmeidigen Bewegungen schon lange das Herz genommen hatte. Die Schulungswoche war bald um, nur noch drei Nächte, dann würden sie sich 10 Tage lang nicht sehen – wenn nicht vorher etwas Entscheidendes passierte.

Vor der Apotheke stand Luise. Sie wirkte gelangweilt wie immer. Das war sicher keine Strategie. Vermutlich haderte sie gerade wieder mit ihrem Schicksal, eine Rolle zugelost bekommen zu haben, die sie zu Langeweile und Passivität verdammte. So wie sie da herumstand, ausgerechnet vor der Apotheke, war sie sicher keine Polizistin.
„Wohnst du hier?“
„Ja, hier ist mein Geschäft. Nur scheiße, dass es durchs Dach regnet.“
„Ja, die Reparatur ist teuer. Ich hätte da etwas, in das du investieren könntest. Ich habe es günstig abzugeben und du könntest es gewinnbringend verkaufen.“
„Wieviel?“
„Zweihundert für eine Packung.“
„Meinetwegen.“
Luise zog einen Schein aus dem Umschlag und das „Insulin“ wechselte die Besitzerin. Harry Lime eilte zurück zum Vorratslager; es gab noch eine Menge zu verticken.

In der Kleinstadt klappten die Bewohner pünktlich zur Tagesschau die Bürgersteige hoch, zumindest im Herbst, wenn es früh dunkel wurde. Es war unheimlich, so als herrsche Ausgangssperre und man tue etwas Verbotenes. Im sowjetischen Sektor des Spielgeländes war es noch dunkler und unübersichtlicher als im amerikanischen. Einen britischen und französischen hatte die Spielleitung eingespart, um die Angelegenheit nicht unnötig kompliziert zu machen. Sie hatte als Lager eine Spitzdachhütte auf dem Kinderspielplatz gewählt, der war besonders dunkel und die Streichhölzer lagen im Trockenen.

Sie betrat die Hütte, zog eine Schachtel aus der Papiertüte und wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als sie von hinten an den Schultern festgehalten wurde. Sie sah sich kurz um und erkannte im Restlicht Berengars Silhouette. Er umschloss ihre Taille mit seinen Armen und schmiegte seine Wange an ihre. Er roch nach Zigaretten. Hatte sich wohl von Adrian zum Rauchen anstiften lassen. Das würde sie ihm ganz schnell wieder austreiben. Er küsste ihr Ohr. Sie kicherte vor Verlegenheit und vor Erregung.
„Kau mir nicht das Ohr ab, du unbescholtener Bürger.“ raunte sie.
Er schwieg, leckte über ihren Hals, seine Hände wanderten zu ihren Brüsten und ihr entfuhren wonnige Seufzer. Dann öffnete er den Reißverschluss ihrer Jacke, knöpfte ihre Hose auf und ließ seine Hand in ihren Schrit gleiten.
„Nicht hier, Berengar“, flüsterte sie. „Nicht so.“
Mit einem Ruck riß er ihr Jeans und Slip herunter, sie wollte sich aus der Umarmung lösen, doch er hielt sie mit eisernem Griff umschlossen, nestelte an seiner eigenen Hose und schon wenig später spürte sie, wie er sich daran machte, in sie einzudringen.
So hatte sie sich ihr erstes Mal nicht vorgestellt und ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie jetzt entschieden Nein sagte oder sogar weglief, dann musste er ja denken, dass sie ihn nicht wollte. Er würde sie für eine prüde Ziege halten, wenn sie nicht mitmachte. Er war immerhin schon siebzehn, hatte erwachsene Bedürfnisse. Wenn sie die nicht befriedigen konnte, würde er sich eine andere suchen.
Es tat weh. Es fühlte sich falsch an, demütigend und schmutzig. Er keuchte zuerst leise, dann heftiger, aber da war nichts Liebevolles, nichts Leidenschaftliches, sie fühlte sich benutzt, wie ein heruntergeschlungener Imbiss gegen den schlimmsten Hunger.
Er wurde schnell fertig, schubbste sie rüde von sich, so dass sie vornüber fiel. Sie hörte noch wie er eilig seinen Reißverschluss zuzog und dann weglief. Als sie wieder auf den Beinen war und ihre Hose geschlossen hatte, war er bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Sie zitterte am ganzen Körper, wollte schreien, heulen, um sich schlagen, konnte aber nur dastehen und vor sich hin starren.

