Freitag, 15. März 2019
Stammschwimmer
c. fabry, 12:49h
Wie durch einen Schleier fließenden Satins schnitten ihre Arme durch die weiche, glatte Wasseroberfläche und ließen sie durch das wohltemperierte Blau gleiten. Die Bahn war frei und die winterliche Mittagssonne zauberte entzückende Lichtreflexe, die ihre geschundene Seele streichelten.
Heute keine selbstdarstellungswütigen Fleischbrocken, die rücksichtslos durch das Wasser pflügten, als hätten sie ihre Bahnen gepachtet. Keine penetrant billig duftenden Seeschnecken, die zum Kaffeekränzchen alle Bahnen blockierten. Keine Tranfunzeln, die mitten im Becken herumstanden, nur um ihr neues Knie zu bewegen. So sollte es sein. So sollte es bleiben.
Kerkenbrock starrte in blankem Entsetzen auf das fünfte Opfer in dieser Serie. Schon wieder die durchtrennte Beinschlagader und weit und breit keine Tatwaffe. Die Kommissarin fragte sich, wer über eine derartige Kaltblütikeit verfügte. Bisher war die einzige Verbindung zwischen den Opfern die Verletzung der fingerdicken Arterie, die einen tödlichen Blutverlust zur Folge gehabt hatte.
Eine ältere Dame aus Westerenger, Fleischereifachverkäuferin im Ruhestand – da hatten sie schon militante Tierschützer in Betracht gezogen.
Dann hatte es diesen Mathelehrer aus Werther erwischt. Die Opfer hatten einander nicht gekannt, aber wer konnte wissen, ob der oder die Täter*in nicht mit beiden eine Rechnung offen gehabt hatte? Die Schweinemörderkomplizin und der erbarmungslose Pauker, der die Abiturpläne zunichte gemacht hatte.
Die fünfunddreißigjährige Verwaltungsangestellte aus Spenge passte dann aber gar nicht ins Bild. Sie taugte nicht als Aggressorin, die uferlose Gegenaggression provozierte. Sie war ein gesichtsloses Rädchen im Getriebe gewesen, einsam und von einem unübersehbaren Hüftleiden gebeutelt.
Aus den Unterlagen der Jöllenbecker Zahnärztin, die das vierte Opfer gewesen war, ging rein gar nichts hervor; kein möglicher Behandlungsfehler, der Rache auf den Plan gerufen hätte.
Und hier lag nun ein Junge aus Enger, gerade mal dreizehn Jahre alt, schlank und hübsch und voller definierter Muskeln. Enfach ausgelöscht. Es war entsetzlich.
Fünfundzwanzig Bahnen lagen hinter ihr, fünfundfünfzig noch vor ihr. Es wurde etwas voller. Jeder Besucher, der die Schwimmhalle betrat, bekam ihren argwöhnischen Blick zu spüren. „Nicht in meine Bahn!“, dachte sie jedes Mal. „Nicht in meine Bahn!“
Als könnten sie ihre Gedanken hören, kam ihr niemand in die Quere. Jahrelang war sie voller Rücksicht auf alle anderen dauernd im Slalom herumgezappelt, war ausgebremst und angerempelt worden, hatte es klaglos ertragen, doch damit war jetzt Schluss. Sie schwamm ihre Bahn und niemand kam ihr in die Quere.
Die Tür zu den Duschen öffnete sich und das Walross stapfte aufs Becken zu; die Dicke mit der Warze auf der linken Wange. Als sie ihr das letzte Mal begegnet war, hatte die sie ständig aus der Bahn gedrängt, auf die sie gerade ausgewichen war. Die Dicke stieg ins Wasser und Tatsache, ohne sich vorher umzusehen, stieß sie sich vom Beckenende ab und schlug mit ihren schweren Armen im Rückenkraul ins Wasser. Direkt auf den ersten Metern schwamm sie eine ältere Dame über den Haufen. Die nächste Bahn zog sie im Brustschwimmen, aber genauso blind und wüst – glücklicherweise in gebührendem Abstand. Sie sollte ihr bloß nicht zu nahe kommen. Dem Jungen, der ohne abzuwarten, ob die Bahn frei war, vom Ein-Meter-Brett gesprungen war, hatte sie sich direkt im Anschluss vorgknöpft.
