Donnerstag, 9. April 2020
Verzweifelte Suche - Ein Antikrimi mit Peter Margo in mehreren Teilen – Teil 5
Während der unwirtliche Hafen von Bensersiel mir die Laune verdarb, veränderte sich meine Stimmung, sobald das Schiff abgelegt hatte. Ich konnte gut verstehen, warum der Professor ans Meer gefahren war: die unbelastete Luft weitete die Atemwege, das Wasser bis zum Horizont weitete den Blick und entspannte die Sinne: hier lenkte nichts ab, hier wurde man unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen. Als ich vor Benraths Unterkunft stand, verließ der gerade das Haus, ich erkannte ihn sofort und heftete mich an seine Fersen. Vielleicht schaffte ich es, mir Gewissheit sowohl über seine Identität, als auch über seine Motive für die spontane Reise zu verschaffen. Eigentlich war das gar nicht nötig, ich hatte meinen Auftrag erfüllt, hätte direkt wieder abreisen können, aber meine Neugier war stärker. Als Benrath einen Fahrradverleih ansteuerte, beschloss ich, es ihm gleichzutun. „Und? Haben Sie schon ein Ziel vor Augen?“, fragte ich. „Oder wollen sie einfach nur drauflos radeln?“
„Ich dachte an die Ostspitze.“, erwiderte er freundlich. „Und Sie?“
„Ich verfolge keinen konkreten Plan. Was ist so reizvoll an der Ostspitze?“
„Man legt einen Weg von zwei mal neun Kilometern zurück, keine Elektrokarren, keine Flaneure, keine Läden, kein Imbissgeruch. Unterwegs kann man einkehren, falls man etwas braucht, in den Dünen blühen wilde Orchideen und wenn man an der Spitze ankommt, fühlt es sich an, als sei man ans Ende der Welt gelangt.“
„Klingt verlockend. Darf ich mich in Ihren Windschatten begeben oder steht Ihnen der Sinn nach Einsamkeit?“
„Das war eigentlich der Plan.“, erwiderte Benrath, „Aber ich habe schon fünf einsame Wochen hinter mir, da kann ein bisschen Gesellschaft nicht schaden. Sind Sie zum ersten Mal hier auf der Insel?“
„Allerdings.“, erwiderte ich. „Ich versuche herauszufinden, was die Menschen an so einem Ort fasziniert. Warum geht man bewusst in die politische, ökonomische und kulturelle Provinz, nur um mit Massen konsumierender Mittelständler tagein tagaus nebeneinander her zu leben?“
„Das weiß ich nicht.“, erwiderte der Professor. „Ich komme hier her, weil ich hier viele ruhige Plätze kenne, an denen ich ungestört meinen Gedanken nachgehen kann. Ich brauche gerade in mehrfacher Hinsicht Abstand von meinem Leben.“
Er war an der Reihe, sich ein Fahrrad auszusuchen und ich zog direkt mit. Als der Vertrag abgewickelt war, setzten wir uns in Bewegung. Wir redeten nicht, radelten hintereinander, denn der Gegenverkehr war erheblich. Nach einigen Kilometern erklärte Benrath: „Wir kommen jetzt in die Vogelkolonie. Wenn Sie mögen, können wir Pause auf einer Bank machen und ein wenig den wilden Tieren zusehen.“
„Warum nicht.“, antwortete ich. „Machen Sie das mit der Vogelkunde beruflich?“
„Nein, ich habe überhaupt keine Ahnung von Flora und Fauna. Ich bin Soziologe.“
„Und was tun Sie da?“
„Ich erforsche die unterschiedlichen Prägungen durch das politische System und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und kulturellen Lebensumstände im Osten und im Westen der Republik.“
„Und dann fahren Sie in den Norden, um darüber nachzudenken?“
„Nein, darüber denke ich jetzt gerade nicht nach. Ach was soll‘s, wir kennen uns ja nicht, ich kann es Ihnen ruhig erzählen. Ich habe eine Mitarbeiterin, die wirklich einen guten Job macht und auch sehr nett ist, aber eben nur nett, wenn Sie mich verstehen.“
„Nett im Sinne von die kleine Schwester von Scheiße?“
„Nein, eher nett im Sinne von nur nett und mehr nicht. Jedenfalls scheint diese Mitarbeiterin mehr von mir zu erwarten, als ich zu geben bereit bin. Kürzlich hat sie mir eine vollkommen unangemessene E-Mail geschickt, lauter Offenbarungen, die sie mir eigentlich vorenthalten wollte und am Ende doch nicht bei sich behalten konnte. Ich wusste gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich lege keinen Wert auf Kontakt zu komplizierten Frauen, so eine habe ich schon und darunter leide ich bereits entsetzlich.
