Freitag, 6. Dezember 2019
Nur die Katze war Zeuge
Ich muss eben noch Louis eine Nachricht schicken, dass wir uns erst nächste Woche wieder treffen, sonst stehen die morgen alle vor der Tür. Wo ist es denn hin, das ungeliebte Artefakt? Ach, verdammt, im Gemeindehaus vergessen und ich dachte doch noch, hoffentlich denke ich dran, es nachher wieder mitzunehmen. Na toll, muss ich noch mal den Laptop hochfahren und allen eine E-mail schicken. Irgendwer wird hoffentlich reingucken und die Botschaft in die Gruppe schreiben.

Es roch komisch. Bosse weigerte sich aufzuwachen, aber etwas in ihm mahnte: steh auf, lauf weg, hier stimmt etwas nicht. Die Filztante hatte ihn vergessen, das tat sie sonst nie, aber heute war sie hektisch aufgebrochen und hatte ihn einfach eingeschlossen. Er hatte Durst, er brauchte frische Luft. Mau. Ob ihn jemand hörte? Miau. Nichts regte sich Miaooooo!!! Keine Reaktion. Nur die Kuscheltiere starrten ihn vorwurfsvoll an. Was kann ich dafür, fauchte er in Richtung der Riesenmaus, die ihm schon lange ein Dorn im Auge war und in ihrer orangen Pracht auf dem Aktenschrank thronte. Irgendwann würde er sie mit seinen scharfen Krallen zerfetzen. Daneben, die kleine Katze aus Kaninchenfell, die rührte sein Herz. Aber sie war kalt wie Eis, hart wie Stein, und unbewegt wie totes Holz. Eine einzige Enttäuschung. Es war schrecklich warm hier drin und die Luft war schlecht. Komm, Filztante, dachte er, lass mich raus. Miaooooooooooooooo!

Die Flammen schlugen in den Himmel, die Zweige der schönen, alten Rotbuche hatten bereits Feuer gefangen und die freiwillige Feuerwehr hatte stundenlang zu tun, bis der Brand endlich gelöscht war. Am Ende lag da nur noch ein Haufen Kohle auf den Fundamenten, das war der Nachteil von Holzrahmenbauweise, im Brandfall blieb kaum etwas übrig.

Es roch komisch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie bog um die Ecke und sah deutlich, dass tatsächlich etwas aus dem Lot geraten war. Als sie näher kam, konnte sie es erkennen: Es hatte ein verheerendes Feuer gegeben. Es schnürte ihr die Kehle zu. Das Ladekabel, der Akku, es war ihre Schuld. Sie kam vor dem Schutthaufen zum Stehen. Dann zog sich die Schnur um ihre Kehle noch fester zusammen. Bosse. Er hatte sich in ihrem Büro schlafen gelegt. Sie hatte ihn eingeschlossen. Es hatte für ihn kein Entkommen gegeben. Der seidige Kater war jämmerlich verbrannt. Sie würden sie vierteilen. Bei der Untersuchung würden die Reste ihres Handys gefunden werden. Sie hatte das Gemeindehaus in Schutt und Asche gelegt, wenn auch versehentlich, aber sie war verantwortlich für den unermesslichen Schaden, für den grausamen Tod einer kleinen Katze und vielleicht auch… Wann hatte die Hütte gebrannt? War jemand im Haus gewesen und hatte am Ende genauso in der Falle gesessen wie der kleine Bosse?
Ihr Kopf fuhr Karussell. So ging es nicht. Das ging so nicht. Das würde nie wieder gehen. Das würde nie wieder gut werden. Wie sollte sie damit leben? Wie den anderen in die Augen sehen? Wie ihr eigenes Spiegelbild ertragen? Sie brauchte Abstand, musste schnell weg hier. Sie stieg wieder ins Auto und fuhr, fuhr, fuhr. Immer geradeaus auf der breiten Bundesstraße, bis zur nächsten, die noch breiter war, mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von einhundert Kilometern pro Stunde. Sie kam auf 150. Die Lärmschutzwand fand sie immer schon hässlich. Und dann war es gut.

