Dienstag, 29. August 2017
Kapitel 6 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
Schröttinghausener Straße, Mittwoch, 14. September 2016

Das Mittagessen lag Luise schwer im Magen, obwohl Martina nicht besonders fettig kochte, aber Erbsen vertrug sie nicht mehr so gut und zusätzlich Möhren zu schälen, zu zerkleinern und zu schmoren, war Martina zu viel Arbeit gewesen. Luise beklagte sich nicht, denn Martina hätte ohnehin geantwortet: „Dann iss eben nicht so viel, bist sowieso ein bisschen voll um die Hüften.“
Auch solche Bemerkungen schluckte Luise herunter, obwohl Martinas Becken definitiv das Ausladendere war. Ein bisschen gerundet, klein und kompakt war die alte Frau schon als junges Mädchen gewesen und ihr Leben lang so geblieben, denn sie hatte nie hungern müssen, weder während des Zweiten Weltkrieges noch in der Nachkriegszeit. Nur hatte sie angefangen, auf ihre Ernährung zu achten, als sie gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts aufkommendes Sodbrennen bei sich beobachtete, wenn sie zu fettig oder mehr als ein Stück Torte gegessen hatte. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die noch unter siebzigjährig einem schweren Magenleiden erlegen war, mit entsetzlichen Schmerzen, häufiger Übelkeit, dem Erbrechen von Blut und einer fortschreitenden Entkräftung. Gänzlich ohne Lebensfreude hatte ihre Mutter sich die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens durch die Tage geschleppt und Luise vermutete, dass sie die frühen Warnsignale ignoriert und einfach weitergemacht hatte mit der guten, bäuerlichen, ostwestfälischen Kost: in Schmalz gebratenes Fleisch, zerlassene Butter an jedem Gemüse, herrlicher, selbst gebackener Kuchen, fettige Saucen und Rahmsuppen. Dazu häufig Kohl und Hülsenfrüchte, Zwiebeln und saure Äpfel. Luise hatte anfänglich auch so gekocht, aber als sie merkte, dass es in der Magengegend zwickte und sie sauer aufstoßen musste, fragte sie ihren Hausarzt, worauf sie achten müsse und ab sofort gab es weniger Gebratenes, viel gedünstetes Gemüse, leichtere Saucen zu den Salzkartoffeln, höchstens ein Stück Kuchen am Nachmittag und allerhöchstens vier Tassen Kaffee als Tagesdosis. Damit war sie nun ziemlich weit gekommen, ohne Magengeschwüre, Diabetes, Rheuma oder Gicht. Wenn nur Martina etwas rücksichtsvoller wäre. Sie legte sich, so wie sie war, aufs Bett und schloss die Augen. Immer noch lag ein feiner Duft in ihrem Schlafraum. Sie hatte schon Weichspüler für die Wäsche benutzt, als alle anderen darüber noch abfällig die Nase gerümpft hatten, aber in ihrem Schlafzimmer hatte schon damals die Wäsche ihr zartes Parfum verströmt, so dass sie sich zwischen den Laken gefühlt hatte, als habe jemand sie auf einer paradiesischen Blumenwolke gebettet. Das mit dem Weichspüler hatte Martina so beibehalten, auch wenn die Zusammensetzung der Duftstoffe heute viel süßlicher war als damals. Vor allem, wenn Martina bügelte, suchte Luise das Weite. Der intensive Geruch kitzelte unangenehm am Gaumenzäpfchen und verursachte eine leichte Übelkeit. Im kalten Zustand roch es jedoch angenehm sauber und frisch und so hatte sie es immer haben wollen und auch gehabt.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht, den sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Luise zuckte zusammen und öffnete reflexartig die Augen. Wie eine bedrohliche Erscheinung stand Martina vor ihrem Bett und schimpfte: „Was liegst du da mit deinen guten Sachen auf dem Bett rum? Das wird doch alles kraus! Zieh wenigstens das Kleid aus und deck dich anständig zu!“
Luise wäre gern einfach liegen geblieben, aber sie gehorchte, damit die Situation nur schnell vorüberging und sie in Ruhe ihr mittägliches Nickerchen halten konnte. Rüde und mit eckigen Bewegungen half ihr Martina beim Entkleiden und hängte das Kleid auf einem Bügel an den Schrank. Dann schlug sie die Bettdecke zurück, hob Luises Füße hoch, damit sie schneller in die Waagerechte kam und stopfte um sie herum die Bettdecke fest, als wolle sie sie im Bett fixieren, obwohl sie ganz genau wusste, dass Luise die Decke lieber locker auf sich liegen hatte, so dass sie auch mal einen Arm oder ein Bein darunter hervorstrecken konnte. Früher hätte sie sich so etwas von ihrer Tochter nicht bieten lassen, aber jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.
