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Freitag, 12. Januar 2018
Siemkes Story
c. fabry, 12:35h
Sie war in der Nähe von Hannover aufgewachsen, Einzelkind in einem kleinstädtischen Vorort, die Eltern beide berufstätig, immer da für ihr Kind, aber leider mit einem schrecklichen Hang zum Kontrollzwang. Nach dem Abitur war sie endlich ausgebrochen. Zu ihrem großen Glück hatte sie einen Studienplatz im Ruhrgebiet erhalten und auch wenn sie nach wie vor von den Unterhaltszahlungen ihrer Eltern abhängig gewesen war und sie mit monatlichen Wochenendbesuchen hatte bei Laune halten müssen, hatte sie doch endlich ihr eigenes Leben leben können.
Sie machte ihren Abschluss in Germanistik und Theaterwissenschaften, aber niemand hatte Verwendung für die hochqualifizierte, junge Frau. Um einer weiteren Abhängigkeit von ihren Eltern zu entfliehen, stürzte sie sich ins lukrative Liebesleben. Nein, nicht was Sie jetzt denken, selbstverständlich ging sie nicht anschaffen, aber so signifikant war der Unterschied nun auch wieder nicht, wenn auch gesellschaftlich weniger geächtet. Sie suchte sich einen Partner, der sie versorgte. Aber moderne Männer waren auf Dauer zu solchen Versorgungsleistungen nicht mehr bereit und so flatterte sie wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte und wurde ganz nebenbei ausgerechnet von einem wenig leistungsfähigen Ausrutscher bestäubt. Das Ergebnis war Daria und noch lange, bevor ihr Bauch sich rundete, hielt sie Ausschau nach einem geeigneteren Kindsvater. Das Vorhaben gelang: ein zuverlässiger, sanfter Theaterpädagoge mit geregeltem Einkommen und naiv genug, die Geschichte einer kürzeren Schwangerschaft ungeprüft zu akzeptieren.
Damals wähnte Siemke sich in Sicherheit, doch schon während ihrer Trächtigkeit verlor der Auserwählte wie aus heiterem Himmel seinen Arbeitsplatz und bei seiner speziellen Qualifikation war auch nichts Neues in Sicht. Zu all dem Elend gesellte sich außerdem ein Bandscheibenvorfall, der es ihm für unbestimmte Zeit unmöglich machte, mehr als zwei Kilogramm auf einmal zu heben. Siemke musste also sämtliche Einkäufe erledigen und das Kind ganz allein versorgen, während der Lebenspartner nutzlos und klagend ganztägig das gemeinsame Wohnzimmer belagerte. Diesen Zustand ertrug sie exakt, bis Daria acht Wochen alt war, dann teilte sie ihrem Partner die Trennung mit und suchte sich innerhalb von zwei Wochen eine Sozialwohnung. Es waren die Lebensgefährten ihrer Freundinnen, die die Möbel schleppten und die Freundinnen, die die Wände strichen. Vom vermeintlichen Kindsvater klagte sie außerdem Unterhaltszahlungen ein, er bekam ja genug Arbeitslosengeld.
Als Daria drei Monate alt war, nutzte Siemke das Angebot der örtlichen Kirchengemeinde. Sie hatte zwar mit den Christen nichts im Sinn, aber auch keine übermäßigen Vorbehalte und außerdem gab es keine andere Krabbelgruppe vor Ort.
Die Gruppe war klein und übersichtlich. Da war die elegante Annette mit ihrer Tochter Edda-Elisabeth, die sie aber immer nur Lizzi nannte, die raubeinige Gabi mit ihrer Tochter Luna, die unkonventionelle Isen mit ihrem Sohn Finn, die freundliche Nadine, mit ihrer Tochter Lorraine, und die fröhliche Tanja mit ihrem Sohn Jan-Ole. Sie fühlte sich wohl in der Gruppe und freute sich, dass es auch zu nachmittäglichen Treffen bei der einen oder anderen zu Hause kam. Hier fand sie die Solidarität, die sie als alleinerziehende Mutter brauchte, Lösungsvorschläge für ihre Probleme, aber auch Unterstützung im Alltag. Das hätte gut noch bis zur Kindergartenzeit so weitergehen können, aber dann hatte die elegante Annette immer so ganz nebenbei im lustig-leichten Tonfall Siemke korrigiert, gehänselt, zurechtgewiesen und beleidigt. Sie thronte auf einem hohen Sockel, sie selbst gelernte Industriekauffrau und bis zur Schwangerschaft in Vollzeit beschäftigt im gut laufenden Unternehmen ihres Ehemannes, zeigte immer und überall mit überlegenem Lächeln und dem Gebaren einer Tochter aus gutem Hause, wie man sein Kind zu einem perfekten Menschen erzieht: An die Haut ihrer Tochter ließ sie nur Naturtextilien in Bioqualität, wenn sie den Gemüsebrei nicht selbst kochte, kaufte sie auch nur garantiert Zuckerfreie Babynahrung aus dem Bioladen und da sie schon jetzt eine Waldorf-Karriere für ihr Kind plante, wurde das Mädchen auch konsequent von den schädlichen Einflüssen eines einlullenden Bildschirms ferngehalten und – wie Siemke ihr unterstellte – nicht um das Kind zu schützen, sondern um bei der Bewerbung um den Waldorf-Kindergartenplatz bestehen zu können und so die eitlen und ehrgeizigen Bestrebungen der geltungssüchtigen Mutter zu befriedigen.
Aber Annette reichte es nicht, allen zu zeigen, dass sie die Supermutter einer perfekten Tochter war. Um sich noch mehr Glanz zu verleihen, musste sie zusätzlich andere abwerten. Nicht alle natürlich, sie brauchte ja jene, die sie weiterhin uneingeschränkt bewunderten, also musste sie ein Opfer auswählen für ihre Demütigungen, bei dem sie ein leichtes Spiel hatte, dass alle Anderen mit ihr in ein Horn stießen. Siemke war die einzige Alleinstehende in der Gruppe, bei allen anderen Kindern lebte auch der Vater in der gleichen Wohnung oder war zumindest präsent und übernahm Verantwortung. Und weil sie häufig um Rücksicht oder Unterstützung bitten musste, wurde sie den anderen, privilegierten Müttern bald lästig und niemand nahm sie vor Annettes Angriffen in Schutz, außer vielleicht Nadine, die zeigte sich anfangs noch solidarisch, zog sich aber irgendwann auch in ihr privilegiertes Kleinfamilienleben zurück und erfüllte außerdem nicht Siemkes intellektuellen Ansprüche. Sie suchte sich eine neue Krabbelgruppe, da musste sie zwar mit der Straßenbahn fahren, aber hier fanden sich wenigstens eine Menge Frauen in einer ähnlichen Lebenslage wie sie selbst.
Daria hatte mit drei Jahren einen KiTa-Platz bekommen und Siemke hatte endlich einen Job gefunden, mit dem sie sich und ihre Tochter über Wasser halten konnte, der Plan, einen Mann als Versorger aufzutun, schlug weiterhin fehl. Daria kam problemlos durch die Grundschule, erhielt eine Gymnasialempfehlung und wechselte auf die nahegelegene Gesamtschule, wo sie ebenfalls sehr gut zurechtkam. Eigentlich war sie ziemlich zufrieden, aber dann bekam ihr zerbrechliches Glück einen kleinen Riss, als sie an einem schönen Aprilvormittag einen cremefarbenen Büttenumschlag aus dem Briefkasten zog. Nadine lud zur Nachfeier der Konfirmationen ein. Genaugenommen zu Lorraines Nachfeier. Daria war nicht zum kirchlichen Unterricht gegangen und Isens Sohn sicher auch nicht. Jetzt sollten also mal wieder die Ergebnisse verglichen werden – welcher Sprössling hat sich am besten entwickelt? Sie war so stolz auf Daria, aber sie ahnte schon, wie die elegante Annette ganz nebenbei fallen ließ, dass ihre Lizzi, sich nach zwei übersprungenen Klassen auf ein Auslandsjahr in den USA freute und nebenbei im Schulorchester ganz außerordentlich schön Klarinette spielte, oder Violine, auf jeden Fall die erste Geige. Sie würde wieder alles kaputt machen und hinterher würde Siemke sich ein halbes Jahr lang schlecht fühlen. Sie machte ja schon jetzt alles kaputt, weil Siemke sich präventiv das Ausschlagen der Einladung verordnete. Und dann kam alles ganz anders.
Sie hatte Daria zum Reiten gebracht und unternahm in der Zwischenzeit einen Spaziergang um den Obersee. Als sie so in der Sonne umher spazierte und sich vergegenwärtigte, wie gut sie es doch geschafft hatte, ihre Tochter ganz allein zu einem prachtvollen Teenager zu erziehen, war sie mächtig stolz auf sich und fragte sich, ob es nicht doch gut sei, alle wieder zu treffen. Wer wusste schon, ob sie noch alle in den gleichen heilen Familien steckten wie vor zwölf Jahren? Sie malte sich aus, wie ein Haufen malträtierter, unvorteilhaft gealterter, alleinerziehender Mütter sich über die Fehlentwicklungen ihrer einst so vielversprechenden Sprösslinge beklagten und sie selbst mittendrin, blütenfrisch, hochzufrieden und voller Stolz auf ihr wohlgeratenes Töchterchen. Sie würde da hingehen und es ihnen allen zeigen. Auf einmal kam ihr ein bekanntes Gesicht entgegen. Die Frau trug Sportkleidung und Walking-Stöcke. Sie erkannte sie sofort, sie hatte sich kaum verändert, nur ein paar Falten um Augen und Mund, der Gang begann ein klein wenig wacklig zu werden, denn Annette war eine Spätgebärende gewesen und sie trug die Haare jetzt durchgestuft und offenkundig blondiert, um das sich ausbreitende Grau zu kaschieren und mehr Volumen in die schon immer nicht so beeindruckende Haarpracht zu bringen – da waren Siemke und Daria gegenüber Annette und Lizzi schon immer die Gesegneteren gewesen. Natürlich gab Annette vor, Siemke nicht zu erkennen. Vielleicht hatte sie keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten, aber vermutlich war das wieder nur eine ihrer zahlreichen Demütigungsversuche, doch Siemke ging in die Offensive, fest entschlossen, den Spieß umzudrehen.
„Ach, Hallo Annette, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen.“
„Entschuldigung, du musst mir auf die Sprünge helfen. Woher kennen wir uns?“
„Ich bin's, Siemke, die Mutter von Daria, aus der Krabbelgruppe. Ich hoffe, bei Dir geht’s noch nicht im Kopf los.“
„Wohl kaum.“, antwortete Annette kühl. „Weißt Du, in meinem Job begegne ich täglich so vielen neuen Gesichtern, da geht einem die eine oder andere flüchtige Bekanntschaft aus der Vergangenheit schon mal durch die Lappen. Und wie geht es euch?“
Siemke hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen. Annette hatte es schon wieder geschafft, ihr den härteren Schlag zu versetzen. So schnell konnte sie nicht wechseln. Darum antwortete sie nur: „Ganz gut soweit. Hast Du auch die Einladung zur Konfirmationsfeier von Lorraine bekommen?“
„Oh ja. Ich werde da aber kaum erscheinen. Ich habe keine Ahnung, was Nadine sich dabei gedacht hat, unsere Kinder sind doch jetzt alle in dem Alter, warum sollen wir uns ausgerechnet zu Lorraines Konfirmation versammeln?“
„Na ja, es ist doch eine nette Idee, dass sich alle mal wieder treffen. Und wenn man eingeladen ist, hat man ja schließlich keine Arbeit mit der Bewirtung. Außerdem sind ja nicht alle konfirmiert worden. Daria jedenfalls nicht und Finn doch bestimmt auch nicht.“
„Nein, natürlich nicht.“, erwiderte Annette. „Isen hält ja nichts von der Kirche.“
„Ich auch nicht:“
„Ach ja?“
„Ich gehe jedenfalls hin.“, sagte Siemke. „Du kannst Dich ja hinterher mit Isen treffen und Dir berichten lassen.“
„Ich glaube kaum, dass Isen einer Einladung von Nadine nachkommt.“
„Dann eben nicht.“
„Ich kann es mir ja noch mal überlegen.“, räumte Annette ein. „Wahrscheinlich hast du Recht und es ist einfach eine nette Idee. Also dann vielleicht bis morgen.“
Als Annette weiterging, spürte Siemke plötzlich einen schweren Kloß im Hals. Sie hatte sich so auf das Treffen gefreut und jetzt würde die versnobte Edelmami wieder alles in Grund und Boden rammen mit ihren mageren, manikürten Klavierspielerinnen-Fingern, die immer wie Spinnenbeine den Kaffeebecher umschlossen hatten, als handele es sich um den Hals einer Rivalin. Diesmal nicht, dachte Siemke. Annette bog gerade um die Kurve ins unüberschaubare Dickicht der Uferbepflanzung. Vom letzten Winter lag noch ein Paar verlorener, vergessener oder entsorgter, rostiger Schlittschuhe unter einem Busch. Sie griff sich einen davon und hastete auf leisen Sohlen hinter Annette her. Mit einer Präzision, als wenn sie es ihr Leben lang trainiert hätte, traf sie Annette mit der Kufe am Schädel, so dass diese sofort zu Boden ging. Sie hätte es dabei belassen können, aber es gab keine Zeugen und sie war so voller uraltem Zorn. Immer und immer wieder drosch sie mit dem rostigen Schlittschuh auf die am Boden Liegende ein, bis sie sich nicht mehr rührte. Erst danach blickte sie sich geistesgegenwärtig um. Niemand war in der Nähe. Sie rubbelte die Fingerabdrücke mit einem Papiertaschentuch ab und schleuderte den Schlittschuh in den See. Dann atmete sie tief durch. Gleich würde sie Daria vom Reiten abholen und morgen hatte sie eine Einladung zum Kaffeetrinken, auf die sie sich jetzt ohne Abstriche freute.
Sie machte ihren Abschluss in Germanistik und Theaterwissenschaften, aber niemand hatte Verwendung für die hochqualifizierte, junge Frau. Um einer weiteren Abhängigkeit von ihren Eltern zu entfliehen, stürzte sie sich ins lukrative Liebesleben. Nein, nicht was Sie jetzt denken, selbstverständlich ging sie nicht anschaffen, aber so signifikant war der Unterschied nun auch wieder nicht, wenn auch gesellschaftlich weniger geächtet. Sie suchte sich einen Partner, der sie versorgte. Aber moderne Männer waren auf Dauer zu solchen Versorgungsleistungen nicht mehr bereit und so flatterte sie wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte und wurde ganz nebenbei ausgerechnet von einem wenig leistungsfähigen Ausrutscher bestäubt. Das Ergebnis war Daria und noch lange, bevor ihr Bauch sich rundete, hielt sie Ausschau nach einem geeigneteren Kindsvater. Das Vorhaben gelang: ein zuverlässiger, sanfter Theaterpädagoge mit geregeltem Einkommen und naiv genug, die Geschichte einer kürzeren Schwangerschaft ungeprüft zu akzeptieren.
Damals wähnte Siemke sich in Sicherheit, doch schon während ihrer Trächtigkeit verlor der Auserwählte wie aus heiterem Himmel seinen Arbeitsplatz und bei seiner speziellen Qualifikation war auch nichts Neues in Sicht. Zu all dem Elend gesellte sich außerdem ein Bandscheibenvorfall, der es ihm für unbestimmte Zeit unmöglich machte, mehr als zwei Kilogramm auf einmal zu heben. Siemke musste also sämtliche Einkäufe erledigen und das Kind ganz allein versorgen, während der Lebenspartner nutzlos und klagend ganztägig das gemeinsame Wohnzimmer belagerte. Diesen Zustand ertrug sie exakt, bis Daria acht Wochen alt war, dann teilte sie ihrem Partner die Trennung mit und suchte sich innerhalb von zwei Wochen eine Sozialwohnung. Es waren die Lebensgefährten ihrer Freundinnen, die die Möbel schleppten und die Freundinnen, die die Wände strichen. Vom vermeintlichen Kindsvater klagte sie außerdem Unterhaltszahlungen ein, er bekam ja genug Arbeitslosengeld.
Als Daria drei Monate alt war, nutzte Siemke das Angebot der örtlichen Kirchengemeinde. Sie hatte zwar mit den Christen nichts im Sinn, aber auch keine übermäßigen Vorbehalte und außerdem gab es keine andere Krabbelgruppe vor Ort.
Die Gruppe war klein und übersichtlich. Da war die elegante Annette mit ihrer Tochter Edda-Elisabeth, die sie aber immer nur Lizzi nannte, die raubeinige Gabi mit ihrer Tochter Luna, die unkonventionelle Isen mit ihrem Sohn Finn, die freundliche Nadine, mit ihrer Tochter Lorraine, und die fröhliche Tanja mit ihrem Sohn Jan-Ole. Sie fühlte sich wohl in der Gruppe und freute sich, dass es auch zu nachmittäglichen Treffen bei der einen oder anderen zu Hause kam. Hier fand sie die Solidarität, die sie als alleinerziehende Mutter brauchte, Lösungsvorschläge für ihre Probleme, aber auch Unterstützung im Alltag. Das hätte gut noch bis zur Kindergartenzeit so weitergehen können, aber dann hatte die elegante Annette immer so ganz nebenbei im lustig-leichten Tonfall Siemke korrigiert, gehänselt, zurechtgewiesen und beleidigt. Sie thronte auf einem hohen Sockel, sie selbst gelernte Industriekauffrau und bis zur Schwangerschaft in Vollzeit beschäftigt im gut laufenden Unternehmen ihres Ehemannes, zeigte immer und überall mit überlegenem Lächeln und dem Gebaren einer Tochter aus gutem Hause, wie man sein Kind zu einem perfekten Menschen erzieht: An die Haut ihrer Tochter ließ sie nur Naturtextilien in Bioqualität, wenn sie den Gemüsebrei nicht selbst kochte, kaufte sie auch nur garantiert Zuckerfreie Babynahrung aus dem Bioladen und da sie schon jetzt eine Waldorf-Karriere für ihr Kind plante, wurde das Mädchen auch konsequent von den schädlichen Einflüssen eines einlullenden Bildschirms ferngehalten und – wie Siemke ihr unterstellte – nicht um das Kind zu schützen, sondern um bei der Bewerbung um den Waldorf-Kindergartenplatz bestehen zu können und so die eitlen und ehrgeizigen Bestrebungen der geltungssüchtigen Mutter zu befriedigen.
Aber Annette reichte es nicht, allen zu zeigen, dass sie die Supermutter einer perfekten Tochter war. Um sich noch mehr