Er betrachtete zufrieden sein Werk. Ausgelacht hatten sie ihn. Zuerst wegen seines Glaubens, der umso viel unerschütterlicher war, als der dieser erbärmlichen Zweifler und notorischen Sünder, die achtlos in den Tag hineinlebten, sich wild durcheinander paarten, konsumierten und alles zumüllten ohne Rücksicht auf Verluste, die den Herrn verhöhnten und all jene, die ihn liebten und fürchteten.
Danach hatten sie ihn immer weniger ernst genommen. Alle seine Warnungen hatten sie in den Wind geschlagen. Wenn er ihnen die Sicherheitsrisiken vor Augen gehalten hatte, hatten sie ihm mangelndes Gottvertrauen vorgeworfen, ausgerechnet ihm, dem Treuen, ausgerechnet sie, die Frevler. Nie hatten sie die Wasserkocher ausgestöpselt, drei Mal schon vergessen, den E-Herd auszuschalten, Fenster waren nicht verschlossen worden und überall brannten ungesicherte Kerzen, gern auch auf trockenem Tannengrün platziert. Es wäre früher oder später sowieso geschehen, er hatte nur für den perfekten Zeitpunkt gesorgt. Nun würden ihnen das Lachen vergehen und er hatte am Ende Recht behalten. Vielleicht würden sie jetzt endlich umkehren, ihre Sündhaftigkeit erkennen und Buße tun.

Für Lenni brach die Welt zusammen, als er von dem tragischen Unfall hörte. Sie war sein Fels in der Brandung gewesen und jetzt war sie einfach weg, von einem Moment zum anderen. Sie hatte eine Familie gehabt, Freunde, ein richtiges Leben, nicht so ein von einer Katastrophe in die andere Gleiten wie er. Aber es war besser geworden, sie hatte ihn unterstützt, von nun an würde sich die Schlagzahl der Katastrophen wieder erhöhen. Und er wäre ihnen schutzlos ausgeliefert.

Bosse lag unter dem Johannisbeer-Busch. Warum war die Filztante sofort wieder abgehauen? Er wollte sie gerade begrüßen, in ihr Auto springen, sicher kannte sie einen anderen guten Ort, wohin sie ihn hätte mitnehmen können. Aber am nächsten Tag war ihr Maskottchen hier heulend herumgeschlichen, ihr musste etwas zugestoßen sein. So ein Jammer, ausgerechnet eine von den netten Menschen, gab doch genug Exemplare, die nur ein Furunkel am Arsch der Welt waren, warum konnte es nicht die einmal erwischen? Solche wie dieser alte Grantler, den er hinter der Hecke bemerkt hatte, nachdem er aus dem heißen Büro herausgekommen war, weil die Filztante es versäumt hatte, das Velux-Fenster ordnungsgemäß zu verschließen. Er hatte es schließlich vom Schreibtisch aus aufgedrückt bekommen und war über das Dach geflüchtet. Der Sprung von da oben saß ihm immer noch in den Knochen, aber er hatte es überlebt. Im Gegensatz zu der fetten Maus und der kalten, kleinen Katze. Der kalten Katze war wenigstens einmal richtig heiß geworden. Jetzt war nur noch kalte Asche von ihr übrig. Von der Filztante womöglich auch. So ein Jammer. Der alte Grantler schlich hier immer noch herum und rieb sich heimlich die Hände. Er hatte Bosses schöne, warme Zuflucht kaputt gemacht und der seidige Kater hatte keine Möglichkeit, irgendjemanden darauf aufmerksam zu machen. Die kochende Wut in seinem kleinen Bauch vertrieb die herbstliche Kälte aus seinen Knochen. Sie machte ihn stark. Sie machte ihm Mut. Und sie schärfte seinen Verstand. Der Apfelbaum an der Straße war ein guter Ausgangspunkt. Hier lauerte er dem radelnden, alten Grantler auf. Für die Filztante, dachte er, als er ihm mitten ins Gesicht sprang und sich in seiner mürben Haut festkrallte. Er brachte ihn zu Fall und konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor der LKW sie beide überrollt hätte.

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Freitag, 29. November 2019
Short Plot
Advent, Advent, die Hütte brennt.
Erst brennt die Katze,
dann die Maus
und dann brennt das Gemeindehaus.

