Freitag, 15. Februar 2019
Zweimal im Leben – mehrteiliger Kurz-Krimi
DIESE GESCHICHTE WIRD TÄGLICH LÄNGER, BIS SIE ZU ENDE ERZÄHLT IST.

Der Fußboden sah ganz verschossen aus, so, als hätte die Sonne das Material zersetzt oder wie eine verputzte Wand nach einem Wasserschaden. Unfassbar. Dabei war das gigantische Krankenhaus gerade mal zehn Jahre alt. Damals hatte er noch in dem alten Klinikum in der Halle gesessen und gezittert, bis man ihm vollends den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Diesmal ging es um ihn selbst und es sah nicht gut aus. Der Groll hatte ihn zerfressen, war in seine Eingeweide eingezogen und hatte sich dort ausgebreitet. Gesund würde er sicher nicht hier herauskommen. Es hieß ja auch Krankenhaus, das Haus, das ihn krank machte, einfach auf der grünen Wiese in den Sand gesetzt dilettierten die unmotivierten Provinzprofis munter weiter vor sich hin, schluderten mit der Hygiene, raunzten die Patienten an und waren permanent überfordert mit allem.

Heiko stieg zufrieden vom Spinner. Da, wo die Funktionskleidung die Haut nicht bedeckte, lief ihm die Suppe nur so herunter. Er war in Topform, genauso fit wie damals vor dem Unfall. Jetzt eine heiße Dusche und dann bei leckerem Kaffee und Früchtemüsli die Zeitung lesen. Das einzige, das seine Laune heute Morgen trübte, war die Tatsache, dass er diesen blendend sonnigen Tag überwiegend im Büro und in Konferenzräumen verbringen würde. Wenigstens wurde es mittlerweile nicht mehr so früh dunkel. Sicher könnte er sich einen Absacker unterm Heizpilz auf der Dachterrasse gönnen und sich einbilden, er sei im Skiurlaub in Sankt Moritz. Das gehörte zu seinen kleinen Tricks, sich im stressigen Alltag kleine Inseln der Erholung zu schaffen: der Sport und die Sorge für gute Atmosphäre. Mit der Aussicht auf den perfekten Feierabend stieg er frisch gestählt und strahlend in seinen Peugot 308 und machte sich auf den Weg.

Dorothea atmete tief durch. Sie musste dringend ihr Konzept überdenken. Ein ganzer Vormittag Onkologie, das überstieg deutlich ihre Kräfte. Sie hatte das so arrangiert, damit sie nicht täglich mit der Endlichkeit des irdischen Daseins konfrontiert war, mit Hoffnungslosigkeit, Wut, Trauer und Angst vor dem Ende. Sie war jetzt schon seit sechs Jahren als Krankenhauspfarrerin tätig, aber es erfüllte sie immer noch mit Entsetzen. Sie hatte gehofft, sich mit der Zeit daran zu gewöhnen, aber das Gegenteil war der Fall, sie entsetzte sich immer noch mehr. Darum musste sie sich ihre Kräfte einteilen. Jetzt gönnte sie sich erst einmal einen wärmenden Ingwer-Tee, der klärte den Geist und dann würde sie die Ansprache für ihre Abendandacht formulieren.

Die Wartezeit erschien ihm endlos. Immerhin war es nicht kalt auf dem Flur und die Sonne kam langsam um die Ecke. Aber stickig war es hier, von nirgendwoher kam frische Luft und er glaubte, die multiresistenten Keime förmlich riechen zu können Die hatten auch Adelheid damals den Rest gegeben. Nur noch ein Haufen Fleisch war sie nach dem Unfall gewesen, künstlich von medizinischen Geräten am Leben erhalten und am Ende hatte nicht einmal das mehr gereicht. Sepsis und schließlich multiples Organversagen.Der Schuldige war auch schwer verletzt worden, aber er hatte es überlebt.
Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen: ein Weißkittel schwebte auf einem City-Roller den Flur entlang. Auch so ein Ungeduldiger, dem alles nicht schnell genug gehen konnte, damit er noch mehr Geld scheffeln konnte, um sich haufenweise exklusive Skiurlaube leisten zu können, während der er dann bei seiner forschen Raserei sein Leben riskierte. Das eigene und das der anderen. Und wenn es dann die anderen erwischte und er noch einmal davon gekommen war, fühlte er sich als Sieger.
Plötzlich ertönte ein irritierendes Summen und es wurde merklich dunkler. Die Jalousien vor den Fenstern waren mit Lichtsensoren ausgestattet und schlossen sich bei direkter Sonneneinstrahlung automatisch. An diesem Ort war man wahrhaftig gänzlich angeschnitten vom Leben. Er seufzte und ergab sich in sein Schicksal.

