Sonntag, 27. August 2017
Kapitel 3 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
c. fabry, 22:12h
Schröttinghausener Straße – Sonntag, 11. September 2016
Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.
Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.
Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
Luise musste sauer aufstoßen. Das vermaledeite Sodbrennen quälte sie schon seit vierzig Jahren, dabei hatte sie so gern Kuchen gegessen, vertrug aber höchstens ein Stück, sonst rächte sich ihr Magen mit einer Überproduktion an Säure. Ihre Mutter war viel zu früh an einem chronischen Magenleiden langsam und qualvoll zugrunde gegangen und sie hatte sich geschworen, gut auf sich aufzupassen, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilte.
Was für Torten es wohl heute beim Dorffest gab? Sie hätte so gern mal wieder ein Stück echte Schwarzwälder-Kirsch oder Mokkatorte gegessen und nicht diesen neumodischen Quatsch, den Martina immer buk: Fantaschnitten oder wie heute, Maulwurftorte.
Als heute Morgen die Glocken läuteten, war ihr noch ganz schwummrig gewesen, dabei wäre sie gern einmal wieder zur Kirche gegangen. Früher hatte sie keinen Sonntag ausgelassen, an dem in Häger ein Gottesdienst stattfand, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, außer zu der Zeit, als Martina noch klein war. Schon in ihrer Jugend, also seit der Konfirmandenzeit war sie mit der Landwirtstochter Marianne Temming zur Kirche nach Werther geradelt, denn in Häger, das damals noch „Auf der Bleeke“ hieß, gab es zu der Zeit noch keine Predigtstätte. Manchmal waren sie zu dritt gewesen, wenn die Pfarrerstochter Elisabeth Schuchart bei ihr hatte übernachten dürfen. Was war das für eine Freude gewesen, als Häger, das endlich in den Fünfzigerjahren ein richtiges Dorf geworden war, eine eigene Kirche mit Gemeindehaus bekam – und eine eigene Frauenhilfe, deren Vorsitz Luise Anfang der Sechzigerjahre übernahm. Was hatten sie sich an den Mittwoch Nachmittagen während der geschäftigen Vor- und Nachbereitungen in der Kirche alles zu erzählen gehabt und Luise, die aus ihrem gerade neu gebauten Haus immer den perfekten Blick auf die Schröttinghausener Straße gehabt hatte, konnte nahezu lückenlos verfolgen, wer bei Brüning einkaufte, ob die Taschen hinterher prall gefüllt waren oder nur bescheiden das Nötigste enthielten, und wer sich wie lange in der Gaststube aufhielt und wie betrunken wieder heraus wankte.
Heutzutage sah man ja kaum noch jemanden die Straße entlang flanieren, abgesehen von den Flüchtlingen, die man in Brünings ehemaligen Gastwirtschafts- , Hotel- und Lebensmittelbetrieb einquartiert hatte. Ein Jammer, dass das einst so stolze Gebäude so weit herunter gekommen war, dass es eigentlich schon abgerissen werden sollte. In einem Winter waren etliche Leitungen kaputt gefroren, doch dann hatte die Stadt Werther alles aufwändig restauriert, so dass die Räume wieder halbwegs bewohnbar waren. Gut, dass Brünings Edeltraut das nicht mehr erleben musste, dass jetzt Fremde aus Persien oder dem alten Babel in ihren Zimmern hausten. Sicher, nach dem Krieg hatte es auch Flüchtlinge gegeben, aber das war doch etwas Anderes gewesen, das waren schließlich Deutsche und mit den Flüchtlingsströmen war immerhin auch Pastor Hahnemann nach Häger gekommen. Und was für einen Spaß sie mit Ulla gehabt hatte, die gegen Ende des Krieges aus dem Rheinland evakuiert worden war. Sie war auf Niewöhners Hof, also in Luises Elternhaus, untergebracht worden, und obwohl sie vier Jahre jünger war als Luise, hatten die beiden sich umgehend angefreundet. Die tägliche Arbeit auf dem Hof war viel leichter von der Hand gegangen, sie hatten immer etwas zu Lachen gehabt und nach getaner Arbeit hatten sie sich gelegentliche Ausflüge in die Umgebung gegönnt. Mit Ulla wagte sie es auch, an heißen Sommertagen in das nahe gelegene Freibad zu radeln, wenn sie nicht gerade bis zur Dunkelheit mit der Heuernte beschäftigt gewesen waren. Das Freibad war schon seit Jahrzehnten nur noch eine Ruine, vielleicht war es sein Fluch, dass es in dem Jahr eröffnet worden war, in dem die NSDAP die Macht ergriffen hatte. Kaum noch vorstellbar, wie sie als junge Frau, die in ihren stillen Momenten um ihren Verlobten bangte, mit dem rheinischen Backfisch im kühlen Nass geplanscht hatte, wo jetzt die Erlen und Ulmen mit ihrem Wurzelwerk den Boden aufbrachen. Auch Ulla und Jochen – obwohl sie doch jünger gewesen waren – waren nun schon seit zwei Jahren tot. Zu ihrem Neunzigsten waren sie noch da gewesen. Ulla hatte gerade wegen einer Darmkrebserkrankung einen Anus Praeter gelegt bekommen und fürchterlich an Gewicht verloren. Jochen hatte ein Jahr zuvor einen Bypass erhalten und war nach wie vor schrecklich kurzatmig. Ein paar Wochen später war Ulla im Alter von sechsundachtzig Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung erlegen und Jochen hatte diese schwere Zeit so sehr mitgenommen, dass er wenige Tage später einen schweren Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Er hatte es immerhin auf achtundachtzig Jahre gebracht. So war nun einer nach dem anderen von ihren alten Weggefährten gegangen, nur Mariannes kleine Schwester Hildegard war noch übrig und eigentlich auch Elisabeth, aber die konnte man kaum dazu zählen, war sie doch längst beim Übergang in die andere Welt. Es war nicht schön, am Ende übrig zu bleiben, nur noch umgeben von Jüngeren, die sich gestört fühlten und ungeduldig darauf warteten, dass man endlich ging.
Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.
Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.
Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
Luise musste sauer aufstoßen. Das vermaledeite Sodbrennen quälte sie schon seit vierzig Jahren, dabei hatte sie so gern Kuchen gegessen, vertrug aber höchstens ein Stück, sonst rächte sich ihr Magen mit einer Überproduktion an Säure. Ihre Mutter war viel zu früh an einem chronischen Magenleiden langsam und qualvoll zugrunde gegangen und sie hatte sich geschworen, gut auf sich aufzupassen, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilte.
Was für Torten es wohl heute beim Dorffest gab? Sie hätte so gern mal wieder ein Stück echte Schwarzwälder-Kirsch oder Mokkatorte gegessen und nicht diesen neumodischen Quatsch, den Martina immer buk: Fantaschnitten oder wie heute, Maulwurftorte.
Als heute Morgen die Glocken läuteten, war ihr noch ganz schwummrig gewesen, dabei wäre sie gern einmal wieder zur Kirche gegangen. Früher hatte sie keinen Sonntag ausgelassen, an dem in Häger ein Gottesdienst stattfand, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, außer zu der Zeit, als Martina noch klein war. Schon in ihrer Jugend, also seit der Konfirmandenzeit war sie mit der Landwirtstochter Marianne Temming zur Kirche nach Werther geradelt, denn in Häger, das damals noch „Auf der Bleeke“ hieß, gab es zu der Zeit noch keine Predigtstätte. Manchmal waren sie zu dritt gewesen, wenn die Pfarrerstochter Elisabeth Schuchart bei ihr hatte übernachten dürfen. Was war das für eine Freude gewesen, als Häger, das endlich in den Fünfzigerjahren ein richtiges Dorf geworden war, eine eigene Kirche mit Gemeindehaus bekam – und eine eigene Frauenhilfe, deren Vorsitz Luise Anfang der Sechzigerjahre übernahm. Was hatten sie sich an den Mittwoch Nachmittagen während der geschäftigen Vor- und Nachbereitungen in der Kirche alles zu erzählen gehabt und Luise, die aus ihrem gerade neu gebauten Haus immer den perfekten Blick auf die Schröttinghausener Straße gehabt hatte, konnte nahezu lückenlos verfolgen, wer bei Brüning einkaufte, ob die Taschen hinterher prall gefüllt waren oder nur bescheiden das Nötigste enthielten, und wer sich wie lange in der Gaststube aufhielt und wie betrunken wieder heraus wankte.
Heutzutage sah man ja kaum noch jemanden die Straße entlang flanieren, abgesehen von den Flüchtlingen, die man in Brünings ehemaligen Gastwirtschafts- , Hotel- und Lebensmittelbetrieb einquartiert hatte. Ein Jammer, dass das einst so stolze Gebäude so weit herunter gekommen war, dass es eigentlich schon abgerissen werden sollte. In einem Winter waren etliche Leitungen kaputt gefroren, doch dann hatte die Stadt Werther alles aufwändig restauriert, so dass die Räume wieder halbwegs bewohnbar waren. Gut, dass Brünings Edeltraut das nicht mehr erleben musste, dass jetzt Fremde aus Persien oder dem alten Babel in ihren Zimmern hausten. Sicher, nach dem Krieg hatte es auch Flüchtlinge gegeben, aber das war doch etwas Anderes gewesen, das waren schließlich Deutsche und mit den Flüchtlingsströmen war immerhin auch Pastor Hahnemann nach Häger gekommen. Und was für einen Spaß sie mit Ulla gehabt hatte, die gegen Ende des Krieges aus dem Rheinland evakuiert worden war. Sie war auf Niewöhners Hof, also in Luises Elternhaus, untergebracht worden, und obwohl sie vier Jahre jünger war als Luise, hatten die beiden sich umgehend angefreundet. Die tägliche Arbeit auf dem Hof war viel leichter von der Hand gegangen, sie hatten immer etwas zu Lachen gehabt und nach getaner Arbeit hatten sie sich gelegentliche Ausflüge in die Umgebung gegönnt. Mit Ulla wagte sie es auch, an heißen Sommertagen in das nahe gelegene Freibad zu radeln, wenn sie nicht gerade bis zur Dunkelheit mit der Heuernte beschäftigt gewesen waren. Das Freibad war schon seit Jahrzehnten nur noch eine Ruine, vielleicht war es sein Fluch, dass es in dem Jahr eröffnet worden war, in dem die NSDAP die Macht ergriffen hatte. Kaum noch vorstellbar, wie sie als junge Frau, die in ihren stillen Momenten um ihren Verlobten bangte, mit dem rheinischen Backfisch im kühlen Nass geplanscht hatte, wo jetzt die Erlen und Ulmen mit ihrem Wurzelwerk den Boden aufbrachen. Auch Ulla und Jochen – obwohl sie doch jünger gewesen waren – waren nun schon seit zwei Jahren tot. Zu ihrem Neunzigsten waren sie noch da gewesen. Ulla hatte gerade wegen einer Darmkrebserkrankung einen Anus Praeter gelegt bekommen und fürchterlich an Gewicht verloren. Jochen hatte ein Jahr zuvor einen Bypass erhalten und war nach wie vor schrecklich kurzatmig. Ein paar Wochen später war Ulla im Alter von sechsundachtzig Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung erlegen und Jochen hatte diese schwere Zeit so sehr mitgenommen, dass er wenige Tage später einen schweren Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Er hatte es immerhin auf achtundachtzig Jahre gebracht. So war nun einer nach dem anderen von ihren alten Weggefährten gegangen, nur Mariannes kleine Schwester Hildegard war noch übrig und eigentlich auch Elisabeth, aber die konnte man kaum dazu zählen, war sie doch längst beim Übergang in die andere Welt. Es war nicht schön, am Ende übrig zu bleiben, nur noch umgeben von Jüngeren, die sich gestört fühlten und ungeduldig darauf warteten, dass man endlich ging.
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birgitdiestarke,
Montag, 28. August 2017, 03:49
Ein neues Buch, wie spannend!
Aber Kapitel 3 muss ich morgen lesen, ich bin zu müde, dann habe ich nichts davon. Ich freue mich schon drauf. Gibt es das auch als E-Buch?
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