Die Schuld wiegt schwer.
Es geht nicht mehr.
Drum macht sie Schluss.
Hätt' sie gewusst...

Verkohlt das Holz
jemand ist stolz
jemand bedauert
die Katze trauert

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Freitag, 22. November 2019
Schwester der Braut
Katja quälte sich aus dem Bett. Schon wieder ein Wochenende, wo sie nicht zur Ruhe kam. Letzte Woche der Junggesellinnen-Abschied, mein Gott, was hatten sie alles gesoffen und dazu so viel. Linda hatte schon um Mitternacht über der Kloschüssel gehangen und war vorzeitig mit dem Taxi nach Hause gefahren. Keine dumme Strategie. Vielleicht war das Erbrechen nur vorgetäuscht. Katja hatte bis zum bitteren Ende durchgehalten, bis sechs Uhr morgens, wo sie schließlich bei Vogelgezwitscher vor dem Supermarkt, der die ersten Brötchen und den ersten Filterkaffee verkaufte, gefrühstückt hatten, um den zerstörten Sonntag anschließend im Bett zu verbringen.
Der Job hatte sie fünf Tage lang geschlaucht und heute war das große Fest. Als Trauzeugin an Francas Seite hatte sie alle Hände voll zu tun, um ihre Schwester an diesen eitlen Gecken auszuliefern, den Katja von Anfang an nicht ausstehen konnte. Sie musste ihn ja nicht lieben – wäre auch ein eher ein Problem gewesen, wenn sie es getan hätte – aber warum um Himmels Willen hatte Franca sich einen dermaßen selbstverliebten Dressman geangelt, der sein Herrenmenschen-Auftreten damit legitimierte, dass er einem traditionsreichen Adelsgeschlecht entstammte? Leider stand Franca auf dieses Gedöns, hatte Jahrelang vor den miesen Pilcher-Filmen geschmachtet, dabei war sie eigentlich gar nicht so, war sogar einmal Frauenbeauftragte in der Bezirks-Schülervertretung gewesen. BSV - gab es so etwas eigentlich noch oder checkten alle nur noch die Eingänge ihrer Messanger-Dienste?

Die Gesichtshaut brannte noch immer von der vitalisierenden Maske, aber da musste sie durch, wenn sie am schönsten Tag ihres Lebens gut aussehen wollte. Franca hatte ein bisschen zu wenig geschlafen in der Nacht, das hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, aber zum Glück war sie viel zu aufgeregt, um müde zu sein. Es würde sicher witzig mit den ganzen Brautjungfern, wie in einem amerikanischen Film, nur dass sie nicht uniformiert auftraten, sondern einfach das anzogen, worin sie sich wohlfühlten. Sie hatte sich anfangs ein wenig gewundert über Friedrichs seltsame Vorstellungen, aber so war er nun einmal sozialisiert und wer war sie, dass sie sich über seine Eigenheiten lustig gemacht hätte? Gut, in das geplante Mitternachtsspiel hätte er sie schon einweihen können, schließlich hatten sie eine Aufgabe, aber Franca ließ ihren Zukünftigen gewähren. Er hatte sie schon oft überrascht mit irritierenden Entscheidungen, die sich in der Konsequenz als gut durchdacht und effektiv erwiesen hatten. Es würde eine wunderschöne, lustige, lebendige und spannende Hochzeit, der perfekte Start in ein perfektes Leben zu zweit.

Tropfnass stand Leandra vor ihrem Bett, die Flasche mit dem Rosenöl in der Hand und kapitulierte, ob sie wirklich alles zusammen hatte, während sie sanft das duftende Öl in die noch feuchte Haut einmassierte. Neben der Handtasche lag unter anderem ihr Mobiltelefon, gerade voll auf geladen. So richtig konnte sie sich das mit Friedrichs Herzenswunsch noch nicht vorstellen, eine Schnitzeljagd mit voll auf geladenen Handys, was er sich dabei wohl gedacht hatte? Sie hatte nachgefragt, aber mehr hatte er nicht verraten wollen. Sie überlegte: Wer weiß, wann die Geräte zum Einsatz kommen? Wenn ich es jetzt nicht ausstelle, ist es vielleicht nicht mehr voll, wenn ich es brauche. Aber wenn ich stundenlang nicht erreichbar bin, und Vincent meldet sich und ich reagiere nicht, denkt er vielleicht, ich hätte kein Interesse mehr. Besser, ich nehme noch meine Powerbank mit, die ist ja auch voll aufgeladen.

