Freitag, 5. Januar 2018
Resteessen
„Ist das nicht irre?“, fragte Nadine fröhlich und schenkte noch eine Runde Kaffee ein. „Jetzt feiert man schon zwei Tage Konfirmation und wir verrückten Hühner hängen noch einen dritten Tag dran.“
„Also wir feiern ja nun nicht Konfirmation.“, bemerkte Siemke schnippisch.
„Dazu besteht ja kein Zwang.“, erklärte Isen, „Aber ist doch trotzdem schön, alle mal wieder zu sehen und irgendwie fehlt ja auch so ein Initiationsritus, wenn man wie wir auf Kirche verzichtet. So 'ne lächerliche Jugendweihe wie damals in Dunkeldeutschland will ich bestimmt nicht und Finn kann da sicher auch drauf verzichten.“
„Na mindestens die Hälfte, ist dem Schoß der Kirche bis jetzt nicht entkrochen.“, stellte Gabi grinsend fest. „Und ich wette, Luna leitet in zwei Jahren die Mädchen-Jungschar, Jan-Ole wird Freizeit-Mitarbeiter und Lorraine leitet den Theater-Workshop von TEN SING. Was ist eigentlich mit Annette und Lizzi? Wohnen die immer noch in der Öko-Siedlung?“
„Nee.“, antwortete Isen. „Annette hat sich von Rolf getrennt und ist mit Lizzi nach Schilske gezogen, da ist die Waldorfschule gleich um die Ecke.“
„Und warum ist sie heute nicht da?“, fragte Tanja neugierig.
Isen zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihr eine Nachricht auf dem AB hinterlassen, aber nichts von ihr gehört. Das mit dem Umzug weiß ich auch nur, weil ich die beiden vor eineinhalb Jahren zufällig auf dem Wochenmarkt getroffen habe.“
„Hat schon was von Ironie des Schicksals, findet ihr nicht?“, fragte Nadine. „ich meine, eigentlich hat Annette doch damals eine nach der anderen aus der Krabbelgruppe geekelt und jetzt ist sie die Einzige die fehlt.“
„Ja, so kann's kommen.“, entgegnete Siemke schadenfroh. „Ich war ja die Erste, der sie einen Fußtritt verpasst hat.“
„Wieso einen Fußtritt?“, fragte Isen irritiert.
„Hast Du nicht gesehen, wie sie immer mit den Augen gerollt hat, wenn ich aus Rücksicht auf Darias Schlafgewohnheiten bei unseren privaten Nachmittagstreffen später gekommen bin? Und ständig machte sie spitze Bemerkungen, dass man den Biorhythmus seines Kindes auch steuern könne. Und wenn ich Schwierigkeiten hatte, weil ich eben keinen Mann an meiner Seite hatte, der mir den Rücken freihielt, dann meinte sie, mir erklären zu müssen, das sei alles nur eine Frage der Organisation. Sie hat mich so lange gemobbt, bis ich die Nase voll hatte und wie ich dann später erfahren habe, hat sie sich direkt das nächste Opfer gesucht.“
Gabi biss sich auf die Zunge, denn obwohl Siemke Recht hatte mit ihren Vorwürfen, so konnte sie doch nicht umhin, für Annettes Fehltritte Verständnis aufzubringen. Sie war damals insgeheim froh gewesen, dass die nervtötende Alleinerziehende, die permanent Ansprüche auf Rücksicht und Unterstützung anmeldete, sich eine andere Krabbelgruppe gesucht hatte. Bei den privaten Treffen zu Hause – normalerweise trafen sie sich vormittags im Gemeindehaus – war sie immer zwei Stunden später als verabredet aufgetaucht und schließlich zwei Stunden später als alle anderen gegangen, so dass die Gastgeberin zu einer Dauersitzung verdammt war. Angeblich hatte Siemke Rücksicht auf die Schlafbedürfnisse ihrer Tochter Daria genommen, in Wahrheit aber unterstellte Gabi ihr, nur die eigenen Bedürfnisse im Blick zu haben. So lange ihr Kind schlief, konnte sie sich Zeit für sich selbst nehmen und dann zog sie eben erst los, wenn Daria von allein aufwachte. Die Schlafbedürfnisse der anderen Kinder und die Bedürfnisse der Gastgeberin, interessierten sie dabei kein bisschen.
„Also mich hat Annette aber nicht rausgeekelt.“, meinte Tanja mit fröhlichen, runden Augen. „Wir hatten einfach keine Zeit mehr für die Krabbelgruppe, als Nele unterwegs war und wir den Dachboden ausgebaut haben. Aber ich bin gespannt, was ich gleich noch für Geschichten höre.“
