Dienstag, 29. August 2017
Kapitel 4 und 5 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
c. fabry, 02:23h
Dorfladen Häger – Montag, 12. September 2016
Christiane Kleinebekel stand seit einer Stunde hinter der Ladentheke. Sie tat das ehrenamtlich, damit das Dorf einen Ort bot, wo man sich mit dem Nötigsten versorgen konnte, ohne ins Auto zu steigen und wo man immer Leute traf, die man kannte, damit man morgens ein Schwätzchen halten konnte. Die Frühschicht, die im Übrigen dafür bezahlt wurde, hatte das kleine Geschäft bereits um fünf Uhr morgens geöffnet, denn zwischen fünf und neun Uhr gingen die meisten belegten Brötchen und Kaffees zum Mitnehmen über die Theke, an denen der Laden am meisten verdiente.
Christianes Freundin Sigrid Husemann-Rademacher, die im Gasthof schräg gegenüber lebte und arbeitete, war als Nächste an der Reihe, hinter ihr der Malermeister Volker Bracksiek und der Landwirt Hans-Werner Lohoff.
„Gibts du mir noch ein Dinkel-Chia-Brot?“, fragte Sigrid.
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück. Bleibt länger frisch.“
Martina Tappe betrat den Laden und stellte sich hinten an. Sigrid bezahlte und wandte sich an Martina, während Volker eine umfangreiche Bestellung für Samstag aufgab.
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Martina? Die hab' ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, die ist immer noch ganz schlecht zurecht.“, gab Martina Auskunft. „Seit sie die Grippe erwischt hat, ist sie ganz durcheinander.“
„Ja, das wirft so alte Menschen erst einmal gehörig aus den Puschen.“, meinte Sigrid mitfühlend.
„Ach, wenn sie nur erschöpft wäre“, beklagte Martina sich. „Aber sie wird ja nun allmählich immer dementer. Das ist schlimmer, als wenn man kleine Kinder hat, da kommt man gar nicht hinterher.“
„Na also dement ist Tante Luise ja nun wohl noch lange nicht.“, hielt Sigrid dagegen. „So was kommt ja nicht plötzlich innerhalb von ein paar Wochen über einen.“
„Nee, das geht schleichend, darum merkt man das auch nur, wenn man täglich mit den Leuten zu tun hat.“
„Also ich glaube, ich muss deine Mutter mal wieder besuchen.“, erklärte Sigrid. „Aber nicht jetzt. Wir haben gleich Gäste zum Essen. Mach's gut.“
Volker hatte sich mittlerweile einen Kaffee und eine Laugenecke bestellt und sich in das kleine Hinterzimmer gesetzt, das die Dorfladen-Initiative liebevoll als Café eingerichtet hatte.
Hans-Werner hatte einen Korb voller Lebensmittel und nachdem er bezahlt hatte, gesellte er sich auf ein Schwätzchen zu Volker. Nun war Martina an der Reihe. „Ich hätte gern ein Graubrot, geschnitten und eine Lage von dem Platenkuchen.“
„Ist ja wirklich schön, dass deine Mutter keine Diabetikerin ist wie die meisten in ihrem Alter.“, bemerkte Christiane.
„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
„Da würde ich nicht lange überlegen. Die sind aus Werther, und wie du weißt, keinen Cent teurer als im Supermarkt.“
„Ja, stimmt, man vergisst das immer, dass die Preise hier gar nicht höher sind, obwohl es doch so ein kleiner Dorfladen ist. Ach ja, dann nehme ich mal drei Äpfel mit. - Aber der Umzug gestern war doch wirklich ganz toll. Ich glaube so viele Wagen hat es noch nie gegeben.“
„Doch, hat es, aber das war vor deiner Zeit.“
„Ja, aber es ist doch toll, dass da nicht nur solche Gruppen mitwirken, die es in jedem Dorf gibt, sondern auch unsere Dorf-Ini und die Flüchtlingsinitiative und eben nicht nur Feuerwehr, Sportverein und Schützen.“
„Schützenverein haben wir in Häger gar nicht.“
„Ja, stimmt, das war auch einer der Gründe, warum Martin und ich uns für Häger entschieden haben. Was bin ich dir schuldig?“
„Fünf Euro vierzig.“
„Ja, das sind hier wirklich faire Preise.“, erklärte Irmtraut und setzte wieder ihr angestrengt strahlendes Lächeln auf. Als sie die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, riefen die Männer im Hinterzimmer: „Ist sie endlich weg?“
Christiane stellte sich wieder grinsend in den Türrahmen: „Das hätten wir für heute überstanden.“, stöhnte sie.