Er hatte alle noch einmal angerufen, denn er wollte die perfekte Inszenierung ohne peinliche Störfälle. Ein letzter korrigierender Blick in den Spiegel, Erprobung der wichtigsten Gesichtsausdrücke und dann lächelte er nur noch zufrieden in sich hinein. Er würde heute die schönste Frau der Stadt heiraten, liebenswert und voller Hingabe, ein bisschen wild zuweilen, aber das würde sie im Laufe der Jahre ablegen, dafür würde er schon sorgen. Und er wollte ihr das perfekte Erlebnis bieten, einen Tag, den sie immer als den denkwürdigsten ihres Lebens in Erinnerung behalten sollte – den Gästen sollte es im übrigen ebenso ergehen. Ihre Freundinnen waren dabei sein Zugeständnis an seine Frau. Er hoffte inständig, dass ihr sehr bald auffallen würde, wie wenig gesellschaftsfähig, wie substanzlos und uninteressant die meisten dieser Hühner waren. Vielleicht würde schon das eine oder andere Ereignis heute Abend ihr die Augen öffnen.

Victoria blinzelte in die Mittagssonne, dann schrak sie auf. Verdammt! In zwei Stunden muss ich in der Kirche sein! Peeling, Duschen, rasieren, Haare stylen, Fingernägel… wie sollte sie das nur schaffen? Sie wäre gestern besser früh schlafen gegangen, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Etwa Hundert Minuten später stand sie abfahrtsbereit in der Tür, noch ein letzter Blick in die Handtasche: Oh je, das Handy fehlte, es hing noch am Ladekabel. Schnell zupfte sie das Gerät vom Netzteil und zog den Stecker. Jetzt aber los, sie durfte auf keinen Fall zu spät kommen, wenn die beste Freundin heiratete.

Alle kamen pünktlich und es war eine Bilderbuch-Trauung. Der Empfang im Burghof war filmreif, ebenso wie das Essen und der Eröffnungswalzer im Bankett-Saal. Zuerst waren alle wie berauscht von der gediegenen Atmosphäre, aber irgendwann lehnte Linda sich zu Katja hinüber und raunte: „Wenn ich gewusst hätte, dass das hier eine Großeltern-Tanzveranstaltung wird, hätte ich vorher ‘ne Line gezogen, um nicht einzuschlafen. Und was sollte das eigentlich mit den geladenen Handys?“
Katja zuckte mit den Schultern und musste sich auf die Lippen beißen, um sich nicht abfällig über ihren Schwager zu äußern. Sie stürzte den vierten Champagner hinunter.
Alle hingen schon halb in den Seilen als plötzlich ein Trommelwirbel ertönte und der Sänger der Tanzkapelle eine Durchsage machte:“Die Trauzeugen sind gebeten sich in den nächsten zehn Minuten bereit zu machen und am Eingang des Verlieses zu sammeln, um den übrigen Gästen den Weg auszuleuchten.“
„Oh“, rief Leandra. „Ich bin entzückt! Ein Geländespiel im Kellergewölbe. Was wird das wohl? Eine Schatzsuche?“
„Ich vermute, da findet endlich die richtige Party statt.“, erklärte Linda. „Wird auch langsam Zeit, ist gleich schon zwölf.“
„Uhu, Mitternacht“, raunte Victoria. „Bestimmt hat Fritzi die unterirdischen Gänge in eine Geisterbahn verwandeln lassen und wir müssen die Skelette, Mumien, Hexen und Mordopfer hübsch ausleuchten. Scheiße, meine Taschenlampe frisst tierisch Akku.“
Victoria kontrollierte ihr Handy und erschrak: „Das hält höchstens noch zehn Minuten. Leandra, du bist doch immer so gut organisiert, hast du vielleicht ne Powerbank dabei?“
„Schon.“, erwiderte Leandra, „aber mein Handy ist genauso leer und man kann nicht zwei an eine Powerbank hängen. Hör dich besser unter den anderen Gästen um, vielleicht findest du jemanden.“
Seufzend machte Victoria sich auf den Weg und mit ihr vier andere Brautjungfern, die verzweifelt jeden einzelnen Gast um eine Powerbank anflehten.

