Donnerstag, 29. Dezember 2016
Endabrechnung – ein Kurzkrimi zwischen den Jahren
Die weihnachtlichen Familienstreitigkeiten waren überstanden, jetzt war Zeit bis Silvester durchzuatmen und Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock hoffte, dass es in Bielefeld keine Grabbel- und Fummelattacken im neuen Bahnhofsviertel gab, wo sich seit einigen Jahren die Partymeile der Ostwestfalenmetropole befand; überschaubarer, als vormals die Altstadt, aber auch entgrenzter was die Schwelle zur Gewaltbereitschaft betraf. Sie stand vor dem Kaffeeautomaten und wartete auf zwei Portionen gut durchgesäuertes Magenkrebsgebräu, für sie selbst mit Milchpulver zum vermeintlichen Latte Macchiato mutiert, für ihren Kollegen Stefan Keller in seiner ganzen schwarzbitteren Grausamkeit. „Hauptsache kein Glühwein mehr, keine Gans und keine Plätzchen.“, murmelte Kerkenbrock und fragte sich, warum der Automat eigentlich keine Heißwasser-Funktion hatte, in das man sich seinen eigenen Gesundheitsteebeutel hängen konnte. Magen- und Darmtee oder wenigstens Fenchel wäre jetzt genau das Richtige.
Als sie das Büro mit den schäbigen Kunststoffbechern betrat, stöhnte sie auf. „Oh nein, Herr Keller, bitte nicht, nicht dieser Blick. Sagen Sie mir, dass sie einfach nur Sodbrennen haben!“
„Noch nicht.“, erwiderte Keller kurz angebunden. „Aber ich fürchte, das wird sich im Laufe des Tages noch einstellen. Wir müssen in die Markgrafenstraße, Kreiskirchenamt.“
„Da, wo auch unsere Leute sitzen?“
„Ja genau. Aber mit unseren Leuten hat das nichts zu tun. Es liegt eine Leiche in einem der Büros.“
„Gibt es schon Hinweise, was uns erwartet?“
„Leider nein.“
Sie stürzten den Kaffee hinunter und beide dachten, dass sie ihrem Magen diese Tortur besser erspart hätten.
In der Markgrafenstraße gab es mal wieder keinen freien Parkplatz, ein Kollege schickte sie zwei Straßen weiter, da sei noch etwas frei. Draußen war es grau und feucht und der spätdezemberliche Nieselregen drang durch jede Faser und ließ Sabine Kerkenbrocks blonde Locken noch krauser werden. Der Kollege, der ihnen den Parkplatztipp gegeben hatte, führte sie zum Tatort bzw. zum Fundort der Leiche. Die Gerichtsmedizinerin Konstanze Flegel war inzwischen auch schon eingetroffen und beugte sich über den Toten, einen Mann mittleren Alters in legerer Kleidung. „Eckart Rodeheger.“, erklärte der Streifenbeamte, der als erster am Fundort eingetroffen war. „Jugendreferent in Ubbedissen. Gefunden hat ihn der Verwaltungsangestellte Karsten Evers, der in diesem Büro arbeitet. Wollen Sie ihn sprechen?“
„Ja, natürlich.“, antwortete Keller und Der Kollege führte ihn zu dem Zeugen. „Mein Name ist Stefan Keller“, stellte der Kommissar sich vor. „Ich leite die Ermittlungen. Können Sie mir noch einmal beschreiben, was genau sich hier ereignet hat?“
„Also der Herr Rodeheger hat mich aufgesucht wegen eines Problems an dem Gebäude, in dem er tätig ist. Ich bin hier im Kreiskirchenamt zuständig für die Gebäudeunterhaltung. Er hatte einige Fragen und um die zu klären, habe ich meinen Kollegen, den Herrn Rüther von der Finanzabteilung aufgesucht, das hat eine ganze Weile gedauert und als ich zurück kam, lag er hier am Boden. Ich habe sofort einen Rettungswagen verständigt, ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können, doch es kam jede Hilfe zu spät.“
„Ist Ihnen nichts Besonderes an dem Jugendreferenten aufgefallen?“
„Er war ziemlich aufgeregt, ich dachte noch, der muss sich mal beruhigen, schließlich geht es nicht um Leben und Tod, sondern nur um einen feuchten Keller. Dass es tatsächlich so schlimm um ihn stand, habe ich nicht geahnt.“
„Aber was bitte hatte der feuchte Keller mit der Finanzabteilung zu tun?“
„Ich musste ein wenig recherchieren. Wegen des Kellers hatten wir vor drei Monaten eine Firma beauftragt und ich war mir sicher, dass mittlerweile alles in Ordnung war und ich selbst die Rechnung abgezeichnet hatte. Herr Rodeheger behauptete aber, es sei zwar mal jemand von der Firma da gewesen und hätte auch etwas getan, das Problem sei aber nach wie vor nicht behoben.“
Keller ließ sich noch einmal detailliert erklären, wann genau Rodeheger eingetroffen war, wann Evers das Büro verlassen und wann genau er zurück gekehrt war. Er notierte sich die Zeiten mehr aus Routine, denn aus Notwendigkeit, sicher hatte der Verstorbene einen Herzinfarkt oder plötzlichen Herzstillstand erlitten.