Außerdem befürchtete sie, wenn sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehr reizte, am Ende von ihnen misshandelt zu werden. Sie könnten sie auch in ein Pflegeheim abschieben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern, denn lieber wollte sie sterben, als die Jahre, die ihr blieben in so einer entmenschlichten, unpersönlichen Umgebung frei von jeder Privatsphäre und Selbstbestimmung dahinzuvegetieren. Darum wollte sie auch um jeden Preis verhindern, dass etwas von ihrem schief hängenden Haussegen nach außen drang. Möglicherweise wären Martina und Manfred darüber derartig verärgert, dass sie nicht lange fackeln würden und sie in ein Pflegeheim verfrachteten. Davon abgesehen hatte Luise einen guten Ruf zu wahren; kein noch so kleiner Skandal sollte ihre Familienehre beschmutzen. Selbst wenn Martina und Manfred auszögen und eine professionelle Pflegekraft sie so versorgen und verwöhnen würde, wie es ihren Wünschen entsprach, würde sie die Schmach nicht ertragen, als Mutter versagt zu haben und die Familie auseinanderbrechen zu lassen. Sie fragte sich, warum Martina so gänzlich anders geworden war, als sie es sich als Mutter erträumt hatte. Als Baby war sie so niedlich wie ein Püppchen gewesen und Luise hatte sich ihre Zukunft ausgemalt: ein Mädchen mit der Anmut einer kindlichen Shirley Temple, ein Backfisch wie die junge Romy Schneider, eine Braut wie Grace Kelly und eine Dame von Welt wie Jacky Kennedy.
Als Kleinkind hatte sie Martina herausgeputzt: niedliches Kleidchen mit gestärkter Spitze und Rüschen, im Sommer aus Leinen und im Winter aus leuchtend blauem Samt oder sie hatte weiße Angora-Jäckchen gestrickt und Mützchen gehäkelt, die sie farbig bestickte oder mit Seidenblumen verzierte. Alle erdenklichen Lackschuhe hatte Martina besessen und nichts war ihr für ihr Töchterchen zu kostspielig gewesen. In der Sportkarre hatte sie ihr Mädchen im Dorf spazieren gefahren, und sie wusste genau, wer neidisch und missgünstig hinter der Gardine lauerte, wenn sie ihren kleinen Prachtengel öffentlich präsentierte.
Als Martina die Grundschule besuchte, die damals noch direkt im Dorf stand und nicht wie heute im vier Kilometer entfernten Langenheide, hatte Luise sich dahinter geklemmt, dass ihr Kind gute Noten bekam. Sie hatte das kleine und das große Einmaleins mit ihr gelernt, Übungsdiktate geschrieben, ihr gezeigt, wie man häkelte und Knöpfe annähte, war zum Elternsprechtag gegangen und hatte aus dem Lehrer herausgekitzelt, wie sie ihre Tochter beim Lernen bestmöglich unterstützen konnte. Nie hatte sie sie mit schmutziger oder krauser Kleidung oder ungeputzten Schuhen zur Schule gehen lassen. Sie war immer gründlich gewaschen, ordentlich frisiert und die Fingernägel waren sauber und geschnitten. Sie hatte auch auf eine gehaltvolle Ernährung geachtet, damit das Kind einen guten Start bekam: Morgens gab es Milch und Haferschleim mit Honig, mittags täglich Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse und immer Nachtisch, weil man beim Essen auch etwas für die Seele brauchte.
Als der Wechsel zur Realschule anstand, war sie stolz gewesen, dass ihre Tochter sich beim Essen nicht wie andere Mädchen zickig anstellte, sondern ordentlich zulangte und alles verputzte, was sie ihr vorsetzte.