Pünktlich zu Mitternacht sammelten sich die Brautjungfern und auch die männlichen Brautführer am Eingang zum Kellergewölbe, wo die Eheleute schießlich auftauchten und Friedrich erklärte: „Wir zwei gehen voran, ihr folgt uns und alle paar Meter bleibt eine oder einer von euch stehen und leuchtet mit der Handytaschenlampe auf ein Bild oder Symbol, das ich euch zeige. Damit weist ihr den Gästen Weg. Kleine Schnitzeljagd in den Folterkeller, da läuft dann die etwas aufgewecktere Musik.“
Er grinste breit und die Freundinnen der Braut waren nicht sicher, ob sie sich freuen sollten oder ob ihnen diese Aussicht Angst machte.
„Es fehlen noch fünf.“, gab Katja zu bedenken. „Die suchen noch Saft für ihre Handys.“
„ Dann müssen wir eben ein paar Hinweise weglassen, das krieg ich hin. Wer zu spät kommt, muss draußen bleiben.“, erwiderte Friedrich trocken und setzte den Zug in Bewegung.
Es erwies sich als großer Spaß für alle Beteiligten, durch die spärlich beleuchteten Gänge zu streifen und nicht zu wissen, wohin es einen trieb. Schließlich gelangten alle in einen formidabel dekorierten und atmosphärisch perfekt ausgeleuchteten Gewölberaum, mit Bar und kuscheligen Sitzecken, einer runden Tanzfläche und der Musik, die der Generation und der Peergroup der Brautleute entsprach. Die älteren Herrschaften, weilten noch ein wenig im Bankettsaal, nachdem sie sich bereits von den Brautleuten verabschiedet hatten. Hier ging jetzt richtig der Punk ab und mit einem breiten Grinsen schloss Friedrich eine schwere, mit dicken Eisenbeschlägen verstärkte, uralte Eichentür, die krachend ins Schloss fiel.
„Schon schaurig.“, bemerkten einige Gäste. „Man kommt sich vor wie in der Grabkammer einer Pyramide.“
„No Roots“ war gerade gefeiert worden, da bemerkte Leandra ein Geräusch, als hätte der Schlagzeuger sich im Rhythmus geirrt. Da klopfte jemand an die Tür. Es gab eine kleine Klappe, ein Sichtfenster, das sich öffnen ließ. Sie sah hindurch und auf der anderen Seite standen Victoria und vier weitere gute Freundinnen von Franca.
„Lasst uns rein“, brüllte Victoria. „Wir haben uns von ein paar alten Kerlen die Powerbanks ausgeliehen, wir sind ausgestattet.“ Sie lachte aufgedreht.
„Ich weiß gar nicht, ob ich die Tür auf bekomme.“, erwiderte Leandra. „Friedrich hat abgeschlossen.“
„Ey Fritzi!“, brüllte Victoria. „Jetzt hör auf mit dem Scheiß und lass uns rein. Wir sind zum Feiern hier und unsere Taschenlampen sind voll fett. Jetzt wollen wir tanzen und uns richtig einen auf die Lampe gießen.“
Friedrich kam an die Tür und sagte: „Ihr seid zu spät. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen, seine Freunde schon. Auf euch kann man sich nicht verlassen. Schönes Leben noch.“
Mit einem Knall schloss er die Klappe des Sichtfensters. Leandra fiel die Kinnlade herunter. „Dein Ernst?“, fragte sie entsetzt.
„Mein voller.“
„Und was sagt Franca dazu?“
„Franca ist meine Frau. Sie sieht das genauso wie ich.“
Mit erhobenem Kopf rauschte er ab. Katja hatte alles mitangesehen und gehört. Sie stellte ihr Glas ab und suchte Franca.
„Hör mal, Schwesterherz“, sagte sie, “hast du gerade mitbekommen, dass dein werter Herr Gatte fünf deiner besten Freundinnen einfach vor die Tür gesetzt hat, nur weil sie keine aufgeladenen Handys mehr hatten, um in seinem blöden Spiel einwandfrei zu funktionieren?“
„Wie bitte?“
„Ja, Linda, Vicki und die drei, die du von der Arbeit kennst, dürfen nicht rein, weil sie zu spät gekommen sind. Friedrich meinte, man könne sich nicht auf sie verlassen und hat ihnen auch in deinem Namen die Freundschaft gekündigt.“
„Aber das kann er doch nicht bringen!“
„Hat er aber.“
Franca rannte zur Tür und versuchte vergeblich, sie zu öffnen. Dann lief sie zu ihrem Bräutigam, fasste ihn an die Schulter, riss ihn herum und schrie: „Gib mir sofort den Schlüssel!“
„Welchen Schlüssel?“
„Für die Tür da. Ich muss wieder gerade biegen, was du eben versaut hast. Du kannst doch nicht einfach meine Freundinnen rausschmeißen, was fällt dir ein?“
„Ich habe sie nicht rausgeschmissen, ich habe sie nicht rein gelassen. So wie die dich behandelt haben, sind die kein großer Verlust. Meinetwegen schließ die Tür auf, ich glaube nicht, dass die noch da sind. Haben sich sicher auf den Weg in irgend einen Club gemacht, um sich zu besaufen. Die sind nicht wegen dir her gekommen, die wollen einfach nur feiern. Freu dich lieber an deinen echten Freundinnen.“
„Den Schlüssel!“, zischte Franca.
Lässig übergab Friedrich seiner Frau das begehrte Objekt. Die stürzte zur Tür und in den Gang hinaus, aber Friedrichs Prognose erwies sich als zutreffend. Franca wollte ihren taufrischen Ehemann anschreien, auf ihn einprügeln, aber sie war so überwältigt von Schmerz, Wut und Enttäuschung, dass sie nur noch laut schluchzend weinen konnte und Friedrich nutzte die Gunst der weiblichen Sprachlosigkeit, um mit gezielten Zärtlichkeiten beruhigend auf sie einzureden, das funktionierte immer bei Franca, Gott wusste warum.