Zwei Gestalten kamen auf sie zu. Eine davon beschleunigte den Schritt, dann begannen beide zu laufen. Sie wollte fliehen, aber sie konnte nicht. Was auch immer sie mit ihr vorhatten, es würde passieren. Sie erkannte Yannic zuerst. Er schlug ihr mit der flachen Hand auf die Schulter und bellte: „Ausweiskontrolle!“
Hinter ihm trat der zweite Polizist in Erscheinung: Berengar!
Wie ferngesteuert zog sie ihren Ausweis aus dem Umschlag.
„Hey, wir müssen doch erst würfeln.“, protestierte Yannic.
„Ach ja.“, erwiderte sie, nahm den Würfel, den sie wie alle anderen bei sich trug und würfelte auf der Tischtennisplatte. Der Würfel zeigte vier Augen. Gar nicht mal schlecht.
Yannic hielt dagegen. Fünf Augen. Sie zeigte Yannic ihren Ausweis und vermied es, Berengar anzusehen. Berengar warf einen Blick auf das Papier und pfiff leise durch die Zähne: „Harry Lime.“, sagte er „Spiel vorbei.“
„Ja.“, erwiderte sie stoisch. „Spiel vorbei.“
„Ist alles okay mit dir?“ fragte Berengar besorgt und sie wagte einen Blick. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Berengar eine Latzhose trug.

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Sonntag, 20. Oktober 2019
Zwei in der Falle
Eins

Sogar im Himmelsgrau seh ich noch Dein Gesicht
und dabei weiß ich ganz genau, es geht ja nicht.
Mich friert, der Herbst, er steckt mir in den Knochen
und lähmt mich, bin sogar zu faul, mir Tee zu kochen.

Er legte den Kugelschreiber beiseite und zog sich die zottige Acryldecke um die Schultern. Es knisterte und das ehemals flauschige Plastik verhielt sich zur aufsteigenden Kälte wie der Cheeseburger zum Hunger – es versprach weitaus mehr, als es halten konnte, befriedigte nur scheinbar und steigerte das Verlangen. Die Füße blieben eisig und das Frösteln kroch schon wieder die Beine hinauf; in die Schenkel, in den Schoß in die Brust. Er hätte sich rühren müssen, aber jede Bewegung tat weh und machte das Frösteln noch bewusster.

Mit Fünfzehn hatte er beim Schreiben solcher Vierzeiler noch das heftige Pochen seines Herzens gespürt und heftig atmend die Augen geschlossen und deutlich geahnt, dass es nun gewiss bald passieren würde.

Mit Fünfundzwanzig hatte er nur noch selten Vierzeiler geschrieben – und wenn, dann trieften sie schon vor Frustration und Pessimismus.

Mit Fünfunddreißig waren die Vierzeiler ganz aus seinem Leben verschwunden, er kämpfte sich mit letzter Kraft durch die Antrengungen des Alltags.

Mit Fünfundvierzig hatte er wieder angefangen. Um seine Traurigkeit nicht ständig herausschreien zu müssen, verlegte er sich aufs Herausscheiben, etwa so, wie dreißig Jahre zuvor, nur mit weniger erwachender Erotik und dafür mehr Klage über Verlust.

Mit Fünfunffünfzig wagte er es nicht mehr, noch etwas vom Leben zu erwarten außer einer beheizten Unterkunft, bekömmlicher Verpflegung, Kleidung, Sicherheit und ein wenig Fernsehunterhaltung. Aber der Fünfzehnjährige steckte noch immer in ihm mit seiner unbändigen Sehnsucht, dem Schmerz der Entbehrung und dem Verlangen nach Erlösung.

Sie würde nicht einfach kommen, die Erlösung, das war ihm längst klar. Er musste schon höchstselbst dafür sorgen, doch er wusste nicht wie. Klar, am einfachsten wäre es, etwas Passendes einzuwerfen oder von einer hohen Brücke zu springen oder von einem Hochhaus. Aber noch waren seine Hemmungen zu groß, seinen Mitmenschen die Sauerei einer suzidierten Leiche zu hinterlassen. Es wäre ihm peinlich gewesen, auch wenn ihm die Reaktionen erspart geblieben wären, weil er ja schon tot war, aber wer konnte wissen, wie lange sich die Seele noch im Umfeld des Leichnams heruntrieb und was man das alles so mitbekam. Es musste einen anderen Weg geben.

Zwei

Wenn man als Objekt fremder Begierden zwar nichts weiß von seinem „Glück“, es aber ahnt und es lieber nicht wissen würde, nicht einmal ahnen, weil man einfach nur seine Ruhe haben will oder zumindest das eigene Begehren auf gänzlich andere Ziele ausgerichtet hat, dann ist das ein gottverdammtes Scheißdilemma; zumindest, wenn einem das begehrende Subjekt irgendwie ein bisschen ans Herz gewachsen ist, gerade mal so sehr, dass man es nicht verletzen möchte, auf keinen Fall, aber eben auch nicht angefasst werden will, zumindest nicht so, wie das Subjekt es gern hätte.
Wenn dann am Sonntag immer wieder das Telefon klingelt, man selbst nicht an den Apparat geht und mitbekommt, dass am anderen Ende gleich wieder aufgehängt wurde, wenn man sich dann beim Joggen im Park von einem heftigen Atem verfolgt fühlt, dann kann es passieren, dass man die Kontrolle verliert, nicht mehr denken kann und nur noch handelt.