„Die hat dir ja wieder die ganze Tasche vollgelabert.“, stellte Volker fest. „Bis obenhin.“
„Ja, und ich will jetzt endlich los und den Schweinestall ausmisten.“, sagte Hans-Werner, „bevor das nächste Ungeheuer auftaucht, um 'ne halbe Stunde lang für zwei fuffzich einzukaufen. Macht's gut.“
„Ich muss auch wieder an die Farbeimer.“, erklärte Volker und legte einen Zehner auf den Tisch. „Stimmt so.“
Schröttinghausener Straße, Dienstag, 13. September 2016
Luise Sickendiek saß auf der Couch und fieberte mit dem grundanständigen Mädchen, dem das intrigante Flittchen aus der vermeintlich besseren Gesellschaft gerade den Verlobten abspenstig machte. Sie liebte ihre tägliche Seifenoper und wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Die Geschichten waren so einfach gestrickt, dass sie auch dann nachvollziehbar blieben, wenn man nicht jedes Wort mitbekam und die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr klar erkennbar waren. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Martina stürmte herein, die mit ihren schweren Schritten trotz der weinroten Velours-Puschen an ihren geschwollenen Füßen einen so mächtigen Lärm verursachte, dass Luise gar nicht mehr verstand, was am Fürstenhof gesprochen wurde.
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, keifte Martina. „Mit dem Krach kannst du ja schon ganz Häger beschallen.“, rief sie und schaltete den Fernseher aus.
„Aber ich wollte das gucken.“, protestierte Luise.
„Du hast Besuch. Da lässt man den Fernseher nicht laufen.“, wies Martina sie zurecht.
„Wer ist denn da?“
„Onkel Erich. Komm rein. Ist ja jetzt Kaffeezeit. Soll ich dir einen Koffeinfreien machen?“
„Och, das ist nicht nötig.“, antwortete Erich Mensendiek, der der Eigentümer der nächsten Hofstelle war, die er auch bewohnte. Das Grundstück, auf dem Luise und ihr Mann das Haus gebaut hatten, hatte auch einmal dazu gehört.
„Jetzt sag schon, was du trinken willst.“, forderte Martina barsch. „Es ist schließlich Kaffeezeit.“
„Dann lieber einen Kaffee ohne Koffein.“
„Für mich aber mit.“, rief Luise.
„Ach Mama, du wirst schon nicht vom Stängel fallen, wenn du einmal koffeinfrei mit trinkst. Zwei Sorten Kaffee kochen für zwei Leute. Wo gibt’s denn so was?“
„Trinkst du denn keinen Kaffee, Martina?“, fragte Erich.
