Freitag, 26. Mai 2023
Nicht mehr zu retten
Es war beinahe so, als hätten die letzten 40 Jahre nicht stattgefunden. Die Ökos aus sechs Dekaden, auf der Außenbühne Siebzigerjahre-Rock von Langhaarigen, miserabel abgemischt, überall schlurfende Indienröcke, Bier, Wein, Cola, Limo, kein alkoholfreies Bier, keine Cocktails. Pommes, Bratwurst, Pizza, Crêpes. Viel Volk auf den Naturwiesen rund um den alten Hof aus Fachwerk und roten Ziegelmauern.
Keine Neonazis, keine gepiercten Gesichter, kein Hafermilch-Macchiato, keine Seitan-Burger. Von der Bühne wurden Frieden und Lebensfreude verkündet. Nicht mehr und nicht weniger.

Wenn man sich immer zu den Revolutionären zählte, den Unkonventionellen, zur Avantgarde, den Enfants terribles und nun das zuletzt Genannte das Einzige ist, was bleibt, wenn das "please get out of the new one if you can‘t lend your hand" nicht mehr herausgeschrien wird, sondern einem zugerufen wird, dann ist das ein komisches Gefühl, wie ein Altern vor der Zeit, eine ideologische Frühvergreisung.

Ich habe doch gerade erst den Punkt in meinem Leben erreicht, von dem aus ich durchstarten wollte, um nicht zu sagen: es fehlen noch ein paar Meter.

Ich begehre immer noch auf gegen die starrsinnigen Alten, die sich eingerichtet haben und habe dabei gar nicht gemerkt, dass ich mich selbst gerade einrichte und verbissen verteidige, was ich erreicht habe.

Ich hielt mich für so besonders und ich bin so banal.

Aber dann war doch etwas anders. Luise stand da: bleich, schrill und äußerst seltsam. Ich kannte sie noch als Kindergartenkind. Sie sah mich an mit diesem Blick, der außer Hass und Wut auch Gift verspritzt. Gift, das die Seele versengt, Brandblasen hinterlässt und diffusen Schmerz.
Was hatte ich ihr getan?

Ich versuchte einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aber sie gönnte mir die Ruhe der unbehelligten und unbeschwerten Freizeitfrau nicht.

Ich wurde nicht schlau aus den Tiraden, die aus ihr herausbrachen. Da war die Rede von Geschlechtsrollenzuschreibung, kultureller Aneignung, Ignoranz von Hilferufen, Übersehen von Alarmsignalen - kurz ihre ganze überbordende private Not in Tateinheit mit jeder Sau, die in den letzten zwei Jahren gerade durchs Dorf getrieben wurde. Als wäre ich eine kleinbürgerliche, genderungerechte, transfeindliche, durch und durch rassistische, kulturell stecken gebliebene rechte Ratte - sozusagen das Gegenteil dessen, was ich zu sein dachte.

Und dann war ich nicht mehr. Ich sah noch die blitzende Klinge, spürte den Schmerz, der sich mehr wie ein Reißen anfühlte, ein Bersten und Platzen, dann wurde alles leiser und dunkler, dann war es still. Dann war es nicht.

Ich sah dem Treiben von außen zu, als betrachtete ich einen Film in drei D mit selbst gesteuerter Ballhausscher Kameraführung. Aufregung Luise wurde festgehalten. Jemand versuchte, mich zu retten. Zwecklos, ich war längst fort und es fühlte sich gut an. Was hätte ich auch als Lebende tun können, ratlos wie ich war? Wer konnte sie retten, diese Generation der Nervenzusammenbrüche? Ich nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr.

Ich bin dann mal weg

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