Eins

Als er am Dienstag in der Zeitung las, dass im Stadtpark ein erschlagener Jogger aufgefunden wurde, griff er direkt zum Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste, wartete mit von pochendem Herzen nahezu berstenden Adern darauf, dass abgehoben wurde und seufzte vor Erleichterung, endlich wieder die geliebte Stimme zu hören. Mehr war nicht drin.

Zwei

Wenn man glaubt, seinen Verfolger abgehängt zu haben, möglicherweise mit einer Überreaktion, für die man sich, wenn man Pech hat, vor Gericht verantworten muss, und man dann plötzlich das Gefühl hat, dass er immer noch da ist, dan fragt man sich, ob man nicht vielleicht einen Unschuldigen...

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Freitag, 11. Oktober 2019
schon 1975 - ein Mörder unter uns -
Der folgende Text ist das zweite Kapitel aus dem Roman "Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind" von Cristina Fabry

Der Bus mit der Klasse 3a der Nordhemmer Grundschule bog gemächlich auf den Parkplatz des Zoos Osnabrück ein. Wie ein Sterbender Wal spie er die lärmende Kinderbande aus, von der die ersten schon zielstrebig Richtung Eingang rannten, als Herr Kowalski, der Klassenlehrer sie energisch zurück pfiff.
„So, jetzt stellt euch mal schön alle in einer Zweierreihe auf, damit Euch die Leute an der Kasse auch zählen können, und ihr bleibt ganz dicht hinter mir.“
Die dicke Petra und die rote Cornelia bildeten das erste Paar hinter dem Grundschullehrer. Seine kalkweißen Beine steckten oben in grauen Herren-Shorts mit Bügelfalte und unten in Socken mit in gedeckten Farben gehaltenem Rautenmuster und braunen Ledersandalen. Die langen, schwarzen Haare, die sich sogar auf den blassen Oberschenkeln kringelten, ließen die Mädchen in albernes Gekicher ausbrechen. Herr Kowalski übte sich in souveräner Ignoranz und führte die Kinder zur Kasse, wo er eine Gruppenkarte löste. Dann verkündete er: „Ihr dürft jetzt in Gruppen zu mindestens drei oder auch mehr Kindern durch den Zoo laufen. Wir treffen uns in zwei Stunden, also um halb zwölf am Spielplatz, der ist da vorne. Da könnt ihr dann noch eine halbe Stunde spielen oder zum Kiosk gehen. Um Punkt zwölf sammeln wir uns am Ausgang und gehen gemeinsam zum Bus. Keiner verlässt vor mir den Zoo. Habt Ihr noch Fragen?“
„Herr Kowalski“, meldete sich Henning, „ich habe keine Uhr.“
„Überall im Zoo hängen welche“, erklärte der Lehrer und ansonsten könnt ihr ja auch die anderen Zoobesucher fragen. Sonst alles klar?“
Zustimmendes Gemurmel ertönte.
„Na dann ab mit euch!“
Petra und Cornelia wurden sofort von Nicole angesteuert, Angela und Iris taten sich zusammen und nahmen noch Birgit mit ins Boot. Zu Beginn blieben zunächst alle Kinder auf einem Haufen. Aber während Petra Cornelia und Nicole das unglaubliche Rosa der Flamingos eingehend bewunderten, rannten einige Jungen sofort ins Tropenhaus zu den Schlangen und Echsen, andere zu den Elefanten und Angela, Iris und Birgit sahen sich brav alle Vogelarten an, die der Zoo zu bieten hatte. Beim Elefantengehege trafen sich die beiden Mädchenkleeblätter.
„Guck mal, der kleine Elefant!“, rief Nicole. „Sieht der nicht putzig aus?“
„Ja, der ist wirklich süß.“, bestätigte Cornelia, während Petra mit den Schultern zuckte.
„Sieht doch genauso aus wie die Großen, nur kleiner.“
Eine Elefantenkuh trompetete energisch. Birgit fuhr vor Schreck zusammen und Iris tätschelte ihr zur Beruhigung den Rücken. „Die sind ja eingesperrt.“, beschwichtigte Angela sie.
„Birgit, hast du etwa Angst vor dem Elefanten?“, fragte Petra. „Was machst du erst, wenn du Tiger siehst? Pisst du dir dann in die Hose?“
Birgit schwieg errötend.
„Du bist so gemein.“, tadelte Cornelia Petra, kicherte aber beifällig. Nicole schwieg.