„Nein, nachmittags trinke ich immer Sauerkrautsaft. Das entschlackt.“
Als Martina zum Kaffee Kochen verschwunden war, sagte Erich: „Mensch, Luise, was lässt du dir das von Martina gefallen? Die behandelt dich ja wie 'ne Gefangene.“
„Ach, die hat nur einen rauen Ton.“
„Rauer Ton? Die benimmt sich wie 'ne durchgedrehte Gutsherrin. Dabei sollte sie froh sein, dass du sie hier wohnen lässt.“
„Ach Erich. Die Kinder sind eben die Kinder und das bleiben sie auch. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht vor die Tür setzen.“
„Meinetwegen behalt' sie da. Aber ihr sollte mal jemand den Kopf zurechtrücken. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie dich so behandelt. Regelrecht unverschämt ist die und überhaupt kein Respekt vor dem Alter. Vorm Krieg hätte es so was nicht gegeben. Da hätte sie sich entweder zusammenreißen müssen oder sie wäre in'ne Anstalt gekommen.“
„Ach, Erich, das ist doch Quatsch. Weißt du noch, Baxmanns Mutter? Die habense auch nicht abgeholt.“
Aber nur weil Otto inner SS war, das sag ich dir. Der konnte da schützend seine Hand drüber halten. Ich denke, ich knöpfe mir eure Martina gleich mal vor.“
„Du, lass das bloß sein. Dann wird sie nur ärgerlich, und wenn die richtig ärgerlich ist, das ist so schlimm, das hast du noch nicht erlebt.“
„Ach, Luise, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schmeiß die undankbare Brut raus. Die werden schon nicht verhungern. So schlecht verdient Manfred nicht. Und du hast doch genug Geld auf der Kante, um dir die letzten Jahre 'ne eigene Pflegerin zu leisten. Die macht es dir dann richtig schön.“
„Da wäre ja ruck zuck alles verjubelt.“
„Ach was. Da nimmste einfach 'ne Polin, so wie ich. So teuer sind die nicht und viel netter als die jungen Leute hierzulande.“
„Ach Erich, wenn sie dir im Krieg erzählt hätten, dass du dich im Alter mal von einer vonne Pollacken versorgen lässt, das hätteste auch nicht geglaubt.“
Luise lachte herzlich und Erich zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
„Du kannst auch zu mir ziehen.“, schlug er vor. „Dann können wir uns die Polin teilen.“
„Ach, jetzt hör aber auf damit!“, wies Luise ihn brüsk zurück. „Ich bin in den letzten siebzig Jahren nicht zu dir gezogen, warum sollte ich jetzt damit anfangen?“
„Weil du hier nicht geachtet wirst.“
„Schluss jetzt!“, sagte Luise. „Kein Wort mehr darüber und wehe, du erzählst irgendwo was. Wenn Martina ab und zu mal schlechte Laune hat, geht das keinen was an. Schließlich hat sie ganz schlimm mit ihrem Rheuma zu tun, da kann man dann nicht immer freundlich sein.“
„Na, wenn du meinst. Ich finde nur, du hättest etwas Besseres verdient. Du müsstest nur dein Land verkaufen, dann...“
„Das mache ich ganz bestimmt nicht!“, unterbrach Luise ihn barsch. „Erstens will ich meinem Kind was vererben und zweitens haben meine Eltern sich nicht ihr Leben lang den Buckel krumm geschuftet, damit die Hallodris von sonst wo ihre heulenden, hässlichen Windräder auf unser Land pflanzen. Als kleinen Acker nebenbei kann ich das ja ganz gut verpachten, aber der einzige, der es kaufen würde, wäre Lohoffs Hans-Werner, und der hat schon so viel, dem gönne ich es nicht.“
„Nee, so'n alten Kreiselspargel können wir in Häger nun wirklich nicht gebrauchen. Guck dir den Apparat in Jöllenbeck doch mal an: Sieht man von überall, und wenn du durch die Kuhle am alten Waldbad durch bist, dann hörst du es schon: flapp-flapp-flapp. Und aussehen tut es, als wennse da 'ne Fabrik bauen. Sollense den Quatsch doch weiter inne Nordsee pflanzen, da is' wenigstens Wind und nich' wie bei uns in Häger inne Kuhle. Was die sich immer für'n Quatsch ausdenken. Oder steckt euer Manfred dahinter?“
„Was soll denn wohl unser Manfred damit zu tun haben? Der sitzt da im Rathaus, telefoniert und schreibt Rechnungen. Von Landwirtschaft hat der überhaupt keine Ahnung, und ich hab' auch noch nicht mitgekriegt, dass er sich mit Windrädern befasst hat.“
„Ich dachte ja nur, weil Krietemeiers Gerd neulich auch erzählte, der Uwe würde immer im Internet rumgucken, ob er nicht auch ein Stück Land an so'ne Windkraftfirma verkaufen könnte. Man müsste mit der Zeit gehen, sagt er.“
„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.