Konstanze Flegel winkte ihn beiseite und flüsterte: „Das scheint mir nicht ganz koscher zu sein. Der Notarzt, der mit dem Rettungswagen kam, hat einen anaphylaktischen Schock in Betracht gezogen und aus dem Mund des Verstorbenen riecht es nach Erdnuss, aber hier steht nirgendwo etwas zu Essen oder zu Trinken herum.“
Keller ließ den Blick schweifen. In einem Regal standen einige Kaffeetassen. Er nahm sie in Augenschein, aber sie waren sauber gespült. Trotzdem wies er die Spurensicherung an, die Tassen mitzunehmen.
Nachdem sie alles gründlich betrachtet hatten, interviewten sie Herrn Rüther aus der Finanzabteilung, der die Aussage seine Kollegen Evers bestätigte.
„Wir mussten ziemlich lange suchen, bis wir die Rechnung gefunden hatten und bei dem, was an Leistungen aufgelistet war, konnte es eigentlich nicht sein, dass der Keller immer noch feucht war. Vermutlich ist er das auch nicht mehr.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ach wissen Sie, der Herr Rodeheger war bei uns in der Verwaltung bekannt wie ein bunter Hund.Verschwörungstheoretiker par excellence. Und er hatte immer etwas zu meckern. Jedes Mal, wenn ich ihm einen Sachbuchauszug oder eine Saldenliste gemailt habe, rief er mich an, hatte Nachfragen und immer mit so einem investigativen Unterton, so als seien wir hier alle Verbrecher, die sein Privatvermögen veruntreuen. Fürchterlich war der. Meine Kollegin, die Frau Schöne, konnte ihn auch nicht leiden. Wenn sie nur aus der Ferne seine schnarrende Stimme hörte, suchte sie umgehend das Weite.“
„Ist die Frau Schöne denn auch zu sprechen?“
„Eigentlich schon, aber sie ist gerade nicht an ihrem Platz. Vermutlich mach sie eine längere Pause und tauscht Weihnachtsgeschenke um.“
Die zweiten Tageshälfte nutzten Keller und Kerkenbrock für Verwaltungstätigkeiten, denn bevor sie weiter ermittelten, wollten sie zunächst das Obduktionsergebnis abwarten.