Bei der zähen, alten Schachtel war es komplizierter gewesen. Ganze acht Mal hatte sie ihre energische Rücksichtslosigkeit ertragen müssen. Dieser blasierte Herrenmenschen-Ausdruck in ihren Augen, der harte Zug um den Mund, der eisern trainierte, dainwelkende Körper, dessen Verfall sie ihre Lebensgier entgegensetzte. Die Alte war beim Umkleiden so schnell, dass sie schließlich ihr Pensum verkürzt hatte, um vor ihr draußen zu sein und ihr auf dem Parkplatz aufzulauern. Dann hatte sie sie verfolgt und tagelang beobachtet. Zahnärztin war sie gewesen, sie hätte auf Studienrätin getippt, Englisch und Geographie. Sie hatte sie im Garten erledigt. Die würde ihr nie mehr den Weg abschneiden.
Die Acqua-Joggerin war dagegen ein leichtes Opfer gewesen. Von ihr hatte sie sich regelrecht verfolgt gefühlt. Wenn sie schon mit ihrem tumben Gesichtsausdruck und den beiden Schwimmgürteln – einem natürlichen und einem aus Styropor – in die Halle humpelte, war ein unangenehmes Kitzeln ihren Nacken hinaufgekrochen. Die lahme Ente hampelte immer genau mitten im Becken herum, und alle mussten um sie herumschwimmen. Und immer war sie in ihre Bahn gekommen und hatte sie debil angeglotzt. Es war nicht zu ertragen gewesen. Sie hatte immer nahezu zeitgleich mit ihr das Becken verlassen, um sie auch unter der Dusche anzuglotzen und auf dem Weg in die Umkleiden war sie mit ihren quietschenden Badelatschen hinter ihr hergewatschelt. Nach dem Schwimmen war sie im selben Supermarkt gewesen und hatte in derselben abgelegenen Ecke des Parkplatzes ihr Auto abgestellt. Ein kurzer Schnitt und die Sache war erledigt gewesen.
Der Angeber mit dem breiten Kreuz hatte ihr dagegen Respekt abverlangt. Typisch Mann, war er einfach immer seine Bahn geschwommen. Im Platzhirschkraul hatte er mit jedem Arm- und Beinschlag zum Ausdruck gebracht, dass Teilen nicht zu seinen Kernkompetenzen gehörte. Niemand machte ihm dieses Privileg streitig, obwohl kein Anspruch bestand. Er nahm es sich einfach. Im Gegenzug hatte sie ihm das Leben genommen. Das war nur gerecht. Er schien ein Kämpfer zu sein. Sie hatte ihn wochenlang beschattet, um seine Achillesferse zu finden. Gut, dass er Lehrer war – das erweiterte den Kreis der Verdächtigen auf hunderte von Schüler*innen. Und gab es einen geeigneteren Ort als die Lehrertoilette, einen wehrloseren Moment für einen Mann als den, wo er mit der Hose auf den Knöcheln unter Anspannung sein Innerstes nach außen kehrte, ganz bei sich selbst und sich in Sicherheit wähnend? Der Geruch hingegen war unangenehm gewesen. Er hatte sich eine ganze Weile in ihrem limbischen System festgesetzt.
Der Geruch war auch bei ihrem ersten Opfer ein Thema gewesen. Billig, pudrig und süß und derartig überdosiert, dass jedes Mal eine Wolke davon übers Wasser geschwebt war, wenn die Oma im Weg war. Und sie war ständig im Weg gewesen. Furchtbar langsam und ihre Pausen hatte sie stets im ungünstigsten Moment beendet. Immer, wenn sie eine Bahn geschafft hatte und direkt die nächste starten wollte, wartete die Oma, bis sie am Beckenende angekommen war und schwamm dann in die Blockadeposition, statt noch ein paar Sekunden zu warten bis die ohnehin viel schnellere Schwimmerin wieder durchgestartet war. Nun konnte sie ihretwegen die unterirdischen Ströme blockieren und den Fährmann auf dem Styx zur Weißglut bringen. Hier war sie nicht mehr im Weg.
Das Walross kam schnaubend näher. „Na warte“, dachte sie. „Mein Messer ist noch nicht satt und an dir ist wenigstens richtig was dran.“
Und das wurde ihr zum Verhängnis, denn den Panzer aus Fett konnte sie nicht tief genug durchdringen.