Christiane Kleinebekel stand seit einer Stunde hinter der Ladentheke. Sie tat das ehrenamtlich, damit das Dorf einen Ort bot, wo man sich mit dem Nötigsten versorgen konnte, ohne ins Auto zu steigen und wo man immer Leute traf, die man kannte, damit man morgens ein Schwätzchen halten konnte. Die Frühschicht, die im Übrigen dafür bezahlt wurde, hatte das kleine Geschäft bereits um fünf Uhr morgens geöffnet, denn zwischen fünf und neun Uhr gingen die meisten belegten Brötchen und Kaffees zum Mitnehmen über die Theke, an denen der Laden am meisten verdiente.
Christianes Freundin Sigrid Husemann-Rademacher, die im Gasthof schräg gegenüber lebte und arbeitete, war als Nächste an der Reihe, hinter ihr der Malermeister Volker Bracksiek und der Landwirt Hans-Werner Lohoff.
„Gibts du mir noch ein Dinkel-Chia-Brot?“, fragte Sigrid.
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück. Bleibt länger frisch.“
Martina Tappe betrat den Laden und stellte sich hinten an. Sigrid bezahlte und wandte sich an Martina, während Volker eine umfangreiche Bestellung für Samstag aufgab.
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Martina? Die hab' ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, die ist immer noch ganz schlecht zurecht.“, gab Martina Auskunft. „Seit sie die Grippe erwischt hat, ist sie ganz durcheinander.“
„Ja, das wirft so alte Menschen erst einmal gehörig aus den Puschen.“, meinte Sigrid mitfühlend.
„Ach, wenn sie nur erschöpft wäre“, beklagte Martina sich. „Aber sie wird ja nun allmählich immer dementer. Das ist schlimmer, als wenn man kleine Kinder hat, da kommt man gar nicht hinterher.“
„Na also dement ist Tante Luise ja nun wohl noch lange nicht.“, hielt Sigrid dagegen. „So was kommt ja nicht plötzlich innerhalb von ein paar Wochen über einen.“
„Nee, das geht schleichend, darum merkt man das auch nur, wenn man täglich mit den Leuten zu tun hat.“
„Also ich glaube, ich muss deine Mutter mal wieder besuchen.“, erklärte Sigrid. „Aber nicht jetzt. Wir haben gleich Gäste zum Essen. Mach's gut.“
Volker hatte sich mittlerweile einen Kaffee und eine Laugenecke bestellt und sich in das kleine Hinterzimmer gesetzt, das die Dorfladen-Initiative liebevoll als Café eingerichtet hatte.
Hans-Werner hatte einen Korb voller Lebensmittel und nachdem er bezahlt hatte, gesellte er sich auf ein Schwätzchen zu Volker. Nun war Martina an der Reihe. „Ich hätte gern ein Graubrot, geschnitten und eine Lage von dem Platenkuchen.“
„Ist ja wirklich schön, dass deine Mutter keine Diabetikerin ist wie die meisten in ihrem Alter.“, bemerkte Christiane.
„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
„Da würde ich nicht lange überlegen. Die sind aus Werther, und wie du weißt, keinen Cent teurer als im Supermarkt.“
„Ja, stimmt, man vergisst das immer, dass die Preise hier gar nicht höher sind, obwohl es doch so ein kleiner Dorfladen ist. Ach ja, dann nehme ich mal drei Äpfel mit. - Aber der Umzug gestern war doch wirklich ganz toll. Ich glaube so viele Wagen hat es noch nie gegeben.“
„Doch, hat es, aber das war vor deiner Zeit.“
„Ja, aber es ist doch toll, dass da nicht nur solche Gruppen mitwirken, die es in jedem Dorf gibt, sondern auch unsere Dorf-Ini und die Flüchtlingsinitiative und eben nicht nur Feuerwehr, Sportverein und Schützen.“
„Schützenverein haben wir in Häger gar nicht.“
„Ja, stimmt, das war auch einer der Gründe, warum Martin und ich uns für Häger entschieden haben. Was bin ich dir schuldig?“
„Fünf Euro vierzig.“
„Ja, das sind hier wirklich faire Preise.“, erklärte Irmtraut und setzte wieder ihr angestrengt strahlendes Lächeln auf. Als sie die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, riefen die Männer im Hinterzimmer: „Ist sie endlich weg?“
Christiane stellte sich wieder grinsend in den Türrahmen: „Das hätten wir für heute überstanden.“, stöhnte sie.