Darum habe ich mir eine Auszeit gegönnt. Ich habe meiner Frau nicht gesagt, wohin ich fahre, nicht einmal wie lange. Ich habe ihr nur einen Zettel hinterlassen, dass ich für längere Zeit verschwinden müsse, aber nicht das Opfer eines Verbrechens sei. Dass ich Abstand brauche und Zeit für mich. Und das entspricht ja der Wahrheit.
Ich wollte endlich mal wieder ans Meer fahren, ist schon ein-einhalb Jahre her. Ich wollte aufs Wasser starren bis der Kopf ganz leer wird, mich durchpusten lassen vom frischen Wind in milder Luft. Den eigenen Körper spüren, bei mir selbst sein. Das war mir wichtig. Ist es immer noch. Das schwülstige Gedicht meiner liebeskranken Mitarbeiterin habe ich bewusst zu Hause gelassen. Soll meine Frau es doch finden. Wenn sie sich deswegen trennen will, ist es mir recht. Wenn nicht, auch egal. Das ist gerade nicht wichtig. Wichtig ist im Augenblick für mich, herauszufinden, was ich noch will vom Leben, was ich wirklich brauche, wonach ich mich am innigsten sehne. Er weiß es immer noch nicht, aber ich bin der Sache näher gekommen. Ein gesunder Rhythmus mit leichten Aussetzern, damit das Leben sich nicht wie eine Endlosschleife anfühlt, Bewegung, frische Luft, Stille, Natur, Zeit zum Nachdenken, intellektuelle Herausforderungen, aber auch körperliche, gesunde und genussreiche Ernährung, maßvolle Rauschepisoden, Kontakte zu freundlichen, klugen und wohlwollenden Menschen. Alle anderen sollen mir gestohlen bleiben. Habe ich Sie jetzt mit meiner Verbaldiarrhoe reizüberflutet?“
„Nein, ganz im Gegenteil. Sie haben meine Neugier befriedigt und mich zum Nachdenken angeregt. Ich frage mich auch oft, warum ich jeden Morgen aufstehe und tue, was man von mir verlangt, statt einfach liegenzubleiben und auf den unausweichlichen Tod zu warten. Ich könnte die Frage nach meiner größten Sehnsucht ebenso wenig beantworten wie die nach meinem ehrgeizigsten Ziel. Glauben Sie, man kommt dahinter, wenn man nur lange genug aufs Wasser starrt?“
„Es ist nicht das Wasser worauf es ankommt. Es ist die äußere Reizreduktion, die den Blick nach innen wandern lässt. Es kann aber lange dauern, bis sich was tut.“
„Tja, für lange dauern habe ich heute keine Zeit, aber vielleicht gönne ich mir mal einen längeren Urlaub am Meer, um mich selbst zu suchen.“
„Schreiben Sie mir eine Postkarte, wenn Sie sich gefunden haben?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Wenn ich mich erst gefunden habe, ist jeder andere mir vollkommen egal.“
„Ja, vielleicht. Aber warten Sie es ab. Vielleicht sind Sie anders, als sie denken.“
ENDE

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