Es ging ganz schnell. Plötzlich hatte er vor lauter Licht gar nichts mehr gesehen und dann hatte es gekracht und der Airbag hatte sich geöffnet. Er schmeckte das metallische Aroma seines eigenen Blutes und vergewisserte sich benommen seines Körpers. Er hatte Schmerzen, aber Schmerzen waren gut, das hieß, dass er lebte und sich spüren konnte. Trotzdem war er hilflos. Das Smartphone lag nicht mehr auf dem Beifahrersitz, vermutlich war es beim Aufprall in den Fußraum geschossen. Verdammt! Wenn die Verhandlung heute abgebrochen wurde oder – noch schlimmer – ohne ihn stattfand, würden womöglich die falschen Weichen gestellt und am Ende ein Beschluss gefasst, der ihm politisch das Genick bräche. Er würde zwar in der freien Wirtschaft unterkommen, aber das Big Business lag ihm nicht und im mittelständischen Segment war einfach nicht genug Geld zu verdienen. Jemand öffnete die Tür, sprach ihn an, alarmierte einen Rettungswagen. Ihm würde bald geholfen.

Dorothea konnte sich einfach nicht konzentrieren, sie bekam die Bilder nicht aus dem Kopf. Vielleicht sollte sie die Umgebung wechseln und sich von der Örtlichkeit der Kapelle inspirieren lassen. Vorher würde sie sich noch ein wenig die Beine vertreten und Lisa das geliehene Buch zurück bringen. Bis zur Urologie waren es ein paar Minuten Fußweg und sie hätte sich niemals zu Doktor Schreibers würdeloser Marotte hinreißen lassen, für die langen Wege einen City-Roller zu benutzen.

Noch immer wurde er nicht aufgerufen. Ob sie ihn vergessen hatten? Er griff achtlos nach einem Faltblatt auf dem Schriften-Tisch, das nicht so sehr nach medizinischer Aufklärung aussah. Die konnte er nicht mehr ertragen, wie sie in ihrer blitzsauberen, fröhlichen Sachlichkeit den Stier bei den Hörnern packten, wo sich alles so anhörte, als sei jede Krankheit eine interessante Herausforderung, der man sich nur mit dem passenden Kunstgriff und angemessenen Maßnahmen stellen müsse. Dies hier war nicht im stahlblau-mintgrün-reinweißen Business-Look, sondern in warmen, ineinanderfließenden Farben gehalten. Er klappte die Broschüre auf und ein vehuschtes Mäuschen lächelte ihm schüchtern entgegen. Ach so, die Krankenhauspfarrerin. Zur ordentlichen Gemeindepfarrerin hatte es wohl nicht gereicht. Nerven, Alkohol oder Eheprobleme, vielleicht sogar alles auf einmal. Wieso hießen die eigentlich immer alle Dorothea? Hatte man mit dem Vornamen keine andere Wahl? Geschenk der Göttin bedeutete er oder auch Gottesgabe. Eine Göttin, mit der er eindeutig keinen Vertrag hatte. Aus den fröhlichen Schönheiten mit Fotomodell-Potential wurden nie Theologinnen. Die wurden Reno-Gehilfinnen, MTAs, Chemie-Laborantinnen, Bäckereifachverkäuferinnen oder Sonnenstudio-Betreuerinnen.Adelheid war Bankangestellte gewesen, auch eine hübsche, aber etwas stiller als die Uschis, Tanjas und Evelyns.
Ein Martinshorn näherte sich. Da kam also jemand in die Notaufnahme. Na toll. Dann würde es wohl noch länger dauern.