„Die hat dir ja wieder die ganze Tasche vollgelabert.“, stellte Volker fest. „Bis obenhin.“
„Ja, und ich will jetzt endlich los und den Schweinestall ausmisten.“, sagte Hans-Werner, „bevor das nächste Ungeheuer auftaucht, um 'ne halbe Stunde lang für zwei fuffzich einzukaufen. Macht's gut.“
„Ich muss auch wieder an die Farbeimer.“, erklärte Volker und legte einen Zehner auf den Tisch. „Stimmt so.“
Schröttinghausener Straße, Dienstag, 13. September 2016
Luise Sickendiek saß auf der Couch und fieberte mit dem grundanständigen Mädchen, dem das intrigante Flittchen aus der vermeintlich besseren Gesellschaft gerade den Verlobten abspenstig machte. Sie liebte ihre tägliche Seifenoper und wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Die Geschichten waren so einfach gestrickt, dass sie auch dann nachvollziehbar blieben, wenn man nicht jedes Wort mitbekam und die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr klar erkennbar waren. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Martina stürmte herein, die mit ihren schweren Schritten trotz der weinroten Velours-Puschen an ihren geschwollenen Füßen einen so mächtigen Lärm verursachte, dass Luise gar nicht mehr verstand, was am Fürstenhof gesprochen wurde.
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, keifte Martina. „Mit dem Krach kannst du ja schon ganz Häger beschallen.“, rief sie und schaltete den Fernseher aus.
„Aber ich wollte das gucken.“, protestierte Luise.
„Du hast Besuch. Da lässt man den Fernseher nicht laufen.“, wies Martina sie zurecht.
„Wer ist denn da?“
„Onkel Erich. Komm rein. Ist ja jetzt Kaffeezeit. Soll ich dir einen Koffeinfreien machen?“
„Och, das ist nicht nötig.“, antwortete Erich Mensendiek, der der Eigentümer der nächsten Hofstelle war, die er auch bewohnte. Das Grundstück, auf dem Luise und ihr Mann das Haus gebaut hatten, hatte auch einmal dazu gehört.
„Jetzt sag schon, was du trinken willst.“, forderte Martina barsch. „Es ist schließlich Kaffeezeit.“
„Dann lieber einen Kaffee ohne Koffein.“
„Für mich aber mit.“, rief Luise.
„Ach Mama, du wirst schon nicht vom Stängel fallen, wenn du einmal koffeinfrei mit trinkst. Zwei Sorten Kaffee kochen für zwei Leute. Wo gibt’s denn so was?“
„Trinkst du denn keinen Kaffee, Martina?“, fragte Erich.
