Donnerstag, 25. Januar 2018
Sturm - abgeschlossener Kurzkrimi
Sie hatte Mühe, etwas zu erkennen, denn die dichten, schulterlangen Locken tanzten anarchisch vor ihren Augen. Friederike nahm allmählich Fahrt auf, aber noch war es nicht wirklich lebensgefährlich, vor die Tür zu gehen. Ab 11.00 Uhr war die Kirche geöffnet und um 11.30 Uhr kam Ludger immer zum Üben. Sie trudelte regelmäßig um 11.15 Uhr ein und versteckte sich in irgendeiner dunklen Ecke, wo sie heimlich seinem überwältigenden Orgelspiel lauschte – oft die gesamten zwei Stunden. Sie blieb dann noch eine Viertelstunde sitzen und verließ die Kirche gegen 13.45 Uhr. Heute würde sie wohl bleiben müssen, bis der Küster zum Abschließen kam, aber vielleicht, würde Ludger auch bleiben und wer wusste schon, was alles passieren konnte, wenn man zu zweit in einer kühlen, altehrwürdigen Kirche festsaß, während draußen ein Orkan toste.
Sie wartete ungeduldig im Seitenschiff und fragte sich gerade, ob er vielleicht heute gar nicht käme und auf die Übungsstunden verzichtete, aber dann öffnete sich die Eingangstür und schon hörte sie seine vertrauten, schweren Schritte auf der knarrenden Holztreppe. Sie hatte ihn noch nie Sonntags im Gottesdienst erlebt, er war ja hier als Organist tätig. Sonntags schlief sie immer besonders lange und gönnte sich eine Pause von der Musik, die sonst ihr ganzes Leben bestimmte. Die unzähligen Stunden an der Musikhochschule, in denen sie Seminare und Vorlesungen besuchte und sich die Finger wund spielte. Ludger war derjenige, von dem sie am meisten lernen konnte. Eigentlich hieß er für sie ja Professor Doktor Hallwachs, aber es konnte sich nur noch um eine ganz kurze Zeit handeln, dann würde es ganz selbstverständlich sein, dass sie ihn Ludger nannte und er sie Raphaela. Sie hatte es in seinen Augen gesehen und er hatte seine Hände sprechen lassen, die sie zuerst sanft an den Schultern berührt hatten und dann nervös über die Kalviatur geflattert waren, während sein Atem sich ungewohnt beschleunigte. Er wollte sie so sehr, wie sie ihn wollte, da war sie ganz sicher. Er wollte nur nicht gegen die Etikette verstoßen – ein Professor, der mit einer Studentin anbändelte, das war eines Professor Dr. Ludger Hallwachs unwürdig. Und noch war er ja verheiratet, auch wenn seine Frau nie in Erscheinung trat, sie teilte seine beruflichen Leidenschaften wohl nicht – und möglicherweise auch keine anderen. Er trug schon lange keinen Ehering mehr und wirkte auch sonst eher wie ein einsamer Junggeselle auf der Suche nach ein wenig Wärme – und die wollte sie ihm geben. Wenn sie das Examen bestanden hatte, würde sie sich ihm offenbaren.
Das Gebläse startete, einige wenige Register wurden gezogen. Er spielte die Air von Bach und so wie er sie interpretierte, glich sie dem zarten Flötenspiel einer überirdischen Elfe. Sie glitt dahin auf dem ruhigen Strom der barocken Harmonien, als das Orgelspiel unerwartet abrupt abbrach. Ihr Herz stockte. Was war geschehen? Er hatte sich nicht verspielt, also warum hatte er den Flow unterbrochen? Fühlte er sich nicht wohl? Sie wollte gerade nach oben eilen und nachsehen, da hörte sie weibliches Gekicher und seine leise Stimme, undeutlich was den Inhalt betraf, überdeutlich in Bezug auf die Absichten. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, sah sie deutlich vor sich, wie die beiden sich grinsend neckten, gegenseitig ihre Ohren beknabberten, wie ihre Lippen über das Gesicht des jeweils anderen flatterten, wie die Hände über den geliebten Körper fuhren, und ein eindeutiges Rascheln verriet ihr, dass sie sich nach und nach ihrer Kleidung entledigten. Zwischendurch hörte sie es schmatzen, stöhnen und keuchen, dann wieder kichern und sie wäre sofort nach draußen gelaufen, wenn sie sich nicht vor dem entsetzlichen Sturm gefürchtet hätte. So musste sich die Hölle anfühlen: in alle Ewigkeit dem Entzücken der Anderen lauschen während man selbst zum Dasein als Zaungast verdammt war. Sie ließen sich Zeit, Ludger und seine Gefährtin. Das Brausen des Orkans wurde heftiger genauso wie die Liebesseufzer die hinter der Orgel entstanden. In Raphaela brodelte eine