Freitag, 27. Januar 2017
Rumpelstilzchen – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
„Jetzt soll ich also Stroh zu Gold spinnen!“, fluchte Berit und fuhr sich mit den Fingern durch die streichholzkurzen Haare. Der Tagesbetrieb im Jugendzentrum war mehr als auslastend, sie schob jetzt schon 120 Mehrstunden vor sich her und hatte genug zu tun mit Öffnungszeiten von 14.00 – 20.00 Uhr, Verwaltungstätigkeiten, Dienstbesprechungen und Einkäufen. Jetzt sollte also ab 13.00 Uhr täglich ein Mittagstisch für die „bedürftigen“ Kinder der angrenzenden Haupt- und Realschule angeboten werden, weil ja sonst niemand etwas unternehme...I n Wirklichkeit war dies für den Superintendenten eine willkommene Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit als pragmatischer und effektiver Wohltäter zu präsentieren. Die Arbeit durften diejenigen machen, deren Namen nicht genannt wurden, aber so war es ja immer.

Täglicher Arbeitsantritt 12.45 Uhr. Feierabend gegen 20.15 Uhr. Ganz nebenbei bemerkte Berit beim Blick auf ihr Zeitkonto, dass die elektronische Zeiterfassung ihr automatisch eine halbe Stunde Pause abgezogen hatte. Sie hatte aber keine Pause machen können in dem Gewusel. „Verdammt!“, dachte sie. „Das lass ich mir nicht gefallen, obwohl ich wirklich keine Lust habe, mit Rumpelstilzchen zu telefonieren!“
Die elektronische Zeiterfassung war der größte Schwachsinn, den die kreiskirchliche Verwaltung sich hatte einfallen lassen. Das Programm hatte ein Vermögen gekostet, musste weiterhin personal- und finanzaufwändig betreut werden und funktionierte nicht. Das Einloggen dauerte mehrere Minuten und ständig entstanden Fehlbuchungen. Entweder stimmte etwas mit dem Programm nicht oder die Menschen, die das Programm betreuten, machten etwas falsch. An manchen Tagen streikte der zentrale Server und niemand konnte sich einloggen. Es war ein entsetzliches Ärgernis und dabei so überflüssig wie ein Furunkel. Eine Excel-Tabelle hätte es auch getan.

Berit rief bei der Bereichsleitung an. „Evangelischer Kirchenkreis Minden, Bereichsleitung Kinder, Jugend und Friedhof, Stihl, was kann ich für Sie tun?“
„Ja, guten Tag Herr Stihl, hier spricht Berit Würselmeyer. Mir ist bei meinem Zeiterfassungskalender aufgefallen, dass mir eine Pause abgezogen wurde, die ich nicht gemacht habe.“
„Da haben Sie sich wohl mehr als sechs Stunden eingeloggt.“, antwortete die Bereichsleitung stoisch.“
„Ja selbstverständlich. Ich bin ja auch seit neuestem täglich von 12.45 Uhr bis 20.15 Uhr in der Einrichtung. Seit ich den Mittagstisch anbieten muss, geht das ja nicht anders.“
„Aber Sie machen doch sicher mal eine Pause.“
„Wann denn?“
„Irgendwann werden sie doch mal verschnaufen, mit ein paar Jugendlichen nett quatschen und Tee trinken und dabei können Sie Ihr Butterbrot essen. Und jetzt kommen Sie mir nicht mit einem fehlenden Pausenraum. Sie sind in Ihrem Job dermaßen privilegiert, da müssen sie wegen einer solchen Nebensächlichkeit keine Welle machen.“

Das war ja wieder typisch. Berit hätte die Mitarbeitendenvertretung einschalten können, aber die rührten sich nicht. „Aus Minden, sollst du verschwinden.“, murmelte die Sozialarbeiterin, denn sie hatte den Eindruck, dass sich in dieser sterbenden Stadt außer ihr niemand mehr bei irgendetwas richtig Mühe gab. Eine Woche später erreichte sie fogende Mail von Herrn Stihl:
Hallo Frau Würselmeier,
nach der Kändigung von Frau Krebs brauhen wir eine neue vertrietung in der kommunalen Arbeitsgruppe für Mädchenarbeit. Die tagen fvierzehntägig Donnerstags um 9.30 Uhr in der Videbullenstraße 18. Nächste Woche ist es wieder so weir. Überhnemen Sie bitee diese Aufgabe.
Mfg, Stihl

Es war unfassbar. Nicht nur dass diese offizielle Mail, die immerhin eine Dienstanweisung darstellte, vor Flüchtigkeits- und Rechtschreibfehlern überlief, sie wurde einfach in Kenntnis gesetzt, statt im Gesamtteam zu erörtern, wer diese Aufgabe sinnvollerweise übernehmen könnte. Aber Berit hatte keine Kraft mehr, um sich zu wehren. Sie würde auch dieses Kreuz auf sich nehmen und irgendwann einfach vier Wochen zu Hause bleiben, dann könnten sie sie alle mal.