Wenn man lange in einen Abgrund blickt, blickt der Abgrund irgendwann zurück. Kommissarin Kerkenbrock hatte viele schlaflose Nächte vor sich.
Heute keine selbstdarstellungswütigen Fleischbrocken, die rücksichtslos durch das Wasser pflügten, als hätten sie ihre Bahnen gepachtet. Keine penetrant billig duftenden Seeschnecken, die zum Kaffeekränzchen alle Bahnen blockierten. Keine Tranfunzeln, die mitten im Becken herumstanden, nur um ihr neues Knie zu bewegen. So sollte es sein. So sollte es bleiben.
Kerkenbrock starrte in blankem Entsetzen auf das fünfte Opfer in dieser Serie. Schon wieder die durchtrennte Beinschlagader und weit und breit keine Tatwaffe. Die Kommissarin fragte sich, wer über eine derartige Kaltblütikeit verfügte. Bisher war die einzige Verbindung zwischen den Opfern die Verletzung der fingerdicken Arterie, die einen tödlichen Blutverlust zur Folge gehabt hatte.
Eine ältere Dame aus Westerenger, Fleischereifachverkäuferin im Ruhestand – da hatten sie schon militante Tierschützer in Betracht gezogen.
Dann hatte es diesen Mathelehrer aus Werther erwischt. Die Opfer hatten einander nicht gekannt, aber wer konnte wissen, ob der oder die Täter*in nicht mit beiden eine Rechnung offen gehabt hatte? Die Schweinemörderkomplizin und der erbarmungslose Pauker, der die Abiturpläne zunichte gemacht hatte.
Die fünfunddreißigjährige Verwaltungsangestellte aus Spenge passte dann aber gar nicht ins Bild. Sie taugte nicht als Aggressorin, die uferlose Gegenaggression provozierte. Sie war ein gesichtsloses Rädchen im Getriebe gewesen, einsam und von einem unübersehbaren Hüftleiden gebeutelt.
Aus den Unterlagen der Jöllenbecker Zahnärztin, die das vierte Opfer gewesen war, ging rein gar nichts hervor; kein möglicher Behandlungsfehler, der Rache auf den Plan gerufen hätte.
Und hier lag nun ein Junge aus Enger, gerade mal dreizehn Jahre alt, schlank und hübsch und voller definierter Muskeln. Enfach ausgelöscht. Es war entsetzlich.
Fünfundzwanzig Bahnen lagen hinter ihr, fünfundfünfzig noch vor ihr. Es wurde etwas voller. Jeder Besucher, der die Schwimmhalle betrat, bekam ihren argwöhnischen Blick zu spüren. „Nicht in meine Bahn!“, dachte sie jedes Mal. „Nicht in meine Bahn!“
Als könnten sie ihre Gedanken hören, kam ihr niemand in die Quere. Jahrelang war sie voller Rücksicht auf alle anderen dauernd im Slalom herumgezappelt, war ausgebremst und angerempelt worden, hatte es klaglos ertragen, doch damit war jetzt Schluss. Sie schwamm ihre Bahn und niemand kam ihr in die Quere.
Die Tür zu den Duschen öffnete sich und das Walross stapfte aufs Becken zu; die Dicke mit der Warze auf der linken Wange. Als sie ihr das letzte Mal begegnet war, hatte die sie ständig aus der Bahn gedrängt, auf die sie gerade ausgewichen war. Die Dicke stieg ins Wasser und Tatsache, ohne sich vorher umzusehen, stieß sie sich vom Beckenende ab und schlug mit ihren schweren Armen im Rückenkraul ins Wasser. Direkt auf den ersten Metern schwamm sie eine ältere Dame über den Haufen. Die nächste Bahn zog sie im Brustschwimmen, aber genauso blind und wüst – glücklicherweise in gebührendem Abstand. Sie sollte ihr bloß nicht zu nahe kommen. Dem Jungen, der ohne abzuwarten, ob die Bahn frei war, vom Ein-Meter-Brett gesprungen war, hatte sie sich direkt im Anschluss vorgknöpft.