Gabi biss sich zum zweiten Mal auf die Zunge. Natürlich hatte Annette auch Tanja gedisst. Tanja hatte das vielleicht oberflächlich nicht an sich herangelassen. Sie war eine echte Frohnatur, erzählte dauernd unglaubliche Geschichten, die sie entweder selbst erlebt oder irgendwo aufgeschnappt hatte, aber sie war der anspruchsvollen Annette auch nicht genehm gewesen, zu unkultiviert, zu wenig Bildungsbürgerin. Gabis Mann Tom, der das zweite und dritte Jahr des Erziehungsurlaubs übernommen hatte, als Gabi wieder arbeiten ging, hatte lebhaft von Annettes Spitzen berichtet mit einer Mischung aus amüsierter Bewunderung und leichtem Ekel. Annettes Tochter Lizzi hatte schon als Kleinkind die zickigen Züge ihrer Mutter übernommen und Gabi war heilfroh, dass ihre Tochter Luna sich mit diesem kleinen Biest nicht mehr auseinandersetzen musste. Als nur noch Lizzi, Luna und Finn samt Müttern oder Vätern zu regelmäßigen Treffen zusammenkamen, hatte Annette schon scherzhaft mit Isen verabredet, dass ihre beiden Kinder einander versprochen seien. Auch wenn es haltloser Unsinn war, war es ein Signal gewesen. Isen war als angehende Psychologin die interessantere Mutter, denn Gabi arbeitete bei der Stadtverwaltung. Annette selbst war Industriekauffrau, aber sie plante Großes für ihr einziges Kind Edda-Elisabeth.
Doch nun richteten sich alle Augenpaare auf Nadine, die Gastgeberin, die als Dritte die Runde verlassen hatte.
„Na ja“, sagte sie, „besonders nett war Annette zu mir, wie gesagt, auch nicht, aber bei uns war es auch das zweite Kind und der Umzug, das wurde mir alles zu viel. Also Annette war nicht der einzige Grund, aber sie hat schon oft ziemlich fiese Bemerkungen vom Stapel gelassen.“
„Zum Beispiel?“, fragte Tanja wissbegierig und sensationslüstern.
„Ach wir haben uns mal über die Herkunft der Namen unserer Kinder unterhalten. Und da meinte Annette, dass sie ihr Kind ja ungern wie eine Pastete nennen würde und sie fragte mich, ob ich denn noch nie etwas von Quiche Lorraine gehört hätte. Und dann meinte sie, so wie ich den Namen meiner Tochter ausspräche, müsste man den eigentlich mit einem r, zwei e in der Mitte und ohne e am Ende schreiben. Sie wusste immer alles besser und wenn wir uns unterhalten haben, hat sie nach jedem zweiten Satz den ich gesagt habe, so arrogant zu Isen rüber gegrinst, das war schon unangenehm.“
„Aber Du meinst, es lag nicht an Annette?“, fragte Siemke angriffslustig.
„Ich hatte einfach keine Zeit.“, erklärte Nadine entschieden. „Und jetzt lasst uns nicht über Abwesende lästern, ist doch schön dass sie uns Fünf nicht auseinander gebracht hat.“
„Das hätte sie aber.“, entgegnete Siemke mit frostigem Blick.
Isen erklärte, sie müsse einmal vor die Tür, eine rauchen.
„Ich komme mit.“, erklärte Tanja. Vor der Haustür zündeten beide sich eine Zigarette an. „Ich rufe noch mal bei Annette an.“, meinte Isen.
„Wieso?“, fragte Tanja.
„Bei Siemkes letztem Spruch lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich will nur wissen, dass es ihr gut geht.“
Lizzi war am Telefon. Sie war vollkommen aufgelöst. Man hatte Annette mit eingeschlagenem Schädel am Obersee gefunden. Es gab noch keinen Hinweis auf den Täter oder die Täterin. Aber Isen wusste, was zu tun war. Als Tanja fragte: „Und? Ist sie okay?“, antwortete Isen: „Ja, sie hat nur schreckliche Kopfschmerzen, wohl schon seit Tagen. - Du, Tanja, ich muss noch einmal kurz allein telefonieren, was Privates.“
„Schon gut.“, sagte Tanja. „Ich habe mir sowieso abgewöhnt, die Zigaretten ganz aufzurauchen. Ich gehe wieder ins Haus.“
Isen wählte die 110. Sie würde der Polizei den entscheidenden Hinweis geben.
Tanja ging wieder ins Haus. „Annette hat nur Kopfschmerzen.“, flötete sie.
Siemke erbleichte. Als Gabi ihre flatternden Hände beobachtete, ahnte sie, dass etwas Unvorstellbares vorgefallen war.

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Ist das nicht ein wenig zu dünn für einen Mordverdacht? Oder dafür, dass Isen Verdacht schöpft?

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Ja, das ist inder Tat wohl etwas dünn,
aber das sind die kleinen Schnitzer, die passieren, wenn die Geschichten kurz bleiben und nicht zu viel Erklärbär-Passagen haben soll ;-) Mir gelingen bei weitem nicht alle Projekte.

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