Freitag, 20. Januar 2017
Kabarett
SONNTAG MORGEN
„Was für eine absurde Art zu sterben.“, raunte Kriminalhauptkommissar Keller seiner jungen Kollegin Kerkenbrock zu. Die schwieg betroffen, denn sie hätte es pietätlos gefunden, etwas dazu zu sagen, obwohl sie ihrem Vorgesetzten in Gedanken Recht gab. Erschlagen von einem Stapel evangelischer Gesangbücher unterhalb der Empore, so ein Zufall musste einen erst einmal erwischen. Darum wurde ja auch gründlich untersucht, ob es sich hier um einen echten oder einen vorgetäuschten Unfall handelte.
„Ich bin mir noch nicht sicher, ob der Genickbruch oder ein Schädel-Hirn-Trauma zum Exitus geführt hat.“, erklärte die Gerichtsmedizinerin. Es ist aber sicher, dass sie nicht mit dem Stapel in den Händen gefallen ist. Die Gesangbücher sind von oben auf sie herabgestürzt – oder geworfen worden.“
„Was wohl die rote Schleife zu bedeuten hat?“, fragte Kerkenbrock irritiert. An der Leiche befand sich ein langes, rotes Schleifenband, das seltsam um den Körper drapiert wirkte.
„Sieht aus wie eine Inszenierung.“, überlegte Keller. „Vielleicht wollte ihr jemand den Tod zum Geschenk machen.“
„Oder jemand anderem ihren Tod zum Geschenk machen.“, meinte Kerkenbrock.
„Oder so.“, erwiderte Keller.

AM ABEND ZUVOR
- Meine Güte war das peinlich. Ob es wohl jemand bemerkt hat? Bestimmt hat es jemand gemerkt. War ja nicht zu übersehen, dass ich rot geworden bin. Edith hat sich auch zu mir umgedreht, diese Schlange, wollte wohl sehen, wie ihr Werk seine Wirkung tut. Das ist so ungerecht. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Wenn ich mit Pastor Jensen ein Verhältnis gehabt hätte, ja das wäre vielleicht ein Grund gewesen, mich an den Pranger zu stellen. Oder wenn ich ihm nachgestellt hätte, obwohl er nicht interessiert war, das wäre vielleicht ein Anlass gewesen, sich über mich lustig zu machen. Aber ich habe ihn einfach still geliebt. Ich liebe ihn immer noch. Und vielleicht liebt er mich auch. So etwas Zartes und Zerbrechliches gehört ins Verborgene, in die Dunkelheit und dieses durchtriebene Weib zerrt es einfach ans Licht. Warum war ich nur so dumm, auf ihren Trick hereinzufallen? Nachdem sie mir die Liebesgeschichte mit ihrem Mann bis ins kleinste Detail geschildert hatte, war ich so weit, mich zu öffnen. Niemandem sonst habe ich jemals davon erzählt. Ich bin Lydia, die ungeliebte B-Musikerin, die Zweitligistin unter den Kantorinnen, die graue Kirchenmaus, das Gestell im Rollkragen, das immer übersehen wird und niemanden interessiert. Keiner sieht, welches Feuer in mir brennt, welche Leidenschaft und ich war so dumm, es ausgerechnet Edith zu erzählen. Und jetzt hat sie die Kabarettistin geimpft. Die Kabarettistin ist ja keine Hellseherin, den Tipp muss ihr jemand gegeben haben. Wie soll ich diese Worte vergessen: „Und die unverheirateten Kantorinnen, die blassen Mäuschen, die immer im Rollkragenpullover herumlaufen und nur laut werden, wenn sie einen Choral anstimmen, die sind doch immer dem Herrn Pfarrer verfallen, bei den Katholiken genauso wie bei den Evangelen. Die Katholischen dürfen nicht, weil sie sie sich grundsätzlich nicht paaren dürfen, die Evangelischen dürfen nicht, weil sie schon verheiratet sind und sich vor Antritt ihrer ersten Stelle schon in geradezu unanständiger Weise fortgepflanzt haben. Verheiratete Familienväter sind auch in der Evangelischen Kirche tabu für die einsamen Herzen. Ich glaube ja, die Kirchenmusikerinnen sind verkappte Nonnen, so hochgeschlossen und ungeschminkt, wie die immer rumlaufen. Die fangen nie was mit dem Herrn Pastor an, die beten den nur an, so wie die Bräute Christi ihren Herrn Jesus. Also, liebe Gemeinde, kein Anlass zur Sorge, da passiert schon nichts, sehen sie ihr ihre Leidenschaften nach.“
Und jetzt wissen alle Bescheid. Wie soll ich denn damit weiterleben? Und was mich am meisten wurmt: wenn ich jetzt Schluss mache, wird Edith erst recht allen brühwarm erzählen, dass Pastor Jensen meine große, heimliche Liebe war und an meinem Grab werden sich alle die Mäuler zerreißen, mitleidig lächeln oder dreckig lachen und mich verachten. Dabei habe ich alles richtig gemacht und im Gegenzug hat das Leben mich nie entschädigt. Edith hatte eine erfüllte Partnerschaft, für mich hat sich nie jemand interessiert. Wenn ich schon gehe, dann nehme ich sie mit.
Was haben wir denn da? Ediths schöne rote Deko-Schleifen? Mein Gott, kein Gemeindefest, kein Mitarbeitertreffen, keine Goldkonfirmation wo sie einem nicht ihre unübertroffenen Edelbaumwollschleifen aus dem Luxusdekorationsgeschäft aufdrängt, damit auch jeder sofort weiß: Die vorliegende Dekoration wird Ihnen präsentiert von Edith Winter, der Leiterin des Abendkreises und Schirmherrin des Gemeindefrühstücks. Warte mal, auf der Damast-Decke lag doch eine ganz lange. Wenn ich die auf die Brüstung lege und darauf einen großen Stapel Gesangbücher und dann daran ziehe, dann fallen die Gesangbücher auf mich herab und die Schleife gleich mit und dann wird jeder sofort denken, dass Edith etwas mit meinem Tod zu tun hat. –
Lydia nahm die Schleife mit auf die Empore. Sie nahm einen großen Stapel Gesangbücher aus dem Regal und legte ihn auf den Rand des Geländers. Sie legte ein Ende der Schleife über das Holz und hob dann den Stapel darauf. Sie schob ihn möglichst weit an den Rand, so dass er gerade noch stehen konnte. Dann ging sie wieder hinunter. Die rote Schleife hing vor ihr wie ein Galgenstrick.
- Das war es dann wohl. Zeit, Abschied zu nehmen. Vielleicht wird wenigstens Pastor Jensen um mich weinen. Vielleicht gibt es ja doch Seelenwanderung und wir treffen uns im nächsten Leben wieder und werden da glücklich. Wenn ich nur Edith nicht wiedertreffe, von der habe ich endgültig genug. -
Sie stellte sich direkt unter die Schleife. Sie zog einmal kräftig daran. Ein kurzer Schmerz, dann wurde es Nacht.

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