Jeden Morgen hatte sie ihr ein paar stramme Zöpfe geflochten und Martina hatte sich nie beklagt, doch mit zwölf Jahren hatte sie plötzlich den Wunsch, ihr Haar offen zu tragen, nur durch ein Stirnband gehalten oder mit einer Spange zum einfachen Pferdeschwanz gebunden.
„Martina“, hatte Luise erklärt, „offene Haare sind nichts für die Schule. Das ist was für feine Damen, die sich kaum bewegen und immer einen Kamm oder eine Bürste in der Handtasche haben und sich zwischendurch kämmen. Deine Haare wären dann mittags ganz verfilzt und durcheinander und du würdest schreien und heulen, wenn ich sie dir dann bürsten würde.“
„Aber Gitta Hartmann hat die auch so offen und mit Stirnband.“
„Das kann ja sein, aber diese Hartmanns sind auch keine ordentlichen Leute. Das sind so Zugezogene aus Bielefeld, von denen keiner so genau weiß, wie die eigentlich ihr Geld verdienen. Mit denen gibst du dich am besten gar nicht ab.“
„Ich war aber schon bei der zu Hause, und da sieht es überall ganz schön aus, so wie in einem Schloss.“
„Ja, das kann ich mir denken.“, hatte Luise geantwortet und für sich behalten, für welche Art von Schloss sie die Wohnung der Familie Hartmann hielt, die Räume in einem alten Wohnhaus gemietet hatten, das mal der Familiensitz eines großen Glaserbetriebes gewesen war. Im Dorf wusste man, dass er eine kleine Halbweltkneipe in der Bielefelder Altstadt besaß, in der auch seine Frau kellnerte und man munkelte, dass ihm auch ein Bordell im nahegelegenen Steinhagen gehörte, weil er immer behauptete, noch mitten in der Nacht seine Kellnerinnen nach Hause fahren zu müssen. Alle waren sich einig, dass man in einer kleinen Kneipe wohl kaum bis in die Nacht mehrere Kellnerinnen benötigte, sondern dass Hartmann seine Huren heimfuhr, für die er sich als ihr Anstellungsträger und Zuhälter verantwortlich fühlte. Die Tochter besuchte zusammen mit Martina die Realschule und sah für eine Zwölfjährige schon reichlich lasziv aus. Sicher war die Wohnung eingerichtet wie ein Edelpuff. Von solchem Umgang sollte ihre Tochter sich tunlichst fernhalten.
Martina hatte nicht locker gelassen: „Warum kann ich nicht wenigstens mit einem Pferdeschwanz zur Schule gehen? Husemanns Rita hat auch einen.“
„Husemanns Rita hat nicht so lange Haare wie du. Dann hält das besser und die Haare geraten auch nicht so durcheinander. Aber dann müsste dir der Friseur ganz viel abschneiden und dann würdest du ja fast so aussehen wie ein Junge.“
Eines Tages hatte Martina ihre Zöpfe heimlich auf dem Schulweg gelöst und sie bei der Heimfahrt im Bus wieder neu geflochten. Doch das war Luise sofort aufgefallen, denn der Scheitel war nicht gerade, die Strähnen ungleichmäßig dick und es war nicht zu übersehen, dass sie gerade frisch geflochten worden waren. Luise hatte sie zur Rede gestellt und hart bestraft: eine Woche Hausarrest und nach den Hausaufgaben keine Freizeit, sondern putzen, Stachelbeeren abknipsen, Socken stopfen und Taschentücher bügeln. Nichts, was ihre Tochter vom geraden Weg hätte abbringen können, hatte sie ihr durchgehen lassen und Martina tat das nie wieder, sie behielt die Zöpfe bis zur Konfirmation.
