Freitag, 17. April 2020
Christenverfolgung – ein Goedereede-Krimi
Zwei Jahre waren vergangen seit dem letzten Urlaub auf Goeree. Letztes Jahr um diese Zeit hatte das Corona-Virus weltweit gewütet und von etwas Luftveränderung hatten wir alle nur träumen können. Dabei waren wir ja privilegiert mit eigenem Haus und Garten, krisensicheren Jobs, vollkommen ausreichender Versorgungslage, also mit Lebensmitteln, Infrastruktur, Medizin… Für uns änderte sich gar nicht so viel. Wir gehörten auch nicht zu den Menschen, die sonst haufenweise Sozialkontakte pflegten und von einer Party zur anderen flatterten. Aber so gar nicht mehr zu mehreren treffen, das war schon schade. Und als es dann Sommer wurde und man nicht ans Meer konnte, ach, das war etwas bitter gewesen. Aber in finanziell knapperen Zeiten hatten wir das auch schon erlebt und waren nicht verzweifelt.
Jetzt war die Krise vorüber. Wirksame Medikamente und ein Impfstoff entwickelt, die Wirtschaft brummte wieder und überall gab es Hilfsprogramme für diejenigen, denen die Krise finanziell das Genick gebrochen hatte. Bis auf einige, die leider auch durch die Maschen dieses Netzes fielen. Ganz zu schweigen von denen, die nicht im privilegierten Europa lebten.
Äußerlich hatte sich im schönen Goedereede nichts geändert. Die historischen Fassaden am Marktplatz spiegelten sich in den gewohnten brillanten Farben im ruhigen Wasser des versandeten Hafenbeckens. Die Windmühle drehte sich, vom Leuchtturm tönte das skurrile Spiel der Carillons und in der Pieterstraat blühten Frühlingsblumen und Hortensien in großen Kübeln vor den kleinen, uralten Fischerhäusern. Der Bäcker verkaufte sein Brot und vor dem Laden saßen Ausflügler bei einer Tasse Milchkaffee.

Wir trugen unser Gepäck ins Haus und liefen zum Supermarkt, um etwas zum Abendessen und zum Frühstücken einzukaufen. Es gab alles, was wir brauchten, sogar Mehl, Nudeln und Toilettenpapier. Alles war wieder normal. Das Wetter war schön, sonnig und warm. Wir machten einen Spaziergang durch den Ort, bewunderten die Dekoration vor dem Blumenladen, liefen noch einmal zum Auto und ließen das Kanu zu Wasser, brachten es durch den Hafen und die Gracht bis hinters Haus und kochten uns ein leckeres Pasta-Gericht. Im Schein von Gartenfackeln kuschelten wir uns auf der Terrasse in warme Wolldecken, genossen unser Abendessen und spülten mit viel köstlichem Weißwein nach, bis wir müde und entspannt zu Bett gingen.

Mitten in der Nacht ertönten Sirenen und in der Straße war überall Aufregung und Geschrei. Ein Blick aus dem Fenster und wir sahen schwarzen Rauch und orangerotes Licht hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile. Ich wollte lieber im Haus bleiben und abwarten, mein Liebster war anderer Ansicht: Neugier trieb ihn aus dem Haus, genauso wie Sorge, was das alles zu bedeuten habe und das Bedürfnis, Hilfe anzubieten, wo auch immer sie erforderlich war. Natürlich konnte ich da nicht allein zurück bleiben, vom Weiterschlafen ganz zu schweigen.
Wir zogen uns an und verließen die sicheren vier Wände. Draußen liefen und schrien alle durcheinander, man konnte kein Wort verstehen. War hier irgendwo ein Osterfeuer aus dem Ruder gelaufen? In der Nacht auf Karfreitag? Das war doch höchst unwahrscheinlich.

Dass der Alte noch lebte, war ein schwacher Trost. Er, der in seiner Selbstgerechtigkeit immer sehr viel Wert darauf gelegt hatte, alles richtig zu machen und den Finger in jede noch so kleine Wunde zu legen. Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass es ihn nicht erwischt hatte, das Alter hätte er immerhin gehabt. Aber er war ein zäher Knochen, fuhr täglich 30-40 Kilometer mit dem Fahrrad, wühlte im Garten, aß viel Gemüse, rauchte nicht, trank nicht, war schlank und drahtig, ging pünktlich zu Bett, stand mit den Hühnern auf und pflegte ein kurzes aber wirksames Mittagsschläfchen. Seine Abwehr stand wie eine übermächtige Streitkraft.

