Freitag, 15. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 3. Enno
Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Die Gierigen hatten wieder gewonnen; sogar hier, in seinem geliebten Prag. Sogar die letzten Zufluchtsorte der Welt wurden von den fressenden, saufenden, rülpsenden, furzenden, ewig konsumierenden, alles zumüllenden, schnatternden, grölenden, achtlos alles platt trampelnden, erlebnishungrigen Vielreisenden überschwemmt. Sie wollten ja gar nicht in Prag sein. Sie wollten nur erzählen können, dass sie da waren und mit ihren Fotos prahlen. Fotos waren die Jagdtrophäen des 21. Jahrhunderts. Sie wollten berichten, was sie Phantastisches gegessen hatten, stolz ihre neuerworbenen Schmuckstücke herumzeigen und bewundert werden für ihre Weltläufigkeit. Sie kannten nicht den brennenden Schmerz in der Brust, der sich mit der Erkenntnis über die Erbarmungslosigkeit des Lebens ausbreitete. Sie atmeten die Luft dieses Ortes und bliesen sie wieder aus, ohne sich der Geschichte bewusst zu sein, die sie mitatmeten. Sie waren ahnungslose Parasiten, die sich gierig ausgerechnet vom Fleisch derer ernährten, die eigentlich in der Welt etwas hätten bewegen können. Die, die wirklich verstanden, wurden von ihnen selbst wie Parasiten behandelt. Weil sie an den Verhältnissen erkrankten und zerbrachen, empfand man sie als lästigen Ballast, den es zu entsorgen galt.
Auch wenn es ihn ärgerte, hatte er auf der Prager Burg anstandslos den Eintritt für das Goldgässchen bezahlt. Von irgendetwas mussten die Tschechen ja die Schäden, die der Massentourismus verursachte, bezahlen. Andächtig stand er vor dem Haus Nr. 22. Hier hatte Franz Kafka ein Jahr lang gelebt und gearbeitet. Er trat ein in das winzige Häuschen. Ein beeindruckender Ort. Der wohlhabende junge Mann hatte die großzügige, komfortable Familienwohnung verlassen, um sie gegen ein klammes, einfaches Zimmerchen ohne eigene Toilette einzutauschen. Er war ganz und gar eingetaucht in die Welt, aus der er seine Figuren erschuf.
Eine Frau ging vorbei, sein Körper sandte Warnsignale aus, doch er wusste nicht, warum.
Später, als er langsam den Abstieg antrat, war er noch immer ganz in Gedanken bei dem großen Kafka. Mit jedem Schritt, den er auf dem historischen Pflaster machte, wurde er ein bisschen mehr wie er, genauso mager, kränklich, voller Verzweiflung über den Lauf der Welt. Das Einzige, das seine Trauer von Zeit zu Zeit vertrieb, war die Musik. In einem kleinen Geschäft hatte er am Morgen einen Satz Saiten für seine Gitarre gekauft, sie würden ihn immer an Prag erinnern, wenn er sie zum Klingen brachte.
Unten, am Fuß des Hradschin wurde ein Kammerkonzert gegeben. Er erstand spontan eine Eintrittskarte und ließ sich zu den Klängen barocker Melodien aus seiner Depression tragen. Nahezu beschwingt verließ er nach einer Stunde die Kirche und schlenderte zur Karlsbrücke – am anderen Ende würde es besser werden.
Da war sie wieder, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Warum nur? Und warum nahm der Gedanke an Gregor Samsa immer mehr Raum in ihm ein? War Gregor am Ende nicht Kafkas Figur sondern Kafka selbst? Und dann wusste er es! Sie war es! Sie war Gregor Samsas Schwester, die den eigenen Bruder nicht verstand, sich vor ihm fürchtete und ihn am Ende einfach hatte stehen lassen. Sie ließ jeden stehen, der ihr fremd war, der ihr Angst machte, den sie nicht verstand. Er hatte sie nicht erkannt, weil sie sich verkleidet hatte als eine, die in der Masse unterging. Aber sie konnte sich vor ihm nicht verstecken, nicht vor Enno, nicht vor Franz, nicht vor Gregor. Er kannte sie. Was hatte sie vor? Unauffällig heftete er sich an ihre Fersen. Auf der Karlsbrücke war das kein Problem, bei den Massen, die sich noch immer hier entlang schoben. Er hätte sie beinahe aus den Augen verloren. Am anderen Ende bog sie rechts ab und ging längs der Moldau. Hier lichtete sich die Menschenmenge und er musste deutlich mehr Abstand halten. Sie steuerte auf das Nationaltheater zu, sie war also nicht auf dem Heimweg, das war eindeutig die falsche Richtung. Was führte sie im Schilde?
Am Theater angekommen, betrat sie die Brücke, die zur Insel führte. War das eine Falle? Er erinnerte sich noch gut an jeden einzelnen Spaziergang, den er hier unternommen hatte und an den tiefen Frieden, der sich dabei in ihm ausgebreitet hatte. Wollte sie das nun auch zerstören? Die innere Anspannung beschleunigte seinen Puls und seinen Atem. Er musste seine Schritte zügeln, denn sie schlenderte nur, kontinuierlich zwar, aber langsam. Sie wanderte die Insel der Länge nach ab. Dann setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete den Fluss. Er verbarg sich im Schatten eines Baumes. Wollte sie ihn anlocken, sich zu ihr zu setzen? Verlangte sie etwa Vergebung? Vergebung für ihre Nachlässigkeit, ihre Lieblosigkeit und ihre Illoyalität, die sie perfekt unter ihrer Maske der besorgten, hingebungsvollen und aufopferungsvollen Schwester verbarg? Reglos saß sie da und auch er rührte sich nicht vom Fleck. Er wagte es nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie auf und ging auf das Flussufer zu. Wollte sie sich nun etwa selbst bestrafen? Doch sie ging nicht ins Wasser, nein, sie ging in die Hocke. Sie plante etwas. Er wusste nicht was, aber es war sicher nichts Gutes. Wie ferngesteuert glitt seine rechte Hand in die geräumige Tasche seiner sommerlichen Leinenhose. Da waren die Gitarrensaiten. Er musste sie aufhalten, sie bestrafen und verhindern, dass sie noch mehr Leben zerstörte und jetzt wusste er auch wie. Die tiefe E-Saite war am griffigsten, die glitt einem nicht so leicht durch die Finger. Er zog sie behutsam aus der Hülle und wickelte die Enden um seine Hände. Er ließ genug Platz dazwischen, damit sich der Draht einmal um ihren Hals wickeln und zuziehen ließ. Er hatte schon immer das perfekte Augenmaß gehabt. Er trat lautlos an sie heran. Es ging ganz leicht. Er drückte seine Knie gegen ihre Schultern, damit sie nicht umfiel. Sie versuchte die Saite von ihrem Hals zu lösen, das war natürlich zwecklos. Sie ruderte mit den Armen, versuchte, ihn hinter sich zu fassen zu kriegen, aber sie hatte kaum noch Kraft. Dann sackte sie in sich zusammen und Enno konnte deutlich spüren, wie das Leben aus ihr wich. Er, Gregor Samsa, Franz Kafka, Enno Horstmeier aus Höxter hatte sie endlich besiegt. Und die E-Saite würde mit dieser Patina voller klingen als je eine E-Saite zuvor.
ENDE