Als Martina mit zwölf Jahren bei der Landjugend mitmachen wollte, wusste Luise auch das zu unterbinden. Für den Besuch des Kindergottesdienstes war sie zwar schon langsam zu alt und als Helferin noch zu jung, aber für den Übergang hatte Luise ihren Mann überreden können, einen Klavierlehrer ins Haus kommen zu lassen. Sie hatten ein solides, gebrauchtes Instrument erworben, dessen mit Wurzelholz verzierter Korpus sich einnehmend geschmackvoll in ihrem Wohnzimmer mit Perserteppich, beigefarbenen Polstermöbeln und Hochglanz lackiertem Nussbaumschrank machte. Wenn nun am Donnerstag Nachmittag Hans Dillinger – der Klavierlehrer – ins Haus kam, fühlte Luise sich wie eine Hochwohlgeborene. Er war in ihrem Alter, äußerst gutaussehend, gebildet und hatte so feine Manieren, wie Luise sie zuletzt im Pfarrhaus erlebt hatte, wenn sie in ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer besten Freundin Elisabeth Schuchart zu Besuch gewesen war. Etwas von der Kultiviertheit dieses Mannes musste einfach auf ihre Tochter abfärben. Dillinger war streng und ernst, wurde aber niemals laut. Wenn seine perfekt manikürten Finger über die Tasten flatterten, glaubte sie jedes Mal, ihr Herz müsse vor Wonne überlaufen. Obwohl sie sich danach sehnte, von ihm als gleich zu gleich wahrgenommen zu werden und ihm auf Augenhöhe begegnen zu können, hatte sie es sich dennoch nie nehmen lassen, ihn jeden Donnerstag auf geradezu devote Weise zu empfangen. Sie hatte immer ein frisch gebügeltes, feines Kleid getragen, dazu Nylons und elegante Pumps, doch darüber eine blütenweiße, gestärkte Spitzenschürze, in der sie dem Lehrer Kaffee, schwarz mit einem Löffel Zucker und etwas Gebäck serviert hatte. Wie sie schon bald herausgefunden hatte, bevorzugte der Musikpädagoge knusprige Waffelröllchen, die sie von nun an immer in ihrem Plätzchen-Sortiment bereithielt. Auch Jahrzehnte nach den Klavierstunden gehörten die knusprigen Waffelröllchen zu Luises festem Bestand an Kaffeegebäck.
Heute fragte sie sich, ob es Martina wohl aufgefallen war, dass ihre Mutter den Klavierlehrer anschmachtete wie ein Backfisch, aber Luise hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und nie ein Grenze überschritten. Mit Hans Dillinger war sie stets per Sie gewesen und hatte sein Bedürfnis nach Distanz respektiert., die er durch sein Verhalten zu wahren beabsichtigte.
Etwa um die gleiche Zeit begann für Martina auch der Katechumenen-Unterricht, immer Dienstags von 15.00 – 16.30 Uhr im Gemeindehaus, direkt neben der Kirche. Pfarrer Fischer, der seinen Dienst gerade erst angetreten hatte, hatte zwar bis zur Konfirmation durchgehalten, sich aber zwei Jahre später aus Häger verabschiedet und den Pfarrbezirk einer zweijährigen Vakanz überlassen. Doch im Jahr 1968, am zweiten Sonntag nach Ostern war Martinas großer Tag gewesen und noch heute erinnerte sich Luise an alle Details: Sie hatte den Blumenschmuck auf dem Altar gestiftet – ein Gesteck aus Tulpen, Nelken und Anthurien in rosa und weiß, durchwirkt mit Schleierkraut und eingerahmt in frische Buchsbaumzweige. Martinas Kleid hatte sie in einer Wertheraner Schneiderei nähen lassen, aus fest gewebtem, edlem weißen Bouclé, knielang, leicht ausgestellt mit hohem, aber breitem Rundhalsausschnitt und kurzen Ärmeln, die von feinster, weißer Spitze gesäumt waren. Dazu hatte Martina eine helle Feinstrumpfhose und weiße Riemenschuhe getragen, nicht ganz flach, aber nur mit gerade mal so viel Absatz, dass die Eleganz des Kleides nicht durch die Plumpheit der Schuhe konterkariert wurde.
Martina hatte sich die Haare kurz schneiden und sogar ein wenig toupieren lassen dürfen. Sie trug ein mit weißen Satinröschen besetztes Haarband und gegen den kühlen Wind ein weißes Jäckchen aus Kaninchenfell.