Afina dagegen hatte es nicht geschafft, als hätte der Alte seiner Schwiegertochter die Lebensenergie abgesaugt, die Krankheit hatte sie überrollt wie die Geburtswehen: schnell, heftig, gewaltig. Sie hatten sie zu Hause gelassen, mit Anfang dreißig würde sie das locker überstehen, hatten sie gedacht. Falsch gedacht. Als sie erkannten, dass sie es ohne medizinische Hilfe nicht schaffen konnte, war es zu spät gewesen. Als Jasper ebenfalls Fieber bekam, brachten sie ihn vorsichtshalber in die Klinik, auch wenn er erst zehn Jahre alt gewesen war. Doch auch ihn hatte das Virus so schwer erkranken lassen, dass es ohne Beatmung nicht ging – nur dass sein heranwachsender Körper auch mit dieser Technik nicht fertig geworden war und den Kampf schließlich aufgegeben hatte. Jetzt saß Tjerk da mit dem übriggebliebenen Alten, der schon seine Ehefrau mit seiner Lebensgier unter die Erde gebracht hatte. So sehr er seinen Vater verabscheute, er trug nicht die Schuld an diesem grausamen Schicksal, er hatte das Virus nicht eingeschleppt, war übervorsichtig gewesen und auch nicht erkrankt.

Als die Kunde von der näher rückenden Pandemie in den Nachrichten zu hören gewesen war, hatte Tjerk sich in Sicherheit gewiegt. Im frühen Frühjahr kamen kaum Touristen nach Südholland und hier in Goedereede lebten so wenige Menschen, auch nicht so viele Fernreisende wie in den Metropolen. Sicher, da konnte schon mal jemand von einer Geschäftsreise aus China zurückkehren oder aus dem Skiurlaub in Österreich oder Norditalien, aber so wenig, wie hier los war, würde sich die Seuche sicher nicht rasend schnell ausbreiten.
Dann waren die Zahlen gestiegen und mit den Zahlen auch die Angst. Nur eine bestimmte Gruppe hatte keine Angst. Ausgerechnet diejenigen, die sich eigentlich vor allem fürchteten, was das Leben ausmachte: Vor überbordender Lebenslust, vor Alkohol, vor außerehelichem Geschlechtsverkehr, vor rauen Flüchen und derben Späßen. Es waren die Anhänger der calvinistisch ausgerichteten reformierten Kirche und die der noch strengeren wiederhergestellten reformierten Kirche, die die Warnungen und Appelle der Regierung und der Virologen in den Wind geschlagen hatten und in der festen Überzeugung, der Herr werde die Rechtschaffenen, die reinen Herzens sind, schon beschützen, weiter ihre Gottesdienste, eng aneinander gedrängt in schmalen Bänken abhielten. Aber auch unter ihnen, gab es solche, die auf Reisen gewesen waren oder zu jenen, die sich auf Reisen infiziert hatten, Kontakt hatten. Der Herr hatte ihre Immunabwehr nicht auf 100 Prozent gesetzt und so hatten sie in ihrem unverbesserlichen, naiven Gottvertrauen – oder in ihrer selbstgerechten religiösen Pflichtbesessenheit - erheblich zur Ausbreitung des Virus auf der ganzen Insel Goeree beigetragen. Hunderte Infizierte innerhalb kürzester Zeit auf einem so dünn besiedelten Landstrich. Nun war nur etwa die Hälfte der Bewohner dieses sogenannten Bibelgürtels von Frömmigkeit durchdrungen, die andere Hälfte war weltoffen, lebensfroh, gesellig, experimentierfreudig und säkular oder nur mäßig religiös. Eine gespaltene Bevölkerung in der sich durch das Hereinbrechen des Virus ein tragischer Rollentausch vollzogen hatte: die selbsternannten Gerechten und Heiligen wurden zu denen mit der größten Schuld und die räudigen, hedonistischen, gedankenlosen Sünder zu unschuldigen Opfern, die vom gerechten Volkszorn durchdrungen waren. Ein Pulverfass. Und das war nun hoch gegangen. Beide Gotteshäuser standen in Flammen. Das fromme Pack hatte mit seiner Unverbesserlichkeit Tjerks Leben zerstört, nun zerstörte er das ihre, das fand er nur gerecht. Den Alten hätte er am liebsten gleich mit verbrannt, auch wenn das Afina und Jasper nicht zurückbrachte.

Es sind immer die dummen Menschen, die ihre persönlichen Beweggründe generalisieren.

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