Als sich der Bräutigam gegen drei Uhr aufmachte, um neuen Wein zu holen, schlich ihm jemand hinterher. Er kehrte nicht aus dem Weinkeller zurück. Man fand ihn mit eingeschlagenem Schädel. Auf dem Flaschenhals waren keine Abdrücke. Katja hatte die feinen Glaceehandschuhe noch in der Handtasche gehabt. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre wunderbare Schwester, sich an ein solches Scheusal verschwendete, auch wenn sie in ein paar Jahren noch einmal einen Junggesellinnen-Abschied feiern müsste, das war es ihr wert gewesen.

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Samstag, 16. November 2019
Konfi-Event
Es sah aus wie ein Flashmob und im Prinzip war es auch einer, nur hatte diejenige, die ihn initiiert hatte, ihn nicht als solchen geplant. Sie hatte das erlebnispädagogische Spiel im Möbelkaufhaus schon etliche Male mit Konfirmationsgruppen veranstaltet, die Jugendlichen in Kleingruppen losgeschickt, um Preise herauszufinden, Details zu suchen, Dinge abzuzeichnen, Filmchen in den Ausstellungswohnungen zu drehen und ausgewählte Dinge einzukaufen, für die sie ihnen das Geld zur Verfügung stellte. Am Ende erzählte sie ihnen die Geschichte von den anvertrauten Talenten, frei nach dem Matthäus-Evangelium, die Sieger freuten sich, dass sie die erworbenen Kinkerlitzchen behalten durften und alle anderen nahmen ein unvergessliches Erlebnis mit nach Hause. Zwanzig bis dreißig Teilnehmende hatte sie jedes Mal dabei gehabt, diesmal waren es deutlich mehr, der Vorraum füllte sich und das Herz sank ihr in die Hose, wenn sie daran dachte, dass sie gleich im Restaurant 80-100 Konfis die Spielregeln erklären musste, da nützten auch 20 ehrenamtliche Helfer*innen nichts, Ruhe würde sie in diesen Haufen nicht bekommen.