An ihr eigenes Kleid konnte Luise sich ebenfalls noch gut erinnern, das hatte sie auch in Werther nähen lassen: es war ein Kostüm mit geschlitztem Rock und Dreiviertel-Ärmel-Jacke aus altrosa Tweed gewesen, dazu hatte sie eine cremefarbene, weich fallende Nylonbluse gekauft, in der sie auch ohne die Jacke zusammen mit dem Rock eine glänzende Figur gemacht hatte. Cremefarben waren auch ihre weichen Lederpumps gewesen und rosa der Rosenquarz in ihrem Silberring mit ovaler Fassung, den ihr Ludwig zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. So elegant war sie gewesen, obwohl sie zuvor zwei Wochen lang das Haus von oben bis unten geputzt hatte und Freitag und Samstag nahezu durchgehend in der Küche zugebracht hatte mit Kuchen backen, braten einlegen, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen...Sogar das Mittagsmenü hatte sie noch im Kopf: Hühnersuppe mit Blumenkohl und Eierstich, Rinderbraten und Schweinebraten mit Sauce, Kartoffeln, dazu Erbsen, Möhren und frischen Spargel mit holländischer Sauce. Als Nachtisch gab es Weinschaumcreme in rot und weiß, zum Essen einen leichten Moselwein und nach dem Essen Wacholder für die Herren, Eierlikör für die Damen, und wer es zu schätzen wusste, konnte auch einen Cognac bekommen. Die Anzahl der Gäste war einigermaßen überschaubar gewesen, denn sowohl Ludwigs Vater, als auch ihre Mutter waren bereits verstorben. Ihr Bruder Rudi mit Frau und Kind, ihre Schwester Marie mit ihrem Mann, ihr Vater und Ludwigs Mutter waren die ganze Verwandtschaft. Luises Bruder Georg war im Krieg gefallen, Ludwigs Bruder Heinz ebenfalls und sein Bruder Ewald hatte im Gegensatz zu Ludwig die russische Gefangenschaft nicht überlebt. So waren nur noch Martinas Paten mit ihren Ehepartnern zugegen gewesen und die insgesamt vierzehn Personen hatte sie in Wohn- und Esszimmer unterbringen und bewirten können. Ach und Martina hatte so schöne Wäsche für die Aussteuer bekommen: Tischtücher aus bestem, feinstem Damast, halbleinene Geschirrtücher, griffige Frotteehandtücher und auch viel gutes Geld. Am meisten hatte das Kind sich aber über den Plattenspieler gefreut, den ihr der Patenonkel geschenkt hatte.
Nach der Konfirmation hatte Martina begonnen, sich langsam dem Einfluss ihrer Mutter zu entziehen. Oft hatte sie in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und Schallplatten angehört, statt wie behauptet an ihren Hausaufgaben zu arbeiten. Luise hatte ihr zwar nicht erlaubt, sich die Bravo zu kaufen, aber Martina hatte immer jemanden gefunden, der ihr das ausgelesene Jugendmagazin zur Verfügung stellte.
Schon bei der Konfirmation war Martinas Körper deutlicher gerundeter gewesen, als der der meisten anderen Mädchen, aber im folgenden Jahr legte sie mächtig an Gewicht zu und hatte mit massiven Hautproblemen zu kämpfen. Es war in dieser Zeit oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter gekommen, doch in den meisten Fällen hatte Luise sich durchgesetzt. Sie war froh und dankbar gewesen, dass ihre Tochter weder rauchte noch trank und auch nicht mit den Jungs um die Häuser zog wie so manches leichte Mädchen, was dann am Ende mit einer unehelichen Schwangerschaft dastand.
Als Martina die zehnte Klasse besuchte, machte Luise sich große Sorgen. Die Fünfzehnjährige hatte zu gar nichts mehr Lust außer Musik hören, Fernsehen, stricken und häkeln. Höchst selten traf sie sich mit Freundinnen, und in der Schule strengte sie sich nicht mehr an als unbedingt nötig. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, Bewerbungen auf eine Lehrstelle zu schreiben. Bei jedem Beruf, den die Eltern ihr vorschlugen, fielen ihr Argumente ein, warum sie ihn unmöglich ausüben könne. Luise hätte ihre Tochter am liebsten als Chefsekretärin in einem angesehenen Betrieb gesehen, aber Martina hatte mit ihrem plumpen, reizlosen Äußeren und ihrem ungeschickten Auftreten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Luise schüttete dem damaligen Pfarrer, der in der noch immer währenden Vakanz den Pfarrbezirk Häger mitbetreute, ihr Herz aus, und der hatte eine Idee: „Wenn die Martina so häuslich ist, wäre der Beruf der Erzieherin doch sicher für sie geeignet. Wer gern strickt, der bastelt auch gern, und den richtigen Umgang mit den Kindern lernt sie sicher schnell. Zum Sommer nächsten Jahres wird in Häger der Kindergarten eröffnet, da bietet es es sich doch geradezu an, einen Lehrling aus dem Dorf einzustellen. Sie soll mal einfach eine Bewerbung an die Gemeinde schicken und sich auch bei der Fachoberschule bewerben. Ich werde mich auf jeden Fall für sie einsetzen.“
Luise hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und ihre Tochter angetrieben, bis sie die Bewerbungen geschrieben und abgeschickt hatte. Sie hatte genauestens kontrolliert, ob sie auch angemessen gekleidet und gepflegt zum Vorstellungsgespräch erschienen war und hatte erst wieder ruhig schlafen können, als Martina die Zusage für die Lehrstelle in der Tasche hatte. Und mit diesem uralten Gefühl einer tiefen Erleichterung glitt Luise nun in den ersehnten Mittagsschlaf.

