Freitag, 25. Januar 2019
Das Meer in dir
Er war sich nicht im Klaren darüber, ob das Kribbeln auf der Haut von den Millionen feiner Sandkörner herrührte oder aus seinem Innersten kam. Er genoss die intensiven Sonnenstrahlen, die ihn mehr durchwärmten als jeder Qualitätswhisky vor einem prasselnden Kaminfeuer und da stieg noch eine andere Hitze in ihm auf, die kam von den athletischen Leibern, die wahlweise in sandiger Panade vor sich hin brieten wie Chicken Nuggets im Umluftherd oder herumtollten wie junge Hunde, um ihm mit ihrem betörenden Muskelspiel den Mund wässrig zu machen.
Mehr wollte er doch gar nicht von seinem Urlaub: Sonne, Strand und von der Liebe träumen – ja und hin und wieder zum Schuss kommen, das gehörte natürlich dazu.

Er war ein bisschen wie Friedrichs Gedicht: erst wüten und dann still da liegen. Er fühlte sich sogar wie das dazu gehörige Gemälde, ein azurblauer Wirbel, durchzogen von weißen und schwarzen Schlieren, umgeben von einer ockerfarbenen Hülle auf grauem Grund. Ockerfarben war seine Haut und der Sand hier am renaturierten Strand von Marina di Bibonna war auch eher grau als goldgelb. Und in ihm toste es noch immer, auch wenn er scheinbar in sich ruhte. Wenn er die Augen schloss, war da wieder das Platschen des von panischen Schlägen gepeitschten Mittelmeeres. Er hat kein so großes Problem mit den Bildern, sie kamen und er hielt sie aus. Aber mit den Bildern kamen auch die Geräusche. Und dieser Soundtrack war nicht zu ertragen. Er blinzelte in die Sonne und nahm einen Schluck aus der Limoflasche. Die Cocktails hob er sich für den Abend auf, er war ja kein Teenager mehr.

Vor elf Jahren hatte alles angefangen. Sie hatten sich angefreundet auf einer Fortbildung, die halbe Nacht geredet und sich dann immer häufiger verabredet. Ihm war sofort aufgefallen, dass Friedrich genauso war wie er. Nein nicht direkt ein Seelenverwandter. Dirk war ein Macher, einer der Strukturen durchschaute und es verstand, sich das zunutze zu machen, einer der diese Strukturen auch verändern und neu entwickeln konnte. Leitung lag ihm, hatte ihm schon immer gelegen, auch wenn die wenigsten ihm das zutrauten.
Friedrich dagegen war ein Schöngeist gewesen. Zwar ein hierarchischer Typ, der sich nicht infrage stellen ließ, aber auch ein Künstler, ein Individualist. Dirk hatte ihn für sein doppeltes Talent bewundert, die Lyrik und die Malerei und wie er das Zusammenspiel beider Kunstformen verstand. Dirk hatte organisiert und Friedrich hatte ausgestellt und viel Lob und Anerkennung geerntet.
Aber in einer Hinsicht waren sie von Anfang an gleich gewesen: sie gaben Männern gegenüber Frauen den Vorzug. Beide waren ledig und machten ihre Homosexualität nicht öffentlich. Es war zwar kein Ausschlusskriterium mehr, aber immer noch äußerst unwahrscheinlich, als offen schwul lebender Mann in eine nette, bürgerliche Kirchengemeinde zum Pfarrer gewählt zu werden. Und wer Karriere machen wollte, brachte lieber keine wertkonservativen Kleinbürger gegen sich auf.
Sie waren nie ineinander verliebt gewesen. Friedrich war nicht Dirks Typ, zu altmodisch und unlustig. Er erinnerte Dirk immer an seinen alten Lateinlehrer, der hatte auch so für die alten Griechen geschwärmt und so einen merkwürdigen Bart getragen, wie ein arabischer Fürst, Haare an Kinn und Oberlippe, Die Wangen und den Hals aber glatt rasiert.
Dirk war wohl auch nicht Friedrichs Typ gewesen, der füllige Körper, der derbe Humor, das hatte jedes eventuelle Verlangen in ihm im Keim erstickt. Aber sie waren gute Freunde geworden, die sich gegenseitig unterstützten und über die schlimmste Einsamkeit hinweg halfen. Und einmal im Jahr verreisten sie zusammen.