Irgendwie ging das Spiel dann doch los und in der ganzen Ausstellungshalle wimmelte es von Heranwachsenden.
Lisa und Annalena spielten ein Lesbenpaar, das die adoptierten Töchter zum Spielen nach draußen schickte, um etwas Zeit ungestört miteinander verbringen zu können, aber die Töchter weigerten sich standhaft.
Nach zwanzig Minuten suchte Leander noch immer nach dem Kaktus in der Lifestyle-Wohnung, denn unter diesem befand sich ein wichtiger Hinweis. Er war zu sehr fixiert auf lebende Pflanzen und erkannte in dem Porzellangebilde keineswegs das gesuchte Objekt. Emily hielt schon eine Nachttischlampe für schlappe drei Euro in der Hand wie eine Jagstrophäe, als sie gewahr wurde, dass man mit einer Kerze für 99 Cent im Viererpack ja auch im Dunkeln lesen konnte. Viola und Timm hatten sich abgesetzt und knutschten im romantischen Wohnzimmer vor dem Kamin. Das Personal reagierte zum Teil amüsiert, zum Teil aber auch irritiert und sehr verunsichert. Besonders wild war die Gruppe um Ole, mit Dennis, René, Benedikt und Anton. Ihre Witze waren allesamt unter der Gürtellinie, sie waren laut, raumgreifend und übertrieben einfach alles.Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Stimmung kippen würde.

Nach etwa einer Stunde kam die befürchtete Durchsage: Spiel abbrechen, alle Konfigruppen sollen das Kaufhaus verlassen. Sie cruiste durch die Gänge und schickte alle Gruppen, die ihr über den Weg liefen, zur Kasse. Einige beklagten sich, sie seien von den Mitarbeitern des Kaufhauses wüst beschimpft und zum sofortigen Verlassen des Gebäudes aufgefordert worden. Aus der 50qm-Wohnung kam ihr Anton entgegen. Jedes Mal, wenn sie in die kalten Augen des Jungen blickte, begann sie zu frieren und ein diffuses Unbehagen kroch durch ihre Adern.
„Ihr müsst alle zur Kasse gehen. Sind da noch mehr aus deiner Gruppe?“
Anton antwortete nicht, ging wortlos an ihr vorbei, als sei es unter seiner Würde, das Wort an eine Frau zu richten. Ihr Blick wanderte durch die Wohnung. Oh mein Gott, das Bett war vollkommen zerwühlt, offensichtlich hatten die Konfis sich da hinein gelegt, statt die Betten mit den Schonbezügen zu benutzen. Kein Wunder, dass die Möbelhauscrew auf Krawall gebürstet war.
Unter der Decke lugte eine schlaffe Hand hervor. War da jemand eingeschlafen? Oder wollten ein paar besonders Übermütige ein Spielchen mit ihr spielen?
Sie schlug die Decke zurück und spürte schon ein widerwärtiges Ziehen im Rücken, bevor ihr Verstand registriert hatte, was sie da vor sich sah: Einen Mann in der Kluft der Angestellten des Möbelhauses, mit weit geöffneten Augen und aufgerissenem Mund und lauter kleinen, blutroten Flecken in der Augenpartie, völlig erstarrt lag er da, unverkennbar, dass er in diesem Bett erstickt war. Unverkennbar war auch, dass er deutlich andere ethnische Wurzeln hatte, als der aschblonde, blauäugige Anton, der vor einem halben Jahr erklärt hatte, dass der 8. Mai ein Tag der Trauer sei für alle Deutschen, denn da habe man schließlich den Krieg verloren.
Diesen Kampf glaubte Anton gewonnen zu haben und sie wusste, dass er sie den Rest seines Lebens dafür hassen würde, dass sie ihm diesen Zahn ziehen würde.

Anton hatte nichts gemacht aus seinen anvertrauten Talenten, nicht einmal bewahrt hatte er sie, stattdessen alles vergeudet. Im Geist schickte sie ihn schon vor die Tore der Stadt, wo nichts war als Heulen und Zähneklappen.

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