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Kapitel 4 und 5 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
Dorfladen Häger – Montag, 12. September 2016

Christiane Kleinebekel stand seit einer Stunde hinter der Ladentheke. Sie tat das ehrenamtlich, damit das Dorf einen Ort bot, wo man sich mit dem Nötigsten versorgen konnte, ohne ins Auto zu steigen und wo man immer Leute traf, die man kannte, damit man morgens ein Schwätzchen halten konnte. Die Frühschicht, die im Übrigen dafür bezahlt wurde, hatte das kleine Geschäft bereits um fünf Uhr morgens geöffnet, denn zwischen fünf und neun Uhr gingen die meisten belegten Brötchen und Kaffees zum Mitnehmen über die Theke, an denen der Laden am meisten verdiente.
Christianes Freundin Sigrid Husemann-Rademacher, die im Gasthof schräg gegenüber lebte und arbeitete, war als Nächste an der Reihe, hinter ihr der Malermeister Volker Bracksiek und der Landwirt Hans-Werner Lohoff.
„Gibts du mir noch ein Dinkel-Chia-Brot?“, fragte Sigrid.
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück. Bleibt länger frisch.“
Martina Tappe betrat den Laden und stellte sich hinten an. Sigrid bezahlte und wandte sich an Martina, während Volker eine umfangreiche Bestellung für Samstag aufgab.
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Martina? Die hab' ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, die ist immer noch ganz schlecht zurecht.“, gab Martina Auskunft. „Seit sie die Grippe erwischt hat, ist sie ganz durcheinander.“
„Ja, das wirft so alte Menschen erst einmal gehörig aus den Puschen.“, meinte Sigrid mitfühlend.
„Ach, wenn sie nur erschöpft wäre“, beklagte Martina sich. „Aber sie wird ja nun allmählich immer dementer. Das ist schlimmer, als wenn man kleine Kinder hat, da kommt man gar nicht hinterher.“
„Na also dement ist Tante Luise ja nun wohl noch lange nicht.“, hielt Sigrid dagegen. „So was kommt ja nicht plötzlich innerhalb von ein paar Wochen über einen.“
„Nee, das geht schleichend, darum merkt man das auch nur, wenn man täglich mit den Leuten zu tun hat.“
„Also ich glaube, ich muss deine Mutter mal wieder besuchen.“, erklärte Sigrid. „Aber nicht jetzt. Wir haben gleich Gäste zum Essen. Mach's gut.“
Volker hatte sich mittlerweile einen Kaffee und eine Laugenecke bestellt und sich in das kleine Hinterzimmer gesetzt, das die Dorfladen-Initiative liebevoll als Café eingerichtet hatte.
Hans-Werner hatte einen Korb voller Lebensmittel und nachdem er bezahlt hatte, gesellte er sich auf ein Schwätzchen zu Volker. Nun war Martina an der Reihe. „Ich hätte gern ein Graubrot, geschnitten und eine Lage von dem Platenkuchen.“
„Ist ja wirklich schön, dass deine Mutter keine Diabetikerin ist wie die meisten in ihrem Alter.“, bemerkte Christiane.
