Freitag, 2. Juni 2023
Inselkoller
Ich wusste nicht warum es mich immer wieder zu dieser Insel des Grauens zog. Vielleicht, weil wir am liebsten das tun, worin wir uns auskennen. Es war ja auch schön hier. Der milde Wind, der Duft des Wattenmeeres, die bisweilen schroffen und rauen Dünen, die Abwesenheit von Autos, die vielen Tiere, die Brandung, der helle, feine Sand, die traditionellen, friesischen Häuser, die mit roten Ziegeln gepflasterten Wege, die sich immer weich und warm an den nackten Fußsohlen anfühlten, nicht nur im Sommer.

Der letzte Horrortrip lag zwanzig Jahre zurück. Die Mutter-Kind-Kur, das Mädchenpensionat für erwachsene Frauen. Lieblose Ausstattung, wenig engagiertes, semiprofessionelles Personal, absonderliches Essen zu Zeiten, die meinen Biorhythmus durcheinander brachten. Unendlich viele Regeln und leere Versprechen: Ein Schwimmbad, das man praktisch nie nutzen konnte und dann auch nur mit schlechtem Gewissen, weil das Personal endlich Feierabend haben wollte, eine Kinderbetreuung bis 17.00 Uhr, wenn man zu der Zeit noch Anwendungen hatte. Dazu haufenweise Mütter, denen ich im Alltag stets aus dem Weg ging, mit übersteuerten Kindern ohne Potential. Ja, ich weiß, das klingt menschenverachtend, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass derartige Prognosen sich in 95 Prozent der Fälle bewahrheiten.
Ich hatte jedenfalls kaum Gelegenheit gehabt, Strand und Meer in vollen Zügen zu genießen. Vielleicht würde das dieses Mal anders laufen.

35 Jahre zuvor war ich als Ehrenamtliche Mitarbeiterin auf eine Jugendfreizeit mitgefahren. Schwer evangelisch war es da zugegangen. Dumm-fromme Lobpreislieder und sklavisch eingehaltene Andachts- und Gebetsrituale. 60 Teilnehmende mit erwachender Sexualität, die vor allem als strafrechtlich relevante Bedrohung wahrgenommen wurde.
Aber das alles war nicht das Schlimmste gewesen. Der alptraumhafte Leitungsstil der Jugendreferentin hatte mich für lange Zeit deutlich auf Distanz zur Kirche gehen lassen. Rauchen war nur in der Schmuddelecke am zugigen Seiteneingang erlaubt gewesen, damit die Teilnehmenden das nicht mitbekamen, ich erfülle schließlich eine Vorbildfunktion (und natürlich, damit die Raucherin sich beim Frönen ihrer Sucht auf keinen Fall wohlfühlte). Wenn ich dann rauchen ging, hagelte es Zurechtweisungen: Wo ich gewesen sei, man habe mich überall gesucht und nicht finden können, ob ich denn immerzu rauchen müsse.
Es gab hunderte von Regeln, die aber erst kommuniziert wurden, wenn man sie nicht befolgt hatte, die sogar neu erfunden wurden, um mich immer und immer wieder mit meiner Unzulänglichkeit zu konfrontieren. Der Kern des Teams bildete dabei eine meist schweigende Front gegen mich und eine weitere Mitarbeiterin, der sich die hunderte von ungeschriebenen Gesetzen ebenfalls nicht erschlossen. Die Stimmung drückte derart auf mein Gemüt, dass ich schließlich bei der Besprechung schluchzend zusammenbrach. Hier lenkte die Leitung ein, sie habe mir wohl zu viel zugemutet, offenbar sei ich überfordert. Ich hatte damals innerlich gekocht vor Wut, mich aber in Schweigen gehüllt und die Maßnahme einfach überstanden.