„Mir ist sooo heiß!“, hatte Friedrich gestöhnt. „Ich glaube, ich muss in den Schatten und mir einen Eiskaffee genehmigen.“
„Du bist am Meer!“, hatte Dirk gekontert. „Lass uns ins Wasser gehen.“
„Du weißt doch, dass ich nicht schwimme.“
„Du musst ja auch nicht schwimmen. Du planscht ein bisschen im Flachen, bis du dich abgekühlt hast und dann gehst du auf die Luftmatratze und leistest mir beim Rausschwimmen Gesellschaft.“
„Das habe ich ja noch nie gemacht!“
„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis.“
„Wie bitte?“
„Ich meine, du kannst es als Ausrede versuchen, aber du kommst nicht damit durch. Alles, was man im Leben tut, tut man irgendwann zum ersten Mal.“
„So wie das Outing. Das macht man auch nur einmal. Wie ein Sprung ins kalte Wasser.“
„Fang nicht wieder davon an. Du weißt, dass ich meine Bewerbung für den Diakonie-Vorstand vergessen kann, wenn ich das tue.“
„Oder wenn ich es tue.“
„Untersteh dich! Ich weiß auch nicht, warum du das überhaupt tun musst. Es gibt genug kleine Wichser, die von unseren Urlauben wissen, eins und eins zusammenzählen und fünf herausbekommen. Wenn Du Deine sexueller Orientierung offenlegst, werde ich sofort mit dir in einen Topf geworfen und das weißt du.“
Friedrich hatte nur überlegen gegrinst. Da hatte etwas den Schalter in Dirks Kopf umgelegt.

Warum wollte Friedrich auch alles kaputt machen? Was hatte er davon, allen auf die Nase zu binden, dass er Männer liebte? Glaubte er, dass da schon jemand in den Startlöchern saß?

„Und jetzt komm, erst abkühlen, dann Seele baumeln lassen.“
„Was tue ich nicht alles für meinen ständigen Reisebegleiter.“, stöhnte Friedrich und rappelte sich auf. Das schrittweise Eintauchen in das kühle Tyrrhenische Meer kostete ihn reichlich Überwindung: „Jetzt war ich so froh, endlich mal wieder einen echten Kultururlaub zu machen und jetzt geht es hier ab wie letztes Jahr auf Ibiza.“
„Ibiza war geiler.“, entgegnete Dirk und kicherte seehoferisch. „Die Jungs am Strand waren alle willig, zumindest prinzipiell. Da bist doch sogar du auf deine Kosten gekommen.“
„Ach ja, aber eigentlich ist das nichts für mich. Ich will mich richtig verlieben, auf Dauer, in jemanden, auf den ich mich verlassen kann.“
„Warum musst du alles auf einmal haben? Du kannst doch massenhaft abwechslungsreichen Sex haben und verlassen kannst du dich auf mich. Komm, alter Mann, ich schleppe dich raus auf das Meer, das du so schön kreativ in Szene gesetzt hast.“
Dirk war den Strand hoch gelaufen und hatte die Luftmatratze geholt. Er hatte seinen Reisegefährten weit hinausgezogen. An Land bewegte er sich schwerfällig, aber im Wasser war er in seinem Element. Tatsächlich hatte Friedrich sich in der Sonne entspannt, darum war es ein leichtes für Dirk gewesen, ihn von der Matratze zu schubsen. Friedrich hatte aufgeschrien, war untergetaucht, wieder aufgetaucht, hatte panisch nach Luft gerungen und Dirk hatte geschrien: „Friedrich, halt dich an der Matratze fest!“, doch gleichzeitig hatte er ihn fortgestoßen, dafür gesorgt, dass der Ertrinkende weder die Matratze noch Dirk zu fassen bekam. Friedrich hatte Wasser geschluckt, nicht mehr schreien können, nur husten, hatte nach Luft gerungen und so immer mehr Wasser in seine Lungen gesogen, bis er schließlich nicht wieder aufgetaucht war.
Dann war der Freund zurück zum Strand geschwommen, hatte Alarm geschlagen, Panik und Verzweiflung nach außen gekehrt.

Drei Tage war das nun her. Seltsam, Friedrich fehlte ihm eigentlich gar nicht. Sein Bild verblasste schon, kein Wunder, bei dem Anblick, der sich ihm hier bot. Nur das letzte Gedicht, das sein Reisegefährte verfasst hatte, behielt er im Herzen:

Das Meer in dir

Wellen
die erst leise schwappen
größer werden
schneller kommen
alles mit sich reißen
und dann brechen
das Meer in dir
es tost und wütet
um dann
gleich morgen
wieder dazuliegen
tief und still und sanft

... link (0 Kommentare)   ... comment