„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
„Da würde ich nicht lange überlegen. Die sind aus Werther, und wie du weißt, keinen Cent teurer als im Supermarkt.“
„Ja, stimmt, man vergisst das immer, dass die Preise hier gar nicht höher sind, obwohl es doch so ein kleiner Dorfladen ist. Ach ja, dann nehme ich mal drei Äpfel mit. - Aber der Umzug gestern war doch wirklich ganz toll. Ich glaube so viele Wagen hat es noch nie gegeben.“
„Doch, hat es, aber das war vor deiner Zeit.“
„Ja, aber es ist doch toll, dass da nicht nur solche Gruppen mitwirken, die es in jedem Dorf gibt, sondern auch unsere Dorf-Ini und die Flüchtlingsinitiative und eben nicht nur Feuerwehr, Sportverein und Schützen.“
„Schützenverein haben wir in Häger gar nicht.“
„Ja, stimmt, das war auch einer der Gründe, warum Martin und ich uns für Häger entschieden haben. Was bin ich dir schuldig?“
„Fünf Euro vierzig.“
„Ja, das sind hier wirklich faire Preise.“, erklärte Irmtraut und setzte wieder ihr angestrengt strahlendes Lächeln auf. Als sie die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, riefen die Männer im Hinterzimmer: „Ist sie endlich weg?“
Christiane stellte sich wieder grinsend in den Türrahmen: „Das hätten wir für heute überstanden.“, stöhnte sie.
„Die hat dir ja wieder die ganze Tasche vollgelabert.“, stellte Volker fest. „Bis obenhin.“
„Ja, und ich will jetzt endlich los und den Schweinestall ausmisten.“, sagte Hans-Werner, „bevor das nächste Ungeheuer auftaucht, um 'ne halbe Stunde lang für zwei fuffzich einzukaufen. Macht's gut.“
„Ich muss auch wieder an die Farbeimer.“, erklärte Volker und legte einen Zehner auf den Tisch. „Stimmt so.“

Schröttinghausener Straße, Dienstag, 13. September 2016
Luise Sickendiek saß auf der Couch und fieberte mit dem grundanständigen Mädchen, dem das intrigante Flittchen aus der vermeintlich besseren Gesellschaft gerade den Verlobten abspenstig machte. Sie liebte ihre tägliche Seifenoper und wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Die Geschichten waren so einfach gestrickt, dass sie auch dann nachvollziehbar blieben, wenn man nicht jedes Wort mitbekam und die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr klar erkennbar waren. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Martina stürmte herein, die mit ihren schweren Schritten trotz der weinroten Velours-Puschen an ihren geschwollenen Füßen einen so mächtigen Lärm verursachte, dass Luise gar nicht mehr verstand, was am Fürstenhof gesprochen wurde.
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, keifte Martina. „Mit dem Krach kannst du ja schon ganz Häger beschallen.“, rief sie und schaltete den Fernseher aus.
„Aber ich wollte das gucken.“, protestierte Luise.
„Du hast Besuch. Da lässt man den Fernseher nicht laufen.“, wies Martina sie zurecht.
„Wer ist denn da?“
„Onkel Erich. Komm rein. Ist ja jetzt Kaffeezeit. Soll ich dir einen Koffeinfreien machen?“
„Och, das ist nicht nötig.“, antwortete Erich Mensendiek, der der Eigentümer der nächsten Hofstelle war, die er auch bewohnte. Das Grundstück, auf dem Luise und ihr Mann das Haus gebaut hatten, hatte auch einmal dazu gehört.
„Jetzt sag schon, was du trinken willst.“, forderte Martina barsch. „Es ist schließlich Kaffeezeit.“
„Dann lieber einen Kaffee ohne Koffein.“
„Für mich aber mit.“, rief Luise.
„Ach Mama, du wirst schon nicht vom Stängel fallen, wenn du einmal koffeinfrei mit trinkst. Zwei Sorten Kaffee kochen für zwei Leute. Wo gibt’s denn so was?“
„Trinkst du denn keinen Kaffee, Martina?“, fragte Erich.