Bei der zähen, alten Schachtel war es komplizierter gewesen. Ganze acht Mal hatte sie ihre energische Rücksichtslosigkeit ertragen müssen. Dieser blasierte Herrenmenschen-Ausdruck in ihren Augen, der harte Zug um den Mund, der eisern trainierte, dainwelkende Körper, dessen Verfall sie ihre Lebensgier entgegensetzte. Die Alte war beim Umkleiden so schnell, dass sie schließlich ihr Pensum verkürzt hatte, um vor ihr draußen zu sein und ihr auf dem Parkplatz aufzulauern. Dann hatte sie sie verfolgt und tagelang beobachtet. Zahnärztin war sie gewesen, sie hätte auf Studienrätin getippt, Englisch und Geographie. Sie hatte sie im Garten erledigt. Die würde ihr nie mehr den Weg abschneiden.
Die Acqua-Joggerin war dagegen ein leichtes Opfer gewesen. Von ihr hatte sie sich regelrecht verfolgt gefühlt. Wenn sie schon mit ihrem tumben Gesichtsausdruck und den beiden Schwimmgürteln – einem natürlichen und einem aus Styropor – in die Halle humpelte, war ein unangenehmes Kitzeln ihren Nacken hinaufgekrochen. Die lahme Ente hampelte immer genau mitten im Becken herum, und alle mussten um sie herumschwimmen. Und immer war sie in ihre Bahn gekommen und hatte sie debil angeglotzt. Es war nicht zu ertragen gewesen. Sie hatte immer nahezu zeitgleich mit ihr das Becken verlassen, um sie auch unter der Dusche anzuglotzen und auf dem Weg in die Umkleiden war sie mit ihren quietschenden Badelatschen hinter ihr hergewatschelt. Nach dem Schwimmen war sie im selben Supermarkt gewesen und hatte in derselben abgelegenen Ecke des Parkplatzes ihr Auto abgestellt. Ein kurzer Schnitt und die Sache war erledigt gewesen.
Der Angeber mit dem breiten Kreuz hatte ihr dagegen Respekt abverlangt. Typisch Mann, war er einfach immer seine Bahn geschwommen. Im Platzhirschkraul hatte er mit jedem Arm- und Beinschlag zum Ausdruck gebracht, dass Teilen nicht zu seinen Kernkompetenzen gehörte. Niemand machte ihm dieses Privileg streitig, obwohl kein Anspruch bestand. Er nahm es sich einfach. Im Gegenzug hatte sie ihm das Leben genommen. Das war nur gerecht. Er schien ein Kämpfer zu sein. Sie hatte ihn wochenlang beschattet, um seine Achillesferse zu finden. Gut, dass er Lehrer war – das erweiterte den Kreis der Verdächtigen auf hunderte von Schüler*innen. Und gab es einen geeigneteren Ort als die Lehrertoilette, einen wehrloseren Moment für einen Mann als den, wo er mit der Hose auf den Knöcheln unter Anspannung sein Innerstes nach außen kehrte, ganz bei sich selbst und sich in Sicherheit wähnend? Der Geruch hingegen war unangenehm gewesen. Er hatte sich eine ganze Weile in ihrem limbischen System festgesetzt.
Der Geruch war auch bei ihrem ersten Opfer ein Thema gewesen. Billig, pudrig und süß und derartig überdosiert, dass jedes Mal eine Wolke davon übers Wasser geschwebt war, wenn die Oma im Weg war. Und sie war ständig im Weg gewesen. Furchtbar langsam und ihre Pausen hatte sie stets im ungünstigsten Moment beendet. Immer, wenn sie eine Bahn geschafft hatte und direkt die nächste starten wollte, wartete die Oma, bis sie am Beckenende angekommen war und schwamm dann in die Blockadeposition, statt noch ein paar Sekunden zu warten bis die ohnehin viel schnellere Schwimmerin wieder durchgestartet war. Nun konnte sie ihretwegen die unterirdischen Ströme blockieren und den Fährmann auf dem Styx zur Weißglut bringen. Hier war sie nicht mehr im Weg.
Das Walross kam schnaubend näher. „Na warte“, dachte sie. „Mein Messer ist noch nicht satt und an dir ist wenigstens richtig was dran.“
Und das wurde ihr zum Verhängnis, denn den Panzer aus Fett konnte sie nicht tief genug durchdringen.
Wenn man lange in einen Abgrund blickt, blickt der Abgrund irgendwann zurück. Kommissarin Kerkenbrock hatte viele schlaflose Nächte vor sich.
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