„Nein, nachmittags trinke ich immer Sauerkrautsaft. Das entschlackt.“
Als Martina zum Kaffee Kochen verschwunden war, sagte Erich: „Mensch, Luise, was lässt du dir das von Martina gefallen? Die behandelt dich ja wie 'ne Gefangene.“
„Ach, die hat nur einen rauen Ton.“
„Rauer Ton? Die benimmt sich wie 'ne durchgedrehte Gutsherrin. Dabei sollte sie froh sein, dass du sie hier wohnen lässt.“
„Ach Erich. Die Kinder sind eben die Kinder und das bleiben sie auch. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht vor die Tür setzen.“
„Meinetwegen behalt' sie da. Aber ihr sollte mal jemand den Kopf zurechtrücken. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie dich so behandelt. Regelrecht unverschämt ist die und überhaupt kein Respekt vor dem Alter. Vorm Krieg hätte es so was nicht gegeben. Da hätte sie sich entweder zusammenreißen müssen oder sie wäre in'ne Anstalt gekommen.“
„Ach, Erich, das ist doch Quatsch. Weißt du noch, Baxmanns Mutter? Die habense auch nicht abgeholt.“
Aber nur weil Otto inner SS war, das sag ich dir. Der konnte da schützend seine Hand drüber halten. Ich denke, ich knöpfe mir eure Martina gleich mal vor.“
„Du, lass das bloß sein. Dann wird sie nur ärgerlich, und wenn die richtig ärgerlich ist, das ist so schlimm, das hast du noch nicht erlebt.“
„Ach, Luise, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schmeiß die undankbare Brut raus. Die werden schon nicht verhungern. So schlecht verdient Manfred nicht. Und du hast doch genug Geld auf der Kante, um dir die letzten Jahre 'ne eigene Pflegerin zu leisten. Die macht es dir dann richtig schön.“
„Da wäre ja ruck zuck alles verjubelt.“
„Ach was. Da nimmste einfach 'ne Polin, so wie ich. So teuer sind die nicht und viel netter als die jungen Leute hierzulande.“
„Ach Erich, wenn sie dir im Krieg erzählt hätten, dass du dich im Alter mal von einer vonne Pollacken versorgen lässt, das hätteste auch nicht geglaubt.“
Luise lachte herzlich und Erich zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
„Du kannst auch zu mir ziehen.“, schlug er vor. „Dann können wir uns die Polin teilen.“
„Ach, jetzt hör aber auf damit!“, wies Luise ihn brüsk zurück. „Ich bin in den letzten siebzig Jahren nicht zu dir gezogen, warum sollte ich jetzt damit anfangen?“
„Weil du hier nicht geachtet wirst.“
„Schluss jetzt!“, sagte Luise. „Kein Wort mehr darüber und wehe, du erzählst irgendwo was. Wenn Martina ab und zu mal schlechte Laune hat, geht das keinen was an. Schließlich hat sie ganz schlimm mit ihrem Rheuma zu tun, da kann man dann nicht immer freundlich sein.“
„Na, wenn du meinst. Ich finde nur, du hättest etwas Besseres verdient. Du müsstest nur dein Land verkaufen, dann...“
„Das mache ich ganz bestimmt nicht!“, unterbrach Luise ihn barsch. „Erstens will ich meinem Kind was vererben und zweitens haben meine Eltern sich nicht ihr Leben lang den Buckel krumm geschuftet, damit die Hallodris von sonst wo ihre heulenden, hässlichen Windräder auf unser Land pflanzen. Als kleinen Acker nebenbei kann ich das ja ganz gut verpachten, aber der einzige, der es kaufen würde, wäre Lohoffs Hans-Werner, und der hat schon so viel, dem gönne ich es nicht.“
„Nee, so'n alten Kreiselspargel können wir in Häger nun wirklich nicht gebrauchen. Guck dir den Apparat in Jöllenbeck doch mal an: Sieht man von überall, und wenn du durch die Kuhle am alten Waldbad durch bist, dann hörst du es schon: flapp-flapp-flapp. Und aussehen tut es, als wennse da 'ne Fabrik bauen. Sollense den Quatsch doch weiter inne Nordsee pflanzen, da is' wenigstens Wind und nich' wie bei uns in Häger inne Kuhle. Was die sich immer für'n Quatsch ausdenken. Oder steckt euer Manfred dahinter?“
„Was soll denn wohl unser Manfred damit zu tun haben? Der sitzt da im Rathaus, telefoniert und schreibt Rechnungen. Von Landwirtschaft hat der überhaupt keine Ahnung, und ich hab' auch noch nicht mitgekriegt, dass er sich mit Windrädern befasst hat.“
„Ich dachte ja nur, weil Krietemeiers Gerd neulich auch erzählte, der Uwe würde immer im Internet rumgucken, ob er nicht auch ein Stück Land an so'ne Windkraftfirma verkaufen könnte. Man müsste mit der Zeit gehen, sagt er.“
„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.
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birgitdiestarke,
Dienstag, 29. August 2017, 02:58
Wenn es hier ein Mordopfer geben sollte ...
... dann wäre Martina ja sehr geeignet ... ;o)
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c. fabry,
Dienstag, 29. August 2017, 23:12
Aber die Zeit,
in der das Wünschen wieder hilft, ist noch nicht angebrochen.
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