„Nein, nachmittags trinke ich immer Sauerkrautsaft. Das entschlackt.“
Als Martina zum Kaffee Kochen verschwunden war, sagte Erich: „Mensch, Luise, was lässt du dir das von Martina gefallen? Die behandelt dich ja wie 'ne Gefangene.“
„Ach, die hat nur einen rauen Ton.“
„Rauer Ton? Die benimmt sich wie 'ne durchgedrehte Gutsherrin. Dabei sollte sie froh sein, dass du sie hier wohnen lässt.“
„Ach Erich. Die Kinder sind eben die Kinder und das bleiben sie auch. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht vor die Tür setzen.“
„Meinetwegen behalt' sie da. Aber ihr sollte mal jemand den Kopf zurechtrücken. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie dich so behandelt. Regelrecht unverschämt ist die und überhaupt kein Respekt vor dem Alter. Vorm Krieg hätte es so was nicht gegeben. Da hätte sie sich entweder zusammenreißen müssen oder sie wäre in'ne Anstalt gekommen.“
„Ach, Erich, das ist doch Quatsch. Weißt du noch, Baxmanns Mutter? Die habense auch nicht abgeholt.“
Aber nur weil Otto inner SS war, das sag ich dir. Der konnte da schützend seine Hand drüber halten. Ich denke, ich knöpfe mir eure Martina gleich mal vor.“
„Du, lass das bloß sein. Dann wird sie nur ärgerlich, und wenn die richtig ärgerlich ist, das ist so schlimm, das hast du noch nicht erlebt.“
„Ach, Luise, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schmeiß die undankbare Brut raus. Die werden schon nicht verhungern. So schlecht verdient Manfred nicht. Und du hast doch genug Geld auf der Kante, um dir die letzten Jahre 'ne eigene Pflegerin zu leisten. Die macht es dir dann richtig schön.“
„Da wäre ja ruck zuck alles verjubelt.“
„Ach was. Da nimmste einfach 'ne Polin, so wie ich. So teuer sind die nicht und viel netter als die jungen Leute hierzulande.“
„Ach Erich, wenn sie dir im Krieg erzählt hätten, dass du dich im Alter mal von einer vonne Pollacken versorgen lässt, das hätteste auch nicht geglaubt.“
Luise lachte herzlich und Erich zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
„Du kannst auch zu mir ziehen.“, schlug er vor. „Dann können wir uns die Polin teilen.“
„Ach, jetzt hör aber auf damit!“, wies Luise ihn brüsk zurück. „Ich bin in den letzten siebzig Jahren nicht zu dir gezogen, warum sollte ich jetzt damit anfangen?“
„Weil du hier nicht geachtet wirst.“
„Schluss jetzt!“, sagte Luise. „Kein Wort mehr darüber und wehe, du erzählst irgendwo was. Wenn Martina ab und zu mal schlechte Laune hat, geht das keinen was an. Schließlich hat sie ganz schlimm mit ihrem Rheuma zu tun, da kann man dann nicht immer freundlich sein.“
„Na, wenn du meinst. Ich finde nur, du hättest etwas Besseres verdient. Du müsstest nur dein Land verkaufen, dann...“
„Das mache ich ganz bestimmt nicht!“, unterbrach Luise ihn barsch. „Erstens will ich meinem Kind was vererben und zweitens haben meine Eltern sich nicht ihr Leben lang den Buckel krumm geschuftet, damit die Hallodris von sonst wo ihre heulenden, hässlichen Windräder auf unser Land pflanzen. Als kleinen Acker nebenbei kann ich das ja ganz gut verpachten, aber der einzige, der es kaufen würde, wäre Lohoffs Hans-Werner, und der hat schon so viel, dem gönne ich es nicht.“
„Nee, so'n alten Kreiselspargel können wir in Häger nun wirklich nicht gebrauchen. Guck dir den Apparat in Jöllenbeck doch mal an: Sieht man von überall, und wenn du durch die Kuhle am alten Waldbad durch bist, dann hörst du es schon: flapp-flapp-flapp. Und aussehen tut es, als wennse da 'ne Fabrik bauen. Sollense den Quatsch doch weiter inne Nordsee pflanzen, da is' wenigstens Wind und nich' wie bei uns in Häger inne Kuhle. Was die sich immer für'n Quatsch ausdenken. Oder steckt euer Manfred dahinter?“
„Was soll denn wohl unser Manfred damit zu tun haben? Der sitzt da im Rathaus, telefoniert und schreibt Rechnungen. Von Landwirtschaft hat der überhaupt keine Ahnung, und ich hab' auch noch nicht mitgekriegt, dass er sich mit Windrädern befasst hat.“
„Ich dachte ja nur, weil Krietemeiers Gerd neulich auch erzählte, der Uwe würde immer im Internet rumgucken, ob er nicht auch ein Stück Land an so'ne Windkraftfirma verkaufen könnte. Man müsste mit der Zeit gehen, sagt er.“
„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.

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