Freitag, 3. August 2018
Lucie – die Geschichte hinter dem Konfi-Camp-Krimi „Freitag, der Dreizehnte“
Es war stickig in dem Verhörzimmer, immerhin kein fensterloser Raum ohne Tageslicht, aber Gitter vor den Scheiben – und grauenvolle Gardinen. Die Wände waren klinisch weiß gestrichen, der Fußboden mit uraltem, kackbraunem Linoleum ausgelegt. Auf den Stühlen hatten womöglich schon Menschen aus der Generation ihrer Großeltern gesessen. Die Eltern ihres Vaters waren ja noch aus dem Osten gekommen, hatten Anfang der Siebziger einen Ausreise-Antrag gestellt und waren schließlich in Ostwestfalen gelandet. Ihr Vater war damals ein kleiner Junge gewesen, ein Grundschulkind. Sie wusste so gut wie nichts über die Zeit im Osten. Die Großeltern hatten die Erinnerung daran nahezu ausgelöscht, pflegten stattdessen akribisch ihren Reihenhaus-Handtuch-Garten, gingen zum Tanzclub und reisten in der Welt herum.
Oma Inge, die Mutter ihrer Mutter war da ganz anders. Sie erzählte ständig Schwänke aus ihrer Jugend, aber sie war auch rau und ziemlich erbarmungslos, wenn Lucie mal einen schlechten Tag hatte.
An Opa Horst hatte sie nur eine dunkle Erinnerung. Dunkel in beiderlei Hinsicht; zum einen hatte sie kein deutliches Bild von seinem Gesicht vor Augen, zum anderen breiteten sich beim Gedanken an Opa Horst düstere Gefühle in ihr aus.

Warum saß sie hier? Für das bisschen Bitches döppen? Die Konfine hatte genauso ausgesehen wie Lisa. Lisa hatte schon in der Grundschule alles bekommen: den ultimativen Tornister, das Lob der Klassenlehrerin, massenhaft Freundinnen und eine Gymnasialempfehlung. Lucie war zur Gesamtschule gewechselt und war froh gewesen, dass Lisa nicht mehr vor ihrer Nase hockte, mit den epischen Beschreibungen ihrer exotischen Urlaubsreisen – bei Lucie machten das nur Oma Margit und Opa Rainer – ihre Eltern unternahmen mit den Kindern höchstens Fahrten in vermeintliche Ferienparadiese an der Nordsee oder zu Oma Inges Dauer-Campingplatz am Dümmer.
Sie war auch froh, dass sie nicht mehr zu Lisas Geburtstagen eingeladen wurde und sich im Gegenzug nicht für das schämen musste, was sie selbst zu bieten hatte.

Aber an der neuen Schule hatten schon weitere Lisas gelauert – nur hießen die Jasmin, Nele oder Anna-Lena. Sie machten immer alles richtig, waren lieb, süß und nett, bastelten Freundschaftsbänder und komplizierten Schmuck aus Rocailles-Perlen und mimten ganz die kindliche Unschuld. Lucie hatte bald heraus gehabt, dass Jungs auf freche Mädchen standen, hatte schon in der sechsten Klasse Kajalstift und Wimpern verlängernde Mascara benutzt, das Glätteisen zum Einsatz gebracht und ständig Ausschau gehalten nach verdammt coolen Klamotten, die ihr Taschengeld-Budget nicht überschritten. Sie hatte sie alle ausgestochen, die Lisas, Jasmins Anna-Lenas und Neles – von den Chantals und Jacquelines einmal ganz zu schweigen.

In der siebten Klasse begann dann der kirchliche Unterricht und plötzlich hatte sie Lisa wieder wöchentlich vor der Nase: lieb, hübsch und schüchtern wie eh und je, makellos und fehlerfrei, beliebt und leistungsbereit. Lucie und ihre Gang machten sich lustig über die Mädchen aus den durchgestylten, perfekten Elternhäusern und fühlten sich den kindlichen Streberinnen haushoch überlegen, wenn sie sich vor und nach dem Unterricht mit den coolen Jungs unten am Bach trafen und heimlich eine Schachtel Lucky Strike wegrauchten. Damals hatte Lucie sich als Siegerin gefühlt.

