Freitag, 8. März 2019
Epilog im Fegefeuer
„Was führt Sie hier her, junger Mann?“
„Ich hab' es in der Hölle nicht mehr ausgehalten.“
„Nanu. Ich dachte, die Hölle gibt es gar nicht.“
„Doch, natürlich.“
„Und wie sieht es da aus?“
„Ganz normal.“
„Aber was unterscheidet die Hölle dann vom Himmel?“
„Es fühlt sich anders an. Es ist kein Ort, es ist ein Zustand. Im Himmel ist alles leicht, hell und warm. So lange ich lebte, war alles schwer, düster und voller Kälte, ein stetiges Frösteln. In mir waren die Farben einem hochdeckenden Aschgrau gewichen, und meine Mitte fühlte sich an, als würde sie von Säure zerfressen.“
„Wie sind Sie entkommen?“
„Tabletten.“
„Hätte ich vielleicht auch machen sollen.“
„Wie sind Sie denn hier her gelangt?“
„Ich bin gesprungen.“
„Und? Wie war es?“
„Grauenvoll. Ich dachte, es geht schnell, aber die Zeit des Fallens zieht sich schier endlos hin. Man möchte die Reißleine ziehen und alles rückgängig machen, aber es gibt kein Zurück mehr, kein Entrinnen. Da wechseln sich Angst, tiefste Verzweiflung, tonnenschwere Zweifel und inständiges Bedauern blitzlichtartig ab bis dann schließlich die unfassbare Brutalität des Aufschlags das komplexe Gefäß der Seele zertrümmert. Man spürt, wie alles in einem bricht, zerberstet, platzt und zerquetscht wird. Aber dann wurde es gut. Schwamm drüber.“
„Ob die, die Ihre Überreste wegräumen müssen, das wohl auch sagen können?“
„Ich denke, nein. Das wäre ja menschenverachtend.“

„Warum sind Sie gesprungen?“
„Ich wurde gemobbt. Habe es von allen Seiten abgekriegt. Und Sie? Was hat Sie in die Hölle gebracht?“
„Ein Priester.“
„Das ist ja grotesk. Die werden doch extra dafür bezahlt, dass sie einem den Zugang zum Himmel erleichtern. Was hat er Ihnen angetan?“
„Er hat mich benutzt.“
„Sie meinen im biblischen Sinne?“
„Was ist das denn für eine blöde Formulierung? Sie hören sich an wie ein verklemmter Philologe. Er hat mich gefickt, wenn Sie es genau wissen wollen.“
„Wie hat er das angestellt?“
„Was wollen Sie denn jetzt hören?“
„Wie es dazu kam, wie er Sie dazu gebracht hat, es ihn tun zu lassen.“
„Ich will da nicht mehr drüber reden. Es hat mein Leben zerstört, mich einfach nicht mehr losgelassen. Er war der Pater, ich sein Messdiener. Mir fehlten die Worte, um irgendwen über das Ungeheuerlich ins Vertrauen zu ziehen.“
„Aber Kinder werden doch heutzutage extra geschult, damit sie sich wehren können.“
„Ja, heutzutage vielleicht, damals war aber keine Rede davon.“
„Damals?“
„Ist schon eine Weile her. So etwa dreißig Jahre.“

„Und warum haben Sie jetzt erst Schluss gemacht?“
„Weil vor Kurzem alles wieder hochkam. Ich hatte ein Klassentreffen, da kamen Geschichten auf den Tisch, danach bekam ich Alpträume,dann war dieses Thema dauernd in den Medien, ich hatte ständig das Gefühl zu ersticken, hab' es einfach nicht mehr ausgehalten.“
„Ach ja, die Katholen und ihr Zölibat.“
„Wie kommen Sie denn hier hin, wenn Sie nicht katholisch sind?“
„Na hören Sie mal! Von der Evangelischen Kirche haben Sie wohl noch nichts mitbekommen?“
„Doch, schon. Ich hab' nicht nachgedacht. Ich war beruflich nicht mit der Religion befasst, das hat mich nur selten beschäftigt.“
„Was haben Sie denn beruflich gemacht?“
„Ich war Zahntechniker. Und Sie?“
„Jugendreferent.“
„In der Politik?“
„In der Evangelischen Kirche.“
„Haben Sie die Pfarrer beraten?“
„Nein. Ich habe Freizeitprogramm für Kinder und Jugendliche angeboten.“
„Ach so. Batiken, Backen und Beten.“
„Haha. Das war schon etwas anspruchsvoller.“
„Ach, Gipsmasken haben Sie auch gemacht?“
„Ich war neben der Religionspädagogik vor allem im Kulturbereich und in der Erlebnispädagogik aktiv.“
„Wie habe ich mir denn Erlebnispädagogik vorzustellen?“
„Verschiedene, meist sehr intensive Erfahrungen: Kanutouren, Steilwandklettern, Hochseilgarten, Orientierungsläufe, Baumhausbau, Bogenschießen.“
„Und im Kultursektor?“
„Konzerte und Filme.“
„Ach, Dirigent und Regisseur waren Sie auch?“
„Nein, ich habe Bands rangeholt, die den Kids gefallen und manchmal besondere Filme vorgeführt. Am besten waren die Abende, an denen ich die Ehrenamtlichen zu mir nach Hause eingeladen habe. Da wurde der Beamer im Wohnzimmer aufgebaut und gemütlich gekuschelt.“
„Hatten die Eltern da keine Bedenken?“
„Im Leben nicht. War doch Kirche.“
„Und warum wurden Sie gemobbt, wenn Sie den jungen Leuten so viel zu geben hatten?“
„Darüber möchte ich nicht reden, das ist einfach zu schmerzhaft.“
„Für Sie oder für mich?“
Schweigen. -
„Sind Ihre Schützlinge über Nacht geblieben?“
Schweigen. -
„Waren es die bestätigungsdurstigen Mädchen oder die schutzbedürftigen Jungen, die Sie in Ihr Bett geholt haben?“
Schweigen. -
„Und hat Ihre Frau etwas davon mitbekommen oder Ihr Mann oder waren Sie einer von diesen beziehungsunfähigen Sexualprotzen, denen mit fortschreitendem Alter die Beute ausgeht?“
Schweigen. -
„Ich wünschte, es gäbe doch eine ewige Hölle.“

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