Die früheste Erinnerung liegt 46 Jahre zurück und von der Schönheit der Landschaft und der Architektur hatte ich damals nur einen Bruchteil zu Gesicht bekommen. Drei Wochen Ferien auf der Insel. Nur für Kinder. Wie hatte ich mich darauf gefreut. Nach den Sommerferien ging es in die vierte Klasse und vorher winkte ein Abenteuer lindgrenschen Ausmaßes.
Mit dem Reisebus ging es Richtung Anleger, lauter Jungen und Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren, Kekse und Gummibärchen wurden herumgereicht, Vorfreude lag in der Luft. Am Anleger roch ich zum ersten Mal den Duft des Meeres: Salz, Algen, Wasser und ein Hauch von Verfall. Während der Überfahrt blickte ich ins tosende Kielwasser, danach ging es mit der Kutsche zuerst den Deich entlang und dann durch die Dünen. Umgeben von dunkelgrünen Hügeln stand die Jugendherberge, ein Koloss aus roten Ziegeln und weiß gerahmten Fenstern.
Die Zimmer waren schlicht, praktisch und eng. Sechs Mädchen im Achterzimmer verstanden sich ausgezeichnet. Ich gehörte nicht dazu. Frauke auch nicht, aber Frauke war seltsam, für kein gewöhnliches Spiel zu haben. Sie war ständig auf der Suche nach Essbarem und redete mit ihrer schwarzen Babypuppe, als sei sie lebendig und gebe Antworten. Darum war Frauke auch das Opfer im Zimmer. Ich selbst wurde nur übersehen. Besser so, als in Fraukes Rolle zu schlüpfen. Und ihre Freundin wollte ich lieber auch nicht sein.
Das Essen war entsetzlich: altes Brot, schnittfeste Marmelade, fettige Wurst, durchsichtiger Hagebuttentee. Mittags gab es meistens Salzkartoffeln mit totgekochtem Gemüse und glibberigem Fleisch. Nur Samstags matschige Nudeln und Sonntags Reis. Ich hatte immer Hunger und aß nur das Nötigste, sodass ich nicht auffiel.
Das Programm bestand aus Wandern, Ballsport und Basteln. Strandbesuche erfolgten zwei Mal wöchentlich und vom Ort bekam man gar nichts zu sehen, der war ja sechs Kilometer entfernt.
Abends wurden Gesellschaftsspiele angeboten, manchmal wurde vorgelesen. Wer sich beklagte oder nur etwas fragte, erhielt schroffe und abweisende Antworten. Außerdem riskierte man damit, ins Visier der Erzieher zu geraten. Das Beste war es, sich wegzuducken. Überall. Denn wer ins Visier der anderen Kinder geriet, war ebenfalls verraten und verkauft. Niemand griff ein, die Schwachen wurden nicht geschützt und die Täter mussten schon sehr offensichtlich zu Werke gehen, um eine Strafe zu riskieren. Man war der Ansicht, Kinder müssten lernen, Konflikte unter sich zu regeln ohne die Einmischung Erwachsener, Schwache mussten lernen, sich durchzusetzen.

Als Frauke eines Morgens leblos in ihrem Bett aufgefunden wurde, war mir klar, dass das nachts passiert sein musste, als Margit drei Mal "Halt‘s Maul!" zu Frauke hinüber gebrüllt hatte. Frauke lag im Bett mit Sintajehu, ihrer Puppe und flüsterte auf sie ein: "Nein, Sintajehu, du musst keine Angst haben, der Klabautermann holt dich nicht, du bist bei mir und ich bin in der Jugendherberge und hier lassen sie keine Gespenster rein. - Nein, der blanke Hans kommt nicht über den Deich, das passiert höchstens im Winter, vielleicht auch im Spätherbst oder im Frühjahr, aber niemals im Sommer. Das Meer ist ruhig und warm und schön."
Irgendwann reichte es Margit. Sie schlug die Decke zurück und stapfte zu Frauke. Sie trug ihr Federkissen vor sich her. "Jetzt ist Ruhe im Karton!", zischte sie und drückte Frauke das Kissen aufs Gesicht. Danach war Frauke still. Die ganze Nacht. Ich hatte gedacht, das seltsame Mädchen hätte aus Furcht geschwiegen, eingeschüchtert von der resoluten Margit. Aber Margit hatte wohl zu lange und zu fest gedrückt.
Es hieß dann, Frauke habe wohl ein schwaches Herz gehabt. Der Arzt konnte auch nichts Verdächtiges feststellen.

Die Ferien gingen noch fünf Tage. Und nun war ich das Opfer, denn Frauke war ja weg. Ich hätte Margit mit meinem Wissen erpressen können, aber dann wäre ich vielleicht die Nächste gewesen.
Wieder zu Hause hatte ich vier Kilogramm abgenommen. Ein neunjähriges, schlankes, gesundes Mädchen. Vier Kilogramm. Einfach so. Die Kinderärztin hackte nach. Die Eltern waren ratlos. Der Veranstalter wusch seine Hände in Unschuld. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres hatte ich alles wieder drauf. Dann war es ja gut. Niemand fragte mehr nach. Und ich wollte einfach nur noch alles vergessen.