Zwei Jahre später kam die Konfirmation – längst keine fromm-biedere Veranstaltung mehr, eher ein Ranking um die sexiest Homecoming-Queen. Der Einzug in den Gottesdienst gestaltete sich wie das Einlaufen der Models auf dem Laufsteg. Lucie hatte sich für ein ultrakurzes, zartrosa Chiffon-Swingerchen entschieden, transparent mit figurbetontem, weißem Unterkleid. Dazu trug sie cremefarbene Riemchen-Sandalen mit 10cm-Absätzen. Doch sie spürte längst, dass die Lisas, Jasmins, Anna-Lenas und Neles in den eleganten Hochpreis-Roben, mit Nude-Look-Make-up und romantischen Hochsteckfrisuren die größeren Aktien bei den Jungs hatten. Nun liefen sie ihr also auch noch auf ihrem Spezialgebiet den Rang ab, und Lucie galt nur noch als Bitch und leichte Beute. Respekt hatte niemand mehr vor ihr.

Sie hätte damals aus allem herausfallen können, aber Svenja sei Dank, hatte sie sich entschlossen, einen Trainee-Kurs und die Ausbildung zur Jugendgruppenleiterin zu absolvieren; sie wollte die ganzen Esprit-Miezen in die Tasche stecken, und das war ihr gelungen. Sie hatte es bis ins Konfi-Camp-Team geschafft und das wollte schon etwas heißen.
Alles war schön gewesen, und Jasper mit den Mandelaugen hatte auch vom ersten Moment an mit ihr geflirtet. Aber dann, als sie endlich zur Sache kommen wollte, hatte er total blockiert, und dauernd hatte dieser lahmarschige Kilian sie gestalkt, und dann war ihr aufgefallen, wie Jasper die kleinen, perfekten, Querflöten-Unterricht-Konfinen anschmachtete, da hatte sich etwas in ihr aufgebaut, eine Wut, so tief, so lange gereift, so entsetzlich brennend und ein unstillbares Verlangen, sie heraus zu lassen. Sie hatte sich ein perfektes Opfer ausgesucht, aus Kilians Gruppe, damit der alte Stalker genug Stress hatte und sie in Ruhe ließ. Sie hatte für allmähliche Verunsicherung gesorgt, hatte eins der Zimmer durchwühlt und ein, zwei Scheinchen mitgehen lassen, war bei Gelegenheit um die Gruppe herum geschlichen und hatte dann die Segnung eines Umspannwerk-bedingten Stromausfalls genutzt, um die süße Dina auf dem Rückweg vom Klo abzugreifen. Lucie war stark, sie ging regelmäßig zum Krafttraining. Es war nicht schwer, der vorbubertären Rippziege den Mund zuzuhalten und sie zum See zu schleifen. „Drecksfotze, elende“, beschimpfte sie sie. „Wir müssen dich gründlich einweichen und den ganzen Fotzendreck von dir abwaschen, damit du weißt, wo dein Platz ist.“
Wie von Sinnen tauchte sie das kleine, dünne Mädchen immer wieder unter Wasser, ließ sie etwas zappeln und dann wieder zum Luftholen auftauchen. Sobald sie den Kopf über Wasser hielt, überzog sie sie mit Schimpftiraden, haute ihr alles um die Ohren, was die Lisas, Jasmins, Anna-Lenas und Neles ihr in den letzten Jahren angetan hatten. Sie würde sie kleinkriegen, diese ach so süße Maus und wenn sie das geschafft hatte, würde sie auch mit dem ganzen Rest fertig. Irgendwann war Dina so schwach, dass sie nicht einmal mehr flüstern konnte. Lucie zerrte sie in den flachen Bereich des Sees, mitten ins Schilf, hier konnte sie nicht einmal ertrinken, wenn sie direkt ohnmächtig würde. Dann ließ sie sie dort liegen. Die würde sich schon wieder berappeln. Und was immer sie danach behaupten würde, Lucie würde alles abstreiten und die süße Dina würde für verrückt erklärt und womöglich weggesperrt.

Aber jetzt wurde Lucie weggesperrt; zumindest so lange, bis sie mit ihr fertig waren. Das mit dem Abstreiten hatte irgendwie nicht funktioniert, die Bullen waren einfach zu massiv aufgetreten und es hatte wohl Zeugen gegeben. Kilian, du alte Stalker-Sau – dachte sie – wenn ich rauskomme, dann gnade dir Gott!

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