Am nächsten Morgen legte Konstanze Flegel die Ergebnisse vor. Rodeheger war tatsächlich an einem anaphylaktischen Schock gestorben, er hatte allergisch auf eine geringe Menge Erdnussmus reagiert, die sich in seinem Magen gefunden hatte, aufgelöst in einem gesüßten Milchkaffee. Das roch nach vorsätzlicher Vergiftung und Keller erklärte:
„Ich weiß, wer es war, ich will nur noch wissen warum. Kerkenbrock, telefonieren Sie doch mal herum, ab der Rodeheger Kollegen hatte, die etwas über diesen feuchten Keller wissen.“
Schon bald hatte die junge Beamtin Erfolg. Eine Kollegin aus Sieker wusste näheres zu berichten: „Der Keller im Jugendhaus Ubbedissen steht schon seit Jahren unter Wasser, die Bausubstanz ist total angegriffen und überall breitet sich Schimmel aus. Die Baufirma, die das in Ordnung bringen sollte, hatte da ein paar Tage herumgepfuscht, das Wasser abgepumpt und Ventilatoren aufgestellt, ein bisschen Zeug rein und raus geschleppt, aber nicht wirklich etwas an den Ursachen verändert. Innerhalb einer Woche war wieder alles voller Wasser.“
Keller rief noch einmal im Kreiskirchenamt an und ließ sich mit der Finanzabteilung verbinden. Er bekam sofort Frau Schöne an den Apparat. „Ach, die Frau Schöne, ich hoffe Sie sind im Bilde. Könnten Sie mir die Rechnung der Baufirma faxen, die in Ubbedissen im Jugendzentrum den Keller trockengelegt haben will?“
„Ach von der Firma Ruschmeier? Warten Sie, ich suche den Beleg eben raus.“
Innerhalb von Minuten hatte Keller die Rechnung auf dem Schreibtisch. Er entdeckte, dass die Firma eine Tochter der Gieseking GmbH war, einem regionalen Bauunternehmen, das immer wieder in die Schlagzeilen geriet, weil es permanent expandierte und eine Bude nach der anderen aufkaufte. Als Keller bei der Firma Ruschmeier anrief, um genau zu fragen, welche Arbeiten seinerzeit in Ubbedissen ausgeführt worden waren, verwies man ihn direkt an die Firmenleitung und verband ihn mit Rafael Butenuth, dem Eigentümer der Ruschmeier-Gruppe.
„Guten Tag, mein Name ist Stefan Keller von der Kripo Bielefeld. Ich hätte Fragen an Sie in Bezug auf Herrn Karsten Evers...“
„Was wollen Sie von meinem Schwager?“, blaffte Butenuth ihn an.
„Herr Evers ist Ihr Schwager?“
„Ja, worum geht es denn?“
„Um den Auftrag im Jugendzentrum Ubbedissen, den Herr Evers Ihnen erteilt hat. Die Trockenlegung des Kellers.“
„Und was hat die Kriminalpolizei damit zu tun?“
„Der Jugendreferent, der dort gearbeitet hat, wurde im Büro Ihres Schwager tot aufgefunden.“
Keller hörte, wie Butenuth am anderen Ende der Leitung heftig schluckte. Jetzt wusste er auch warum und es war nur noch eine Sache der Kriminaltechnik, den Mord zu beweisen.
„Wie sind Sie drauf gekommen?“, fragte Kerkenbrock.
„Der Kaffee im Magen des Opfers, keine Angaben von Evers, dass er einen Kaffee geholt hätte und keine benutzte Tasse weit und breit.“ erklärte Keller. „Evers hat seinem Schwager die Aufträge zugeschustert, Rodeheger hatte ihn deswegen auf dem Kieker; keine örtlichen Firmen, überhöhte Preise und sogar nicht geleistete Arbeiten die trotzdem in Rechnung gestellt und ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt wurden. Rodeheger hat ihm die Pistole auf die Brust gesetzt, er hat dem Jugendreferent erst einmal einen Kaffee geholt und weil er irgendwann einmal mitbekommen hatte, dass der Mann eine Erdnussallergie hat, hat er ihm ein bisschen Erdnusscreme in den gesüßten Milchkaffee gerührt, das schmeckt man nicht so ohne weiteres, schon gar nicht, wenn man aufgeregt ist. Er hat die Wirkung abgewartet und als Rodheger zusammenbrach, hat Evers die Tasse gespült und ist zu seinem Kollegen gelaufen, wo er sich lange genug aufhielt, um sicher sein zu können, dass der Jugendreferent inzwischen verstorben war. Wir haben jetzt alles, was wir brauchen. Schnappen wir ihn uns.“

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