Diesmal war es anders. Eine eigene Ferienwohnung, ein einwandfreies Mietfahrrad, genug Geld in der Tasche und nur ich, die Insel und das Meer. Ich würde den schlechten Erinnerungen davonradeln, -joggen, -schwimmen, -schlemmen.

Ich schob das Rad durch die Dünen. Zu viele Fußgänger und gleich wollte ich es ohnehin abstellen. Vor dem Toilettenhäuschen saß ein älteres Paar. Sie klopfte den Sand von ihren Füßen und schimpfte: "Kreuzsakra, warum haben die auf dieser Drecksinsel immernoch keine Fußduschen?"
"Können die Bayern nicht in ihrem Freistaat bleiben?", dachte ich und sah der übelgelaunten Süddeutschen ins missmutige Gesicht. Ein Blitz durchfuhr mich. Das war SIE und plötzlich war alles wieder da: Der Schmerz, die Alpträume, das Grummeln im Magen. "Ich bin die Margit." In diesem Satz lag nicht Freundliches, Einladendes oder Zugewandtes. Es war eine schlichte Feststellung. Ich bin die Margit. Ich bin die, die den Ton abgibt. Für mich nur das Beste. Ich zuerst. Alle anderen dürfen sich hinten anstellen.

Ihr Haar hätte eigentlich grau sein müssen, das Gesicht sah so aus, das Alter betonte die ohnehin harten Züge, ihre Unerbittlichkeit, die Abwesenheit von Mitgefühl.
Der Ziegelstein leuchtete dunkelrot und warm in der Sonne. Er schien auf mich gewartet zu haben. Der Gatte verkündete:"Ich verschwinde noch mal eben, die Fischplatte drückt."
Wir waren allein. Nur die bayuvarische Margit und ich. Sie putzte noch immer an ihren peinlich pedikürten Füßen herum, völlig versunken in der Fürsorge für sich selbst. Am Scheitel des kastanienbraunen Haares schimmerte ein weißer Ansatz. Hatte ich es mir doch gedacht.
Der Stein färbte den weißen Ansatz rot. So oder so. Es war mir egal. Sie fiel vornüber und stöhnte. Ich ging auf Nummer sicher: platzierte den zweiten Hieb an der Schläfe. Den Stein schleuderte ich tief in die Büsche zwischen Weißdorn und Heckenrosen. Niemand war auf den Wegen. Welch eine glückliche Fügung des Schicksals. Ich ging. Ich war schon am Wasserturm, als ich den brüllenden Schrei ihres Witwers hörte. Nicht mein Problem das sollten Sie mal schön unter sich ausmachen.
Margit…

Schon skurril dieses Duplizität der Namen - und der Charaktereigenschaften.
Meine Tochter hatte noch immer schwerwiegende soziale Ängste. Sie war so ein fröhliches, offenes, argloses und durchweg positives Kind gewesen. Bis sie erleben musste, dass Offenheit angreifbar macht, Arglosigkeit verletzlich und dass Positivismus von zerstörerischen Charakteren als Provokation erlebt wird..
Die bayuvarische Magit war mir sofort unangenehm aufgefallen: Sie hatte zu allem etwas zu sagen, eine klare Meinung, die gefälligst nicht anzuzweifeln war, niemals ein freundliches Lächeln, nur sarkastisches Grinsen oder höhnisches Gelächter. Ihre Kinder durften alles, solange sie ihrer Mutter nicht auf die Nerven gingen, und wenn sie sich mit absoluter Selbstverständlichkeit nahmen, was sie wollten, hatten sie ihre Segen. Wenn andere sich deswegen beklagten, weil sie selbst nicht zum Zuge kamen, zuckte Margit mit den Schultern. Sollten sie doch lernen, sich durchzusetzen. Sie war bedingungslos auf der Seite ihrer Kinder, selbst wenn sie Monster waren. Dabei wirkte es nicht einmal wie Mutterliebe, im Gegenteil: ihre Kinder waren der verlängerte Arm ihres Egos. Sie war eine Krake, der mit jedem Gebären ein neuer Arm wuchs.
Vermutlich würden ihre Kinder nicht einmal um sie trauern, sondern ihr Erbe antreten, Konten auflösen, sich um Anteile streiten, Steuern hinterziehen und Erträge zählen.
Und Margits Boshaftigkeit würde in ihnen weiterleben. Bestimmt gab es schon Enkel, um die Linie fortzusetzen.
Da hätte ich es eigentlich auch der Natur überlassen können. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied von de Horror-Insel. Für immer.

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