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Glaubst ...
... Du nicht, dass diese Saite auch seine Hände zerschnitten hat und sich somit seine DNA mit ihrer vermischte?

Ich finde die Erzählung aus drei Perspektiven gelungen, trotzdem lässt sie mich irgendwie unbefriedigt zurück.

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Hättest Du gern...
...,dass die Polizei den Mord noch aufklärt?

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Oh mei ...
... was ich gerne hätte ist doch unerheblich. ;O)
Vielleicht verbessert es das Wohlgefühl ein wenig, aber "normalerweise" würde der Mord ja sowieso aufgeklärt werden, in heutiger Zeit.

Ich finde da irgendwie Ungereimtheiten und zu viele Zufälle auf einem Haufen um "zufrieden" zu sein.
Es ist ein Gefühl, keine feststehende Tatsache und "eigentlich" auch nicht schlimm, nur verwunderlich.
Für mich.

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Makaber ...
... das mit der Saite ...

Man kann bald wirklich nirgendwo mehr hinreisen ... ;o)

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Welch irritierende Schlussfolgerung,
er hätte ihr doch auch in ihrer neuen Wahlheimat oder in ihrer Heimatstadt zufällig begegnen können, wobei er dort zugegebenermaßen vermutlich nicht diesem Wahn verfallen wäre, sie sei Gregor Samsas Schwester. Aber vielleicht gab es ja auch mal die Hexen von Höxter, wer weiß...

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War das auf mich gemünzt ...
... mit der irritierenden Schlussfolgerung?

Das war doch nur Spass von meiner Seite ... ;o) ... das sagen alte Omis doch immer, wenn sie was Schlimmes in der Zeitung lesen.

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Ja, Birgit,
das galt Deinem Kommentar. Aber so bierernst habe ich das jetzt auch nicht genommen. Vielleicht aber auch doch, denn offen gestanden gehen mir selbst ganz oft solche Gedanken durch den Kopf, wenn es wieder irgendwo knallt oder jemand AmoK läuft. Mein Verstand sagt mir, überall kann was passieren, mein Bauch dagegen, ja aber Hauptstädte, öffentliche Verkehrsmittel, dunkle Parks, soziale Brennpunkte... und außer in Bosseborn geht ja auch selten durch die Medien, dass es in Kleinkleckersdorf einen besonders dramatischen Fall von Gewalt gab. Schon gar keine Terroranschläge. Hoffentlich habe ich da jetzt keinen Klötenbetbruder auf dumme Gedanken gebracht.

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Ja, überall kann einem was passieren ...
... nur an einigen Orten ist die Wahrscheinlichkeit grösser. Daher wede ich nicht nach Afganistan, Syrien oder so reisen. Oder an einen Ort, zu dem gerade ein Hurricane unterwegs ist. Wie sagt man so schön: man soll das Schicksal nicht herausfordern.

2012 haben wir ja um ein Haar das grosse Erdbeben in der Emilia Romagna umgangen. Wir kamen am nächsten Tag durch ...

Oder das Jahr, in dem Anschläge in Paris stattfanden (schon länger her). An der einen Metro-Station waren wir gerade am Tag vorher gewesen. Man kann solche Dinge nicht umgehen.

Aber in den Jahren, als die IRA-Anschläge in den Underground-Tunneln in London so häufig waren, bin ich also überirdisch gefahren. Ich wollte nicht da unten gefangen sein im Falle eines Falles.

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