Beim Bärengehege standen Jörg, Andreas, Michael und Eckhart. Sie trommelten sich auf die Brust, um die Bären zu provozieren. Petra baute sich vor den Jungen auf und stemmte die Hände in die stämmigen Hüften. „Habt ihr einen an der Pfanne?“, fragte sie großkotzig. „Das sind doch keine Gorillas.“
„Die Weiber.“, stöhnte Andreas. „Ihr seid doch selber nicht ganz klutendicht.“
„Wo sind eigentlich die Gorillas?“ fragte Michael.
„Das Affenhaus ist da hinten.“, rief Nicole eifrig und mit großen Augen. „Ich weiß das, ich war hier schon mal mit meinen Eltern.
„Na und?“, fragte Andreas blasiert, „Ich war hier schon öfters.“
„Ach“, hakte Nicole nach, „und weißt du auch wie die Bären da heißen?“
„Klar. Die heißen Manni, Tommi und Fridolin.“
„Bist du doof!“, tadelte Nicole ihn. „Das sind Braunbären und Schwarzbären.“
„Und Eisbären.“, ergänzte Eckhart.
„Quatsch!“, widersprach Cornelia. „Die Eisbären sind weiter hinten.“
„Woher willst du das denn wissen, Streuselkuchengesicht?“, fragte Jörg. „Wohnst du hier im Zoo?“
„Nee“, antwortete Cornelia, „aber ich war auch schon öfter mit meinen Eltern hier. Wir fahren nämlich manchmal nach Osnabrück zum Einkaufen und danach noch in den Zoo.“
„Zum Einkaufen?!“, krakeelte Andreas, „das kann man doch auch in Nordhemmern.“
„Aber keine Anziehsachen.“
„Doch, bei Niemanns.“, widersprach Jörg.
Jetzt mischte Petra sich ein: „Da gibt’s doch nur Schlüpfer und Schlipse.“
„Die haben auch Hemden und Hosen.“, widersprach Eckhart.
„Aber was für welche.“, schloss Petra die Diskussion und musterte Eckhart von oben bis unten mit aller ihr zur Verfügung stehender Herablassung. Die Jungen stürmten zum Affenhaus, wo schon die nächsten Opfer auf sie warteten. Während Angela, Iris und Birgit sich still über die faszinierende Menschenähnlichkeit der Paviane auf dem Affenfelsen amüsierten, boten die Jungen die perfekte Parodie der Zwergprimaten. Die Mädchen bemühten sich, sie zu ignorieren, aber echte Affenmännchen duldeten keine Respektverweigerung. „Ey, guck mal!“, brüllte Andreas vor Vergnügen. „Der Affe da vorne hat genauso ‘n roten Arsch wie Angela Kreft!“
Angela trug eine hellrote Cordhose und die Jungen brachen in ein lautstarkes und bewegungsintensives Gelächter Kollektivgelächter aus.
„Aber die da vorne“, rief Jörg, „bei der ist der Hintern genauso dick wie der von Petra Gieseking.“
„Und guck dir mal die Titties an!“, schrie Andreas. „Petra Pavian. Die frisst den anderen Affen bestimmt immer die ganzen Süßigkeiten weg!“
„Doofmänner!“, schnaubte Iris. „Ihr seid doch selber blöde Affen!“
Mit eiligen Schritten zogen die Mädchen weiter zu den Schimpansen und Gorillas. Birgit erklärte: „Mit Jungen, die Arsch und andere schlimme Wörter sagen, soll ich überhaupt nicht spielen.“
„Ach, das mit dem Arsch fand ich gar nicht so schlimm.“, erklärte Angela. „Aber dass sie gesagt haben, dass Petra einen dicken Hintern hat, das war so fies.“
„Und erst recht das mit dem Busen.“, erklärte Iris. „Petra kann doch nichts dafür, dass das bei ihr schon anfängt zu wachsen.“
„Das kann ja auch eine Krankheit sein.“, bemerkte Birgit altklug und alle drei fühlten sich den bösen Jungen moralisch haushoch überlegen, obwohl sie sich heimlich, jede für sich ein bisschen freuten, dass Petra und nicht sie die Zielscheibe dieser Schmähungen war, zumal Petra ihnen gegenüber nicht mit kleinen Demütigungen geizte. Aber sie war auch witzig, feierte rauschende Geburtstagsfeste und wohnte auf einem Bauernhof im Dorfkern, der grandiose Möglichkeiten zum Spielen bot.
Die meisten Kinder beeilten sich mit dem Rundgang durch den Zoo, damit noch genug Zeit für den spektakulären Spielplatz blieb, dessen Existenz sich längst herumgesprochen hatte. Die größte Attraktion stellte eine echte, ausrangierte Lokomotive dar, klassisch schwarz-rot lackiert, mit allen erdenklichen Hebeln und Rädchen, die insbesondere die Technik-begeisterten Kinder faszinierten.