Eigentlich wollte Berit am Wochenende nicht s von der Arbeit wissen, doch dann scrollte sie dennoch durch die Webseite des Kirchenkreises, um nachzusehen, ob schon ein Bericht über den neuen Mittagstisch hochgeladen worden war. Bisher gab es nur eine kurze Notiz, aber sie stellte fest, dass Ihr Nachame genau wie in Stihls Mail falsch geschrieben war und ihr Vorname statt Berit mit Britta angegeben war. Sie schickte Rumpelstilzchen eine Nachricht mit der Bitte, dies schleunigst ändern zu lassen.

Als sie in der folgenden Woche am Freitag Morgen ihr Zeitkonto kontrollierte, bemerkte sie, dass ihr Antrag auf Arbeitszeit außer Haus nicht genehmigt worden war. „Geht's noch?!“, rief sie. „Erst gibt er mir den Auftrag persönlich und dann soll das nicht als Arbeitszeit angerechnet werden? Ich glaube mein Schwein pfeift! Ich knöpfe mir die Ratte Montag morgen persönlich vor!“

Bevor sie am Montag das Kreiskirchenamt aufsuchte, ging sie ins Büro, um zu kontrollieren, ob der Antrag schließlich doch genehmigt worden war. Das war er nicht, allerdings war eine Rechnung eingetroffen, eine Rechnung über 80,- € für zwei Änderungen im Eintrag der kreiskirchlichen Webseite. Das war unfassbar, dass der Kirchenkreis Minden nicht wie alle anderen das kostenlose Webseiten-System der Landeskirche nutzte, sondern mit der Begründung eines gefälligeren und benutzerfreundlicheren Auftritts ein Privatunternehmen beauftragt hatte. Als ihr Blick auf das Firmenlogo fiel, stockte ihr der Atem: RHS – Rüter und Hoffmann-Stihl. So häufig gab es diesen Namen nicht. Sie kontrollierte die Einträge im örtlichen Telefonbuch: Stihl, Hartmut und Hoffmann-Stihl Kirsten. Jetzt hatte sie ihn an den Eiern! Rumpelstilzchen hatte seiner Ehefrau die Webseitenbetreung zugeschanzt und den versammelten Schnarchnasen in Synode und Verwaltung war natürlich nichts aufgefallen oder sie waren bereit diese korrupte Grenzüberschreitung still zu dulden.
Mit durchgedrücktem Rücken und angriffslustiger Miene betrat Berit Rumpelstilzchens Büro.
„Guten Morgen Herr Stihl!“, begrüßte sie ihn übertrieben fröhlich. „Wir haben da ein Problem. Sie haben mir schriftlich einen Arbeitsauftrag außerhalb der Einrichtung erteilt, ich bin dem nachgekommen und dann haben Sie meinem Antrag auf Erfassung der dadurch entstandenen Dienstzeit nicht genehmigt. Können Sie mir das erklären?“
„Ach, da bin ich wahrscheinlich noch nicht zu gekommen.“, erwiderte der drahtige kleine Mann mit der großen Nase und dem schmallippigen, breiten Mund.
„Der Antrag wurde storniert!“, erklärte Berit wütend.
„Dann haben Sie sich wohl verklickt.“
„Wenn sich hier jemand verklickt hat, dann waren Sie das wohl, Herr Stihl. Wenn Sie also so gut wären, für Donnerstag Vormittag die Dienstzeit von 09.15 Uhr bis 11.45 Uhr nachzutragen.“
„Aber die Sitzung beginnt doch immer erst um 09.30 Uhr.“
Berits Augen sprühten Funken, als sie konterte: „Jetzt kommen Sie mir nicht so! Ich muss ja schließlich auch noch dort hin, das ist ein Dienstweg. Das müssen Sie mir schon zugestehen.“
„Also Sie vergreifen sich hier ganz deutlich im Ton, junge Frau!“, erwiderte Rumpelstilzchen, „Und ich muss Ihnen gar nichts zugestehen. Stellen Sie den Antrag noch einmal, wenn Sie das Protokoll vorliegen haben, damit ich kontrollieren kann, ob Sie überhaupt anwesend waren.“
Berit atmete tief durch, schwieg einen Moment lang bedeutungsvoll, bevor sie betont ruhig das Thema wechselte: „Soll ich vielleicht mal einen Brief an die Synode schreiben, wer hier die überteuerte Webseite betreut?“
„Was soll das denn jetzt?“
„Ich glaube nicht, dass es unproblematisch ist, wenn ein Mitarbeiter des Kirchenkreises einen lukrativen Auftrag seiner Ehefrau zuschanzt, vermutlich ist es den Synodalen noch gar nicht aufgefallen.“
„Blödsinn.“, fauchte Stihl, „Das hat alles seine Ordnung.“
„Und wie sich erst die Lokalpresse dafür interessieren wird.“, fuhr Berit unbeirrt und mit einem süffisanten Lächeln fort.
„Jetzt ist es aber genug!“
Hartmut Stihl sprang von seinem Stuhl auf und kam mit rot angelaufenem Gesicht auf Berit zu.
„Ich glaube, ich wende mich einfach direkt an den Sup.“, sagte Berit ruhig und wandte sich zum Gehen. Darum sah sie nicht, wie Stihl nach dem großen Locher griff, statt dessen spürte sie einen dumpfen Schmerz, dann nichts mehr.
FORTSETZUNG FOLGT NÄCHSTE WOCHE

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