Die Wolken zogen vorbei, hin und wieder die kahlen Wipfel winterlicher Bäume. Er fühlte sich wie in einem Traum. Alles war irgendwie absurd und so, als sei er gar nicht davon betroffen. Die Beruhigungsmittel taten ihre Wirkung. Dann – nach einer Unendlichkeit zwischen allen Welten – wurde es wieder handfester: raus aus dem Wagen, Gänge entlang und dann, nachdem etliche Weiß- und Grünkittel um ihn herum gewuselt waren, stand er auf dem Flur vor einer großen Tür, von der er nicht wusste, in was sie ihn einlassen würde.

Das Buch hatte sie auf Lisas Schreibtisch gelegt, vielleicht sollte sie für den Rückweg an die frische Luft gehen. Vor einem der Röntgenräume wartete jemand, der offensichtlich gerade eingeliefert worden war. Er kam ihr seltsam bekannt vor. Ein kribbeln zog ihren Nacken hinauf. Bilder stürzten auf sie ein: massenhaftes Gelächter, ihre Federmappe flog kreuz und quer durch den Klassenraum, abschätzige Blicke bei der Abiturfeier, ein Bild in der Zeitung: Heiko Gärtner zum Oberbürgermeister gewählt, geflissentliches Übersehenwerden beim Jahrgangsstufen-Treffen zum fünfundzwanzigjährigen Abitur-Jubiläum und dann nur noch Pressefotos, Lokalzeit-Berichte, Klatsch und Tratsch. Jetzt musste sie beweisen, dass sie ihrer Rolle gewachsen war; dem Verletzen Mut zusprechen. Alles in ihr sträubte sich, ihn mit einem freundlichen „Hallo Heiko.“ zu begrüßen. Sie würde vorgeben, ihn nicht erkannt zu haben, auch nicht als angehenden Bundespolitiker. So zermatscht und sediert, wie er dalag, würde das jeder verstehen. Sie trat an seine Liege.
„Sie scheint es ja übel erwischt zu haben.“, säuselte sie sanft. „Aber hier sind Sie in guten Händen. Es wird Ihnen sicher bald wieder besser gehen. Wenn Sie in den nächsten Tagen ein Gespräch brauchen, fragen Sie einfach nach der Klinik-Pfarrerin. Aber jetzt lasse ich Sie erst einmal in Ruhe. Gute Besserung.“
Sie eilte fort. Nur schnell ganz weit weg von ihrem einstigen Peiniger. Sie konnte ihm noch immer nicht vergeben und sie hoffte inständig, dass er nicht nach ihr fragen würde.

Kam ihm bekannt vor, die Frau, die da gerade mit dem Verletzten sprach. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen. Komisch, dass er sich so eine farblose Erscheinung gemerkt hatte. Vielleicht war es die anregungsarme Umgebung, die seine Sinne schärfte. Die Broschüren hatte er schon alle durchgeblättert. Um sie auch noch gründlich zu lesen, dazu fehlte ihm der Nerv. Doch woher kannte er dieses Frau? Eine Ärztin war sie offenkundig nicht, es sei denn, sie war gerade außer Dienst und darum nicht im weißen Kittel. Sie machte nicht den Eindruck, eine nähere Angehörige des Verletzten zu sein, dafür verhielt sie sich viel zu distanziert. Vielleicht eine entfernte Bekannte oder... oder... die Krankenhauspfarrerin! Ja, genau, er griff noch einmal nach der herausragenden Broschüre in den warmen Farben. Sie war es. Dann sprach sie dem Neuankömmling einfach Mut zu. Komisch. Warum kümmerte sie sich nicht um die in Ungewissheit zitternden oder vor Entsetzen erstarrten, verlorenen Seelen in der Radiologie? Für ihn hatte sie keine aufmunternden Worte, keinen warmen Händedruck. Na ja, das war wohl besser so, sie sah aus, als seien ihre Hände kalt und feucht – und voller Keime.
Es war ja auch angenehmer, denen gut zuzureden, die noch eine Perspektive hatten. Verletzungen von Unfallopfern heilten in der Regel innerhalb weniger Wochen, in schlimmeren Fällen dauerte es ein paar Monate. Krebspatienten oder chronisch Kranke dagegen, das konnte einen schon runterziehen. Er zuckte unwillkürlich zusammen. Wie hatte ihm das passieren können? Adelheid war auch ein Unfallopfer gewesen und auch sie hatte das letzte Stück ihres Lebensweges in Hoffnungslosigkeit verbracht. Wer konnte wissen, was diesem armen Unfallopfer blühte?