Die Jungen erhoben zunächst alleinigen Anspruch auf diese Projektionsfläche männlich-frühkindlicher Berufsträume – schließlich nahmen sie erst seit kurzem am gemeinsamen Handarbeitsunterricht teil, von dem sie noch im letzten Schuljahr - im Gegensatz zu den Mädchen - befreit gewesen waren. Als Iris und Angela das Führerhaus erklommen, versuchte Andreas, sie umgehend auf ihren Platz zu verweisen. „Hier gibt’s nichts für Weiber!“, fuhr er sie an. „Geht schaukeln!“
„Du hast hier gar nicht zu bestimmen!“, erwiderte Iris und setzte den ersten Fuß in das Führerhaus. Andreas versetzte ihr einen Stoß, sie strauchelte, konnte sich aber gerade noch festhalten.
„Bist du doof?“, rief Heiko. „Du kannst doch nicht einfach die Mädchen runter schubsen!“ Ritterlich reichte er erst Iris und dann Angela die Hand und zog sie ins Führerhaus.
„Aber Weiber haben hier nichts zu suchen!“, protestierte Andreas.
„Ach quatsch, ist doch egal.“, sagte Eckhart. „Guck mal, die Uhr hier. Ob wir den Zeiger wohl dazu kriegen, dass er sich bewegt?“
„Vielleicht gibt es irgendwo ein Rohr, wo man rein pusten kann.“, überlegte Andreas „Ich geh mal unter die Lok und guck nach.“
Der selbst ernannte Kapitän verließ das erodierende Schienenschiff, um sich mit der Technik außerhalb des Führerhäuschens vertraut zu machen. Er legte sich unter die Lok wie ein KFZ-Mechaniker unter seinen Patienten und suchte Fachlichkeit suggerierend akribisch nach Öffnungen, in die er seinen Odem blasen konnte. Indes entschloss sich Nicole, deren immer wachen Adleraugen nichts entging, umgehende das Führerhäuschen der Lok zu besteigen, um ja nichts von den sich dort abspielenden,
geschlechtsheterogenen Ereignissen zu verpassen. Es war schon schlimm genug für sie, dass sie nicht das erste Mädchen unter den ganzen Jungen war, sie wollte auf keinen Fall das Letzte sein und erst recht nicht eine von denen, die vom Rand aus zusahen. Sie erklomm die steilen Stufen und aus dem von goldblonden Locken gerahmten Gesicht blickten kugelrunde, himmelblaue Augen neugierig ins Innere.
„Guck mal, wie hoch das hier ist.“, sagte Angela, die am offenen Ende der Lok nach unten sah. Sie machte eigentlich Platz für Iris, an die sie die Aufforderung gerichtet hatte, aber Nicole schoss in die Lücke und blickte wissbegierig nach unten. „Ehrlich, ganz schön hoch.“, bestätigte sie, als sie plötzlich erschrocken zusammenfuhr, weil zwei Hände sie heftig an den Schultern packten und jemand rief: „Hätt ich dich nicht gehalten!“ Sie sah sich kurz um und erblickte Eckhart. Die Wärme seines Körpers und die Nähe seines Gesichts, in dem sie plötzlich jedes Muttermal erkennen konnte, trieben ihr eine zarte Röte ins Gesicht.
Irgendwann wurde die Lok dann doch langweilig und die Kinder verteilten sich zunehmend auf Klettergerüste, Turnstangen, Schaukeln und ein mechanisches Kinderkarussell, das sie selbst anschieben mussten. Die mit dem größten Bewegungsdrang konnten sich hier austoben, die etwas Gemütlicheren genossen die freie Fahrt. Es gelang ihnen, sich friedlich abzuwechseln und Herr Kowalski blickte von einer Bank aus zufrieden zu und zog genüsslich an seiner Pfeife.
„Lasst mich auch mal anschieben.“, Iris drängte energisch an einen Griff, an dem man das Karussell in Bewegung setzten konnte und gab Vollgas.
„Du bist ja voll lahm!“, maulte Andreas und Iris, die es ihm zeigen wollte mobilisierte alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte, doch ihr war, als versuche sie unter Wasser zu sprinten. Schmerzhaft und schneidend klang das raue Gelächter der Jungen in ihren Ohren und die triumphierenden Blicke einiger Mädchen trafen sie wie Nadelstiche. Diesmal sprang ihr kein rettender Heiko zur Seite, er beachtete sie nicht einmal. Enttäuscht gab sie auf und stellte sich bei den Schaukeln an. Aus der Entfernung beobachtete sie nun, wie die sommersprossige, rothaarige Cornelia, mit ihren drahtigen, muskulösen