Donnerstag, 18. Januar 2018
Chicks
Es war so seltsam still, als ich an diesem Morgen erwachte und das stand in krassem Kontrast zu der unruhigen Nacht, die ich gehabt hatte. Irritierende Geräusche hatten mich aus dem Schlaf gerissen, doch als ich bei vollem Bewusstsein gewesen war, waren die seltsamen Laute verklungen und außer ein paar quakenden Fröschen war nichts zu hören gewesen. Nun war es längst heller Tag und ich entschloss mich zu einem kurzen Frühstück, vielleicht traf ich dort den einen oder anderen aus meiner Familie. Doch schon während ich schlaftrunken zur Müsli-Schale stolperte, spürte ich, dass da irgendetwas anders war. Da war überhaupt keine Bewegung. Meine Brüder lagen reglos verteilt auf der Wiese, ein paar Federn lagen hier und da neben blutigen Grashalmen und von meinen Schwestern fehlte jede Spur. Ich rief verzweifelt nach ihnen, doch sie antworteten nicht. Bis zu diesem furchtbaren Morgen hatte ich fünf Schwestern und vier Brüder gehabt, nun waren all meine Schwestern fort und meine Brüder waren kalte, harte Leichen, deren gebrochene Augen ausdruckslos ins Leere starrten. Nicht einmal die goldenen Strahlen der Morgensonne vermochten den gewohnten Glanz in sie hinein zu zaubern.
Unsere Mama streute mir ein paar Sonnenblumenkerne hin, aber mir war der Appetit vergangen. Wie konnte ich Leckereien in mich hinein picken, wenn neben mir meine grausam gemeuchelten Brüder lagen und wer wusste schon, wohin, der oder die Täter meine Schwestern verschleppt hatten und was man dort, wo sie jetzt waren, mit ihnen anstellte? Unser Papa kam dazu und sagte zur Mama: „Ich tippe auf den Fuchs.“
„Aber gleich alle?“, fragte die Mama. „Agathe ist doch nur übrig geblieben, weil sie unter dem Schuppen brütet. Das muss eine ganze Horde Füchse gewesen sein.“
„Nein, nein.“, entgegnete der Papa fachkundig. „Wenn die in einen Hühnerstall einbrechen, beißen die zuerst alle Vögel tot und transportieren dann einen nach dem anderen ab. Der muss mittendrin gestört worden sein, deswegen liegen die restlichen hier noch. Ich hole gleich mal einen Spaten und beerdige die armen Vögel.“
„Inklusive Vaterunser?“, fragte Mama.
„Wenn du durchaus darauf bestehst.“
„Ach was. Aber wir könnten wenigstens 'Geh aus mein Herz' singen.“
„Als Beerdigungslied?“
„Wieso nicht. Du predigst doch immer, dass Tod und Auferstehung zusammenhängen. Oder hast Du Angst, dass hier dann demnächst nächtens Zombiehühner durch den Garten marodieren und die Petersilie verseuchen?“
Papa schüttelte mit dem Kopf. „Was für krude Vorstellungen du hast. Ich glaube, Du musst noch einmal eineinhalb Jahre meinen Konfirmandenunterricht besuchen.“
„Um Gottes Willen!“, protestierte Mama. „Willst du mich zu Tode langweilen?“
„Mein KU ist nicht langweilig!“
„Hast du mal deine Konfirmanden gefragt?“
„Allerdings. Und die sind hochzufrieden.“
„Alle?“
„Na ja, allen kann man es schließlich nie recht machen.“
„Eben. Vielleicht ist das hier ja auch ein makabrer Streich deiner weniger begeisterten Konfis. Hast Du vielleicht Max und Moritz in der Gruppe?“
„Nein. Dann wären die Hühner ja auch stranguliert worden und hätten auf den letzten Meter noch Eier gelegt.“
„Diese Leichen wohl eher nicht.“
„Warum nicht?“
„Das sind die Hähne.“
„Dann schmecken Hennen wohl besser.“
„Das wird’s sein.“

Sie legten meine Brüder einfach in die dunkle Erde, ohne sie zuvor gründlich zu untersuchen. Ich hätte meine Brut wieder wärmen müssen, doch ich war ganz durcheinander. Mama holte die Eier unter dem Schuppen hervor und trug sie in den Stall. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Und während Papa das Grab aushob, sah ich mir meine toten Brüder noch einmal genau an. Jesaja war unblutig gestorben. Entweder hatte das Grauen ihn getötet oder er war seinen inneren Verletzungen erlegen. Sein Kopf lag in einer unnatürlichen Position, das ließ auf Genickbruch schließen. So etwas verpasste einem kein Fuchs, sondern vielmehr einer der Menschen, die unsereins gern mal den Hals umdrehen. Zephania dagegen hatte eine klaffende Wunde am Hals. Die sah aber mehr nach einem geraden Schnitt, als nach einem Biss aus und zwischen seinen Beinen war ebenfalls Blut geflossen. Welches Tier biss seine Beute in die Geschlechtsteile? Aragorn hatte man den Kamm abegrissen und die Rippen zertrümmert. Am schlimmsten aber hatte es Habakuk erwischt: Der Mörder hatte ihm einen Stock in die Kloake gerammt, so dass er an schweren inneren Blutungen zugrunde gegangen sein musste; es war auch eine Menge Blut aus seinem Schnabel gelaufen, das nun das Gras ringsum rostrot färbte. Das hier war Menschenwerk. Es war nur schwer zu verstehen und wie sollte ich mich meinen Eltern erklären? Sie verstanden ja meine Sprache nicht.