Heiko fühlte sich noch immer wie in dichtem Nebel, der alles um ihn herum dämpfte: Licht, Geräusche, Berührungen, Gerüche. Das, was da eben zu ihm gesprochen hatte, das hatte er schon einmal gehört oder gesehen. Es fiel ihm schwer, es einzuordnen, er wusste kaum, wo er sich befand. Ihm war schon klar, dass es einen Unfall gegeben hatte und man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, aber wo genau in der Klinik er sich gerade aufhielt und zu welchem Zweck, erschloss sich ihm nicht und es war ihm auch egal. Hatte er das Wesen damals vor zehn Jahren schon einmal kennengelernt, als er mit zahlreichen Knochenbrüchen, Quetschungen und inneren Blutungen eingeliefert worden war? Oder war es eine Erscheinung? Da war doch eine Frau beteiligt gewesen, die hatte es im Gegensatz zu ihm nicht geschafft. Tat ihm ehrlich leid, aber er konnte es nicht ändern und war damals auch völlig hilflos gewesen, wie er sich den Hinterbliebenen gegenüber hätte verhalten sollen. Er selbst hätte den Verursacher, der den Verlust eines geliebten Menschen zu verantworten hatte, nicht sehen wollen. Das hätte er als Zumutung empfunden. Darum hatte er sich auch nie bei den Hinterbliebenen gemeldet. Er hatte sich der Verhandlung gestellt und bezahlt, was ihm auferlegt worden war. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen, er war genug bestraft worden, das Leben musste weitergehen. Aber dieses säuselnde Wesen, das war aus einer Zeit, die weiter zurück lag, fast wie aus einem früheren Leben. Er dachte an seltsame Dinge: Muskelshirts, Kirschjoghurt mit Bindemittel, lindgrüne Wände unter hohen Decken, Popper, Punks und Ökos, O-Saft mit Blue Curaҫao, Tanted Love, Stefans Scirocco und der Aktenkoffer mit dem Zahlenschloss. Natürlich! Ihren Namen hatte er vergessen, aber sie hatte in der zehnten Klasse immer noch so eine akkurate Grundschul-Federmappe mit Gummischlaufen für jeden einzelnen Stift. Beherzt hatten sie sie durch die Klasse geworfen und so Schweinchen Jagen mit der grauen Maus gespielt. Und was für eine graue Maus sie gewesen war! Immer in Rock und Strickjacke, akkurater Flechtzopf und Make-up-freie Zone. Sie hatten immer gefrotzelt, dass sie sich wohl für Jesus aufsparte und das dürfte ihr leicht gefallen sein, keiner wollte sie auch nur mit den Fingerspitzen berühren. Hoffentlich war sie nicht seine behandelnde Ärztin oder für ihn zuständige Krankenschwester, dann würde er Carina bitten, ihn verlegen zu lassen. Es war ohnehin unerträglich hier – zugig und stickig zugleich. Wie war so etwas möglich?

Nun, wo sie sich in sicherem Abstand befand, konnte Dorothea wieder klar denken. Was wusste sie schon über Heiko Gärtner, was für ein Mensch er heute war, wie es in ihm aussah? Praktisch nichts.Sie würde morgen einmal nach ihm sehen und sich zu erkennen geben. Sie musste ihm verzeihen, das war ihr Christenpflicht. Damals war er ein Heranwachsender gewesen, vermutlich im Inneren zutiefst verunsichert, wollte sich trotz seiner tatsächlichen Ohnmacht stark und mächtig fühlen und musste sich damals mit seinen Freunden zusammenrotten und andere klein machen, jene, bei denen er ein leichtes Spiel hatte. Heute hatte er Macht und Stärke, da hatte er das nicht mehr nötig, aber jetzt brauchte er Hilfe und Zuspruch und sie war die Krankenhaus-Pfarrerin, es war ihre Aufgabe, ihm Trost zu spenden und ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte zu haben. Sie hatte sich kurz schuldig gewähnt, aber dieses nagende Gefühl besiegt, indem sie Pläne schmiedete, ihr Fehlverhalten aus der Welt zu schaffen. Sie würde stark und barmherzig sein. Aber nicht heute. Heute musste sie Kräfte sammeln.

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