Beinen gemeinsam mit der bildhübschen Nicole das Gerät in Bewegung setzte. Sie brachten das Karussell richtig in Fahrt und lachten dabei, als täten sie das mit Leichtigkeit. Sie hätte gern dazu gehört, wäre auch gern fröhlich lachend im Kreis gerannt, zur Freude der anderen Kinder. Aber Iris gehörte nirgends dazu. Sie war weder dumm, hässlich, tollpatschig noch irgendwie verhaltensauffällig, aber sie fand zu den Spielen der anderen Mädchen keinen richtigen Zugang und die Jungen, denen sie sich so verbunden fühlte, mit denen sie so gern herum getollt wäre und die wilden Spiele gespielt hätte, die sie mit ihrem Spielkameraden Peter gespielt hatte, nahmen sie nicht ernst, und jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu beweisen, scheiterte sie. Peter hatte sich im letzten Jahr auch plötzlich zurückgezogen und sie als Viertklässler gar nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Als sie lange genug geschaukelt hatte und wieder abgesprungen war, kamen Cornelia und Petra auf sie zu. „Iris, machst du mit beim Gummitwist?“, fragte Cornelia.
„Ja, ist gut.“, antwortete sie.
„Darf ich zuerst?“, fragte Petra und die anderen beiden waren einverstanden. Cornelia und Iris spannten das zusammengeknotete Schlüpfer-Gummi um ihre Fußgelenke und Petra vollzog trotz ihrer nicht unerheblichen Leibesfülle ausgesprochen geschickte und wendige, fehlerfreie Sprungfiguren.
„Wieso macht Nicole eigentlich nicht mit?“, fragte Iris.
„Die will sich noch ein bisschen von Eckhart auf dem Kinderkarussell festhalten lassen.“, erklärte Cornelia und wies kichernd auf das zärtliche Idyll, in dem Nicole aufgeregt lachend auf dem einen Sitz saß und hinter ihr Eckhart, der sie beharrlich an den Schultern hielt und aus Leibeskräften schrie: „Nicht aufgeben! Festhalten! Ich halte dich! ich bin dein feiner Held! Ich kämpfe für Frauen und Gerechtigkeit!“
„Na Petra“, fragte Cornelia schelmisch, „soll ich Eckhart mal fragen, ob er dich bei der nächsten Runde Gummitwist festhält? Vielleicht küsst er dich sogar.“
„Iii!“, rief Petra. „Bevor ich mich von dem küssen lasse, schmier ich mir lieber ‘n Mettwurstbrot.“
„Andreas ist aber schlimmer.“, warf Iris ein.
„Och“, sagte Petra nur und konzentrierte sich voll auf die Sprünge der dritten Schwierigkeitsstufe, bei der das Gummi auf Hüfthöhe gespannt war. Sie machte einen Fehler.
„Abs!“, riefen Cornelia und Iris im Duett.
„Iris, willst du?“, fragte Cornelia und Iris, dankbar nicht schon wieder die Letzte zu sein, stimmte zu. Angela näherte sich schüchtern. „Darf ich mitmachen?“, fragte sie zaghaft.
„Klar.“, antwortete Petra gönnerhaft. „Aber nach Iris ist erst Conni dran.“
„Ja, klar.“, ergab sich Angela in ihr gewohntes Schicksal. Sie war eine von denen, die immer und überall übersehen wurden. Das glanzlose, aschblonde Haar stand ihr Frisur-los vom Kopf ab, die samtgrünen Augen waren zu klein und standen ein wenig zu weit auseinander, um ihre Wirkung zu entfalten und die vollen, fleischigen Lippen wirkten in ihrem kastenförmigen Gesicht irgendwie deplatziert. Es mangelte ihr an Inspiration, Initiative und Schlagfertigkeit. Sie störte niemanden, aber sie wurde auch nicht sonderlich geschätzt.
Als alle vier Mädchen einmal dran gewesen waren, stellte Cornelia fest: „Wir haben nur noch eine Viertelstunde. Gehen wir noch in den Kiosk?“