giftige Suppe aus Enttäuschung, Trauer, Schmerz, Demütigung, Kränkung und Zorn. Als die spitzen Schreie der Lust grotesk durch die Kirche hallten, ertrug sie es schließlich nicht mehr. Der Lebensgefahr zum Trotz trat sie nach draußen. Zuerst bekam sie den Eingang kaum auf, denn der Sturm kam aus Westen und drückte die Tür zu. Schließlich schlug sie mit einem großen Schwung herum und nur ein gelber Wertstoffsack, den der Wind an die passende Stelle geweht hatte, verhinderte ein verräterisches Krachen. Ihr bot sich ein Bild der Verwüstung. Auf dem Vorplatz der Kirche lag alles voller zerbrochener Dachziegeln und noch immer kamen welche krachend vom Dach. Sie konnte nicht dort entlang gehen, das war einfach unmöglich. Nicht weit von ihren Füßen lag eine Ziegel, von der bisher verhältnismäßig wenig abgebrochen war. Sie hob sie auf, ging zurück in die Kirche und begann, hinter sich zu zu machen. Sie hatte Mühe, die schwere Eichentür herumzuziehen und dann dafür zu sorgen, dass sie nicht mit einem lauten Knall ins Schloss flog, denn der Orkan wirkte mit beträchtlicher Kraft auf das Westwerk. Rechts neben dem Eingang befand sich der Aufgang, der zur Empore und zum Turm hoch führte. Sie versteckte sich unter der Treppe und bekam noch gerade das Finale des ungewöhnlichen Liebesaktes mit. Die Dachziegel hielt sie dabei fest umklammert.
Dann war es still. Die ganze Kirche war Schweigen, nur draußen brüllte Friederike aus Leibeskräften und in Raphaelas Bauch rumorten düstere Gefühle mit zu viel Magensäure und Darmwinden um die Wette. Die Finger, die die kalte, nasse Dachziegel umklammerten wurden kalkweiß. Was wollte sie eigentlich damit? Warum hatte sie das kalte, schwere Ding nicht einfach liegenlassen? Oben rührte sich wieder etwas.
„Spiel was für mich.“, sagte die Orgeldirne.
Was willst du hören?“, fragte der Professor.
„Besame Mucho.“
„Auf der Kirchenorgel?“
„Na und? Wir haben uns doch am Fuße derselben geliebt – und geküsst. Viel geküsst. Besame mucho, eben. Küss mich viel, würde Google-Übersetzer sagen.“
Ein solches Sakrileg würde Ludger niemals begehen. Was bildete die Schlampe sich ein? Raphaela wartete gespannt auf seine Reaktion.
Ein A-Moll-Akkord ertönte, dann D-Dur, dann wieder A-Moll... und dann begann die Hure aus voller Kehle zu singen. Für wen hielt sie sich? Für die Carmen? Plötzlich wusste Raphaela, was zu tun war. Sie nutzte die Geräuschkulisse um unbemerkt auf den Turm zu schlüpfen. Oben lauerte sie. Besame Mucho verstummte. Eine Weile drang kein Geräusch aus der Kirche, dafür war es draußen umso lauter. Der Orkan erreichte gerade seinen Zenit. Dann hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie hörte Ludger rufen: „Bleib doch noch. Ist doch viel zu gefährlich jetzt.“
„Ach was“, rief die Drecksdirne zurück. „Es sind nur ein paar Schritte bis ins Pfarrhaus. Keine Bäume, keine fliegenden Untertassen. Bis Sonntag.“
Raphaela hörte, wie die Tür des Haupteingangs aufflog. Der gelbe Sack, der bei ihr noch als Puffer gedient hatte, hatte sich wohl verabschiedet.
„Ach du Elend!“, rief die Liebhaberin. „Da muss ich jetzt flitzen, damit ich heil da durch komme.“
„Ja, flitz du nur.“, flüsterte Raphaela mit düsterem Blick. Die Pfarrerin schloss mühevoll die große Eichentür. Dann startete sie zum Sprint in Richtung Pfarrhaus. Raphaela hatte das kleine Turmfenster bereits geöffnet und nun schleuderte sie die Ziegel in hohem Bogen in Richtung der liederlichen Theologin. Die Dachziegel erwischte die Pfarrerin am Kopf. Drinnen begann Ludgers Orgelspiel. Hier oben klang es ganz leise. Als sie herunterstieg, begann die Orgel zu brausen. Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge E-Moll. Der Sturm war noch immer auf seinem Höhepunkt. Draußen, in der Kirche und in ihr. Alles war in Aufruhr. Schon bald würde sie an die Stelle der Frau treten, die jetzt sterbend vor der Kirche lag. Sobald Ludger die Trauerarbeit bewältigt haben würde, wäre er endlich bereit für sie. Sie verbarg sich In der Sakristei, dort gab es eine Notausgangstür. Wenn er aufhörte zu spielen, würde sie hinausschlüpfen.

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