Sonntag, 20. Oktober 2019
Zwei in der Falle
Eins

Sogar im Himmelsgrau seh ich noch Dein Gesicht
und dabei weiß ich ganz genau, es geht ja nicht.
Mich friert, der Herbst, er steckt mir in den Knochen
und lähmt mich, bin sogar zu faul, mir Tee zu kochen.

Er legte den Kugelschreiber beiseite und zog sich die zottige Acryldecke um die Schultern. Es knisterte und das ehemals flauschige Plastik verhielt sich zur aufsteigenden Kälte wie der Cheeseburger zum Hunger – es versprach weitaus mehr, als es halten konnte, befriedigte nur scheinbar und steigerte das Verlangen. Die Füße blieben eisig und das Frösteln kroch schon wieder die Beine hinauf; in die Schenkel, in den Schoß in die Brust. Er hätte sich rühren müssen, aber jede Bewegung tat weh und machte das Frösteln noch bewusster.

Mit Fünfzehn hatte er beim Schreiben solcher Vierzeiler noch das heftige Pochen seines Herzens gespürt und heftig atmend die Augen geschlossen und deutlich geahnt, dass es nun gewiss bald passieren würde.

Mit Fünfundzwanzig hatte er nur noch selten Vierzeiler geschrieben – und wenn, dann trieften sie schon vor Frustration und Pessimismus.

Mit Fünfunddreißig waren die Vierzeiler ganz aus seinem Leben verschwunden, er kämpfte sich mit letzter Kraft durch die Antrengungen des Alltags.

Mit Fünfundvierzig hatte er wieder angefangen. Um seine Traurigkeit nicht ständig herausschreien zu müssen, verlegte er sich aufs Herausscheiben, etwa so, wie dreißig Jahre zuvor, nur mit weniger erwachender Erotik und dafür mehr Klage über Verlust.

Mit Fünfunffünfzig wagte er es nicht mehr, noch etwas vom Leben zu erwarten außer einer beheizten Unterkunft, bekömmlicher Verpflegung, Kleidung, Sicherheit und ein wenig Fernsehunterhaltung. Aber der Fünfzehnjährige steckte noch immer in ihm mit seiner unbändigen Sehnsucht, dem Schmerz der Entbehrung und dem Verlangen nach Erlösung.

Sie würde nicht einfach kommen, die Erlösung, das war ihm längst klar. Er musste schon höchstselbst dafür sorgen, doch er wusste nicht wie. Klar, am einfachsten wäre es, etwas Passendes einzuwerfen oder von einer hohen Brücke zu springen oder von einem Hochhaus. Aber noch waren seine Hemmungen zu groß, seinen Mitmenschen die Sauerei einer suzidierten Leiche zu hinterlassen. Es wäre ihm peinlich gewesen, auch wenn ihm die Reaktionen erspart geblieben wären, weil er ja schon tot war, aber wer konnte wissen, wie lange sich die Seele noch im Umfeld des Leichnams heruntrieb und was man das alles so mitbekam. Es musste einen anderen Weg geben.

Zwei

Wenn man als Objekt fremder Begierden zwar nichts weiß von seinem „Glück“, es aber ahnt und es lieber nicht wissen würde, nicht einmal ahnen, weil man einfach nur seine Ruhe haben will oder zumindest das eigene Begehren auf gänzlich andere Ziele ausgerichtet hat, dann ist das ein gottverdammtes Scheißdilemma; zumindest, wenn einem das begehrende Subjekt irgendwie ein bisschen ans Herz gewachsen ist, gerade mal so sehr, dass man es nicht verletzen möchte, auf keinen Fall, aber eben auch nicht angefasst werden will, zumindest nicht so, wie das Subjekt es gern hätte.
Wenn dann am Sonntag immer wieder das Telefon klingelt, man selbst nicht an den Apparat geht und mitbekommt, dass am anderen Ende gleich wieder aufgehängt wurde, wenn man sich dann beim Joggen im Park von einem heftigen Atem verfolgt fühlt, dann kann es passieren, dass man die Kontrolle verliert, nicht mehr denken kann und nur noch handelt.

Eins

Als er am Dienstag in der Zeitung las, dass im Stadtpark ein erschlagener Jogger aufgefunden wurde, griff er direkt zum Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste, wartete mit von pochendem Herzen nahezu berstenden Adern darauf, dass abgehoben wurde und seufzte vor Erleichterung, endlich wieder die geliebte Stimme zu hören. Mehr war nicht drin.

Zwei

Wenn man glaubt, seinen Verfolger abgehängt zu haben, möglicherweise mit einer Überreaktion, für die man sich, wenn man Pech hat, vor Gericht verantworten muss, und man dann plötzlich das Gefühl hat, dass er immer noch da ist, dan fragt man sich, ob man nicht vielleicht einen Unschuldigen...

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Sehr gut! Sehr Interessante Konstellation. Auch interessant der Wechsel zwischen den beiden Erzählperspektiven und die Entwicklung der Geschichte. Am Anfang die Charakterzeichnung von dem Stalker ganz ausführlich, die Opfer-Täterin schon etwas knapper dargestellt und dann die Geschichte um das fatale Missverständnis ganz lakonisch.

"Es knisterte und das ehemals flauschige Plastik verhielt sich zur aufsteigenden Kälte wie der Cheeseburger zum Hunger – es versprach weitaus mehr, als es halten konnte, befriedigte nur scheinbar und steigerte das Verlangen."

Sehr origineller Vergleich, macht mir aber trotzdem Appetit auf einen Cheeseburger. Wenn immer das Wort Cheeseburger wo steht, macht mir das Appetit auf Cheeseburgern. Irgendwann ist der Hunger dann doch gestillt. Man muss halt mehr wie nur einen Cheeseburger mampfen! ;)

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Schon mal Falafelburger mit Joghurtsauce probiert? Viel geiler als jeder Cheeseburger, macht megasatt und verklebt den Darm nicht so und schmeckt hypergalaktisch. Aber was frag ich. Du wohnst ja in der Hauptstadt. Kennst Du ja alles schon.

Übrigens die Opfer-Täterin könnte auch ein Opfer-Täter sein und mein männlicher Protagonist war ursprünglich weiblich. Als der erste Teil fertig geschrieben war, habe ich einfach mal das Geschlecht gewechselt und mich gefragt, ob es so herum wohl auch funktioniert und dann dachte ich, kann man es nicht irgendwie offen lassen, auf wen das Begehren zielt? Dananch wollte ich den Protagonisten auch noch neutralisieren, aber das fand ich sprachlich zu gekünstelt und dann habe ich es so gelassen. Danke für die ausführliche Rückmeldung.

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