„Au ja!“, rief Petra und stürmte voran. Im Zoo-Kiosk gab es neben allen erdenklichen Süßigkeiten auch jede Menge Souvenirs, billigen Schmuck und Nippes. Voller Begehren betrachteten die Mädchen die Auslagen. Petra kaufte sich eine Kette aus zylinderförmigen, weißen Plastikperlen, in dem festen Glauben, es handele sich um echtes Elfenbein und außerdem noch zwei Schokowaffeln. Cornelia erstand eine kleine Robbe, die sie ihren Eltern mitbringen wollte und drei Tüten Brausepulver. Iris und Angela hatten kein Geld dabei. Ihre Eltern waren überhaupt nicht auf die Idee gekommen. Schließlich war der Eintritt bezahlt, sie hatten den Kindern Brote, Obst, etwas zu trinken und ein paar Kekse mitgegeben, das war mehr, als sie normalerweise an einem Vormittag verputzten. Mit blutendem Herzen blickten sie nun auf das überwältigende Süßwarenangebot und Iris betrachtete sehnsüchtig eine schlichte, silberfarbene Halskette mit einem geschliffenen Glasstein, der an der Rückseite mit Metallic-Lack in den Farben des Regenbogens beschichtet war, so dass er die facettenreichen Lichtbrechungen eines vollendeten Brillanten imitierte. Diese Anhänger gab es in den 70er Jahren an den Kiosken eines jeden Ausflugsziels. Iris hatte sie schon oft bewundert, aber nie waren ihre Eltern bereit gewesen, Geld für so eitlen Tand auszugeben.
Cornelias feine Antennen, die bei ihr früher ausgeprägt waren als bei ihren Altersgenossinnen, verrieten ihr, wie sehr Iris und Angela unter ihrer Mittellosigkeit litten. Sie ertrug es nur schwer, wenn andere offensichtlich unglücklich waren. „Ich kann euch was leihen.“, bot sie den beiden großzügig an. „Ich habe noch eine Mark zwanzig, die brauche ich nicht, dann könnt ihr euch auch noch was kaufen.“
„Nee, lass mal.“, antwortete Iris, denn sie wusste ja, dass sie Cornelia das Geld nicht zurückzahlen konnte. Angela dagegen nahm das Angebot an. Sie wusste nämlich, wo ihre Mutter das Portemonnaie für ihre Einkäufe aufbewahrte und konnte so unbemerkt das Geld stibitzen, das sie Cornelia am folgenden Tag zurückzahlen würde. Dabei blieb sie aber bescheiden. „Kannst du mir 20 Pfennig leihen?“ „Klar.“, sagte Cornelia und gab ihr das Geld. Angela kaufte ebenfalls zwei Tüten Brausepulver und schenkte eine davon Iris.“
Iris war überwältigt. „Aber das ist doch deine.“, sagte sie. „Du musst mir doch nichts abgeben.“
„Doch. Die schenke ich dir.“, sagte Angela beharrlich und Iris bedankte sich.
Als die Kinder wieder den Bus bestiegen, erlebten sie eine Sensation: Nicole und Eckart setzten sich nebeneinander und das Gekicher und Getuschel nahm kein Ende.
Sie waren schon eine Weile unterwegs, da hörte Iris, wie Jörg sich wispernd an Petra wandte: „Ich weiß was von Nicole.“, tuschelte er und flüsterte Petra dann etwas ins Ohr, was für Iris unverständlich blieb. Petra kicherte begeistert und gab das Gehörte ebenso geheimnisvoll an Cornelia weiter. Überall im Bus wurde geflüstert und Iris Neugier, was es wohl so Spannendes von Nicole zu erfahren gab, wich einer wachsenden Furcht, dass es sich nicht etwa um einen Nicole betreffenden Skandal handelte, sondern dass Nicole etwas ausgeplaudert hatte, was sie, Iris, ihr anvertraut hatte, denn niemand weihte Iris in die Sensationsmeldung ein, statt dessen grinsten sie alle nur scheel an und wandten sich dann kichernd ab.
Vor wenigen Wochen hatte Nicole sich mit Iris zum Spielen verabredet. Sie hatten Nicoles Kaninchen gestreichelt, hatten mit ihren Barbiepuppen gespielt und schließlich auf dem Rasen Kränze aus Gänseblümchen geflochten, das heißt, Nicole hatte einen Kranz geflochten, Iris hatte es nur erfolglos versucht, da halfen auch Nicoles fachfrauliche Ratschläge nicht. Sie hatten sich über die Jungen in ihrer Klasse unterhalten und das Gespräch war auf Heiko gekommen.
„Heiko ist richtig nett, finde ich.“, sagte Iris. „Die anderen Jungen sind immer so doof und gemein und ärgern. Aber Heiko überhaupt nicht.“
„Stimmt.“, gab Nicole ihr Recht. „Und der sieht auch süß aus. Der hat so braune Augen, die finde ich toll.“
„Ja, braune Augen finde ich auch toll. Und im Sommer wird der auch immer so schnell braun, das sieht total schön aus.“
„Ja, er sieht gut aus und er ist nett. Würdet du Heiko mal heiraten?“, fragte Nicole.
Iris wurde rot und starrte auf die Gänseblümchen in ihren Händen, während Nicole sie verstohlen musterte. Dann antwortete sie: „Weiß nicht. Ich will ja jetzt noch nicht heiraten.“
„Aber du bist ein bisschen verliebt, gib es zu!“
„Na ja, ein bisschen schon.“
„Also ich könnte mir gut vorstellen, Heiko mal zu heiraten.“, überlegte Nicole. „Du heiratest ja auch bestimmt mal Peter.“
„Das glaube ich nicht.“, erwiderte Iris. „Wir spielen auch gar nicht mehr zusammen.“
„Na ist ja auch egal.“, antwortete Nicole. „Wollen wir wieder rein gehen? Mir ist kalt.“
Jetzt saß Iris mit klopfendem Herzen im Bus, fassungslos über den Verrat, mit einem Rest Hoffnung, dass Nicole vielleicht doch nichts ausgeplaudert hatte, weil Iris ja genauso herumerzählen konnte, dass Nicole ebenso in Heiko verknallt war wie sie. Nur, auch das war ihr klar, hätte ihr das niemand geglaubt, weil aktuell alle davon überzeugt waren, dass Nicole und Eckhart ein Paar waren.
Am kommenden Tag spielten die Mädchen in der großen Pause ihr Lieblingsspiel: Alle stellten sich in eine Reihe mit dem Rücken zur Wand. Ein Mädchen stellte sich der Gruppe gegenüber und sang ein Lied, in dessen Rhythmus sie immer vor und zurück marschierte. Petra war diejenige, die diese Aufgabe gewählt hatte. Sie sang und steigerte die Spannung, bis sie zu den entscheidenden Zeilen gelangte: „...die Nicole saß am Fenster und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Eckhart und gab ihr einen Kuss. Der Eckhart hat geschrieben, ich liebe dich so sehr, ich liebe so sehr. Ich liebe keine andre, als dich mein gold‘ner Stern.“
Das Gelächter war groß, aber Nicole, sich Eckharts Gegenliebe gewiss, lachte strahlend und selbstbewusst und steckte mit Petra die Köpfe zusammen, um gemeinsam das nächste Opfer auszusuchen. Iris war furchtbar aufgeregt und dann kamen die entscheidenden Zeilen: „...die Conni saß am Fenster...“
Erleichterung breitete sich von Iris Körpermitte bis in die Zehen und Fingerspitzen aus, während Cornelia ängstlich erblasste.
„...und knackte eine Nuss. Da kam der liebe Stefan...“
Entsetzt schlug sich Cornelia die Hände vors Gesicht und rief: „Nein, der ist eklig!“ und alle lachten begeistert. Nun war auch Cornelia vor weiteren Angriffen sicher und trat mit Petra und Nicole zusammen, um die nächste Demütigung auszuhecken. Angela hoffte heimlich, die Wahl würde auf sie treffen, damit sie auch einmal das nächste Opfer bestimmen konnte, aber sie wagte kaum, darauf zu hoffen und die farblose Birgit tat das noch viel weniger. Was hätte Iris in diesem Moment darum gegeben, mit ihnen zu tauschen, denn es bestand ja nach wie vor das Risiko, dass sie als nächste dran kam.
„...die Iris saß am Fenster...“
Sie hörte den Pulsschlag in ihren Ohren hämmern.
„... und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Heiko und gab ihr einen Kuss...“
Glutrot ließ Iris die Prozedur über sich ergehen und als wenn das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam in eben diesem Augenblick Heiko den Mädchen bedrohlich nahe, um einen verloren gegangenen Ball aus den Büschen zu holen. Er horchte auf und rief dann: „Iris ist aber viel doller in Peter verknallt als wie in mich.“
Iris, einerseits dankbar für Heikos Entschärfung der Situation, empfand andererseits aufgrund ihres natürlichen Sprachgefühls und Empfindens für korrekte Grammatik einen sich auftuenden Graben gegenüber dem Objekt ihrer Begierde. Heiko mochte noch so schöne braune Augen und Arme haben, er sprach wie ein Vollidiot. Das tötete augenblicklich jedes zärtliche Gefühl in ihr ab. Nachdem sie die Peinlichkeit endlich überstanden hatte, gesellte sie sich mit Begeisterung zu den drei anderen Jury-Mitgliedern, beteiligte sich an der Auswahl und sang euphorisch das Lied mit: „Die Angela saß am Fenster und knackte eine Nuss...“

Wer ist denn nun wohl das Wesen mit der mörderischen, kriminellen Energie? Was glaubt Ihr und warum?

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