Sie ließen mich bei der Bestattung zusehen, sangen ein Lied und warfen Blumen auf die entstellten Körper meiner einst so schönen und stolzen Brüder. Dann bedeckten sie sie mit brauner, krümeliger Erde und ich fragte mich, ob in der Nacht wohl ein Fuchs käme, um sie auszugraben. Aber das Loch war so tief, das hätte kein Fuchs in einer Nacht geschafft. Sanft hob Mama mich hoch und setzte mich auf ein Nest im Stall, in das sie meine Eier gelegt hatte. „So, Agathe“, sagte sie. „Du allein trägst jetzt die Verantwortung für die nächste Generation. Mach deine Sache gut. Wir passen jetzt besser auf dich auf als auf deine Geschwister.“ Sie schloss den Stall ab. Das hätte mich normalerweise nicht gestört, wollte ich ja doch nur meine künftigen Kinder wärmen und gelegentlich einen kleinen Bissen und einen Schluck zu mir nehmen. Versorgt wurde ich hier ja. Aber es juckte mich im Schnabel, die Todesfälle genauer zu untersuchen und so wurde mein bleierner Halbschlaf immer wieder von grausamen Alpträumen durchzogen, in denen ich schwere Schritte hörte, das Geschrei meiner Brüder und Schwestern und eine garstige Bassstimme, die von Rache faselte und von Zeichen.
Es wurde Nacht und wieder Tag und noch einmal, da rannte Mama zitternd in den Garten. Papa lief hinter ihr her.
„Was ist los mit dir?“, fragte er besorgt.
Mama weinte und stammelte schließlich: „Da hat uns jemand ein Paket vor die Tür gestellt. Da drin sind lauter abgenagte Hühnerknochen. Und ein Zettel.“
„Was steht denn auf dem Zettel?“
„Weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gelesen.“
Papa ging wieder ins Haus und kam kurz darauf mit einem Zettel zurück. Er guckte komisch. Mama fragte: „Und? Was steht nun drauf?“
„Das ist merkwürdig.“, meinte Papa. „Da steht: War lecker. Wie fühlt es sich an, wenn ein anderer deine Hühnchen vernascht?“
Jetzt guckte Mama auch komisch. Nach einer Weile verschwand sie wortlos im Haus.

Ich weiß nicht mehr, wie oft Tag und Nacht sich abgewechselt hatten, meine Kinder begannen bereits, sich unter der Schale zu regen, da bekam ich mit, wie Mama und Papa im Garten den Kaffeetisch deckten und kurz darauf zwei Menschen dazu kamen. Ein Mama-Mensch mit lieblicher Stimme, einem ansteckenden, hellen Lachen und einem Rosenduft, der bis zu mir in den Stall drang. Und ein Papa-Mensch mit einer düsteren Bassstimme, die beinahe mein Blut gefrieren ließ. Ich musste der Sache auf den Grund gehen und nebenbei ein paar Körner picken.
Mama sagte: „Seht mal, da ist unsere Agathe. Die restlichen neun hat der Fuchs geholt.“
„Ihr hattet 10 Hühner?“, fragte die gruselige Bassstimme. Der dazugehörige Papamensch war mager und krumm, seine Begleitung dagegen hielt sich gerade und sah immer verstohlen zu Papa rüber.
Mama erklärte: „Wir hatten vier Hähne und sechs Hennen. Wir haben sie selbst mit der Brutmaschine ausgebrütet, sie waren total zahm, sie betrachteten uns praktisch als ihre Eltern. Und neulich Nacht hat der Fuchs fast alle geholt, nur Agathe ist übrig geblieben.“
„Wie ist das denn gekommen?“, fragte die Bassstimme.
„Sie war nicht mit den anderen im Stall.“, erklärte Papa. „Sie hat unter dem Schuppen gebrütet. Wir hatten den Stall nachts nicht zugemacht, wir dachten, Füchse kommen nur im Winter. Falsch gedacht.“
„Woher wisst ihr denn, dass es ein Fuchs war?“, fragte die glockenhelle Mama-Stimme.
„Die Hennen hatte er schon abgeholt.“, erklärte Papa. „Die Hähne lagen noch tot gebissen auf der Wiese.“
„Könnte ein Zeichen sein.“, brummte die Bassstimme.
„Was für ein Zeichen?“, fragte Papa verständnislos.
Die Bassstimme zuckte mit den Schultern und sagte dann: „Na ja, die Frauen entführt, die Männer dahin geschlachtet. Vielleicht hält dich jemand für einen Gemeinde-Casanova.“
Papa wurde blass. Die Mamastimme mit dem Rosenduft übrigens auch. Und Fetzen der Erinnerung an meine Alpträume schossen durch meinen Kopf. Ich hörte, wie die Bassstimme sagte: „Hallo Mädels“ oder „Nimm das, du Gockel!“
Und wie er mich ansah! Als ahnte er, dass ich ihn erkannt hatte. Doch wie sollte ich ihn überführen? Ich bin doch nur ein Huhn. Meine Eltern verstehen mich nicht. Verzweifelt suchte ich den Boden des Stalles nach Hinweisen ab. Ich pickte und scharrte und sah mir alles ganz genau an. Und dann fand ich etwas. Zwei kleine aneinander hängende Kugeln und dazwischen zwei winzige, glänzende Flügel. Jemand hatte es in die Erde getreten. Das sah nach Menschenzeug aus und an Mama und Papa hatte ich das nie gesehen. Ich zog es aus dem Boden und veranstaltete ein Gezeter, als hätte ich drei Eier direkt hintereinander gelegt. Mama kam angelaufen und fragte: „Was ist denn, Agathe?“
Ich hob das Ding hoch und hielt es ihr entgegen. Ich sah ihr tief und fest in die Augen. Sie nahm das Ding entgegen. „Guckt mal, was Agathe hier gefunden hat.“, sagte sie. „Einen winzigen Engel aus zwei Perlen mit kleinen Silberflügeln.“
„Den hat wohl kaum der Fuchs verloren.“, sagte die Mamastimme, aber sie klang nicht mehr glockenhelll, sondern schrill und bedrohlich. Sie sprang auf, stürzte zu Mama und sah sich das Ding genau an. „Wie kommt der hierher?“, fragte sie und ihre Stimme überschlug sich fast. „Das ist der Engel, den ich dir zum Valentinstag geschenkt habe, den du zuletzt am Reißverschluss deiner Softshell-Jacke getragen hast.“
Nun kam auch die Bassstimme dazu und ich stürzte gackernd zurück zu meinen Kindern, ich ertrug den Mörder nicht in meiner Nähe und ich fürchtete um meine Nachkommenschaft.
„Davon gibt es doch sicher hunderte.“, versuchte die Bassstimme, die Mamastimme zu beschwichtigen.
„Oh nein.“, kreischte die Mamastimme. „Das ist ein Unikat. Und ich erkenne ihn genau. Was hast du hier getrieben? Rede!“
„Du bist ja verrückt.“, sagte die Bassstimme. „Ich gehe jetzt besser.“
Zu meiner großen Erleichterung verschwand er tatsächlich. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Die fremde Mamastimme übrigens auch nicht, nachdem sie wenig später gegangen war. Es wurde dunkel und wieder hell und meine Kinder kämpften sich ans Licht. Fünf Hennen und vier Hähne. Ich taufte sie Sulamith, Miranda, Anneliese, Naomi, Mafalda, Jesaja, Aragorn, Habakuk und Zephania. Und wenn sie groß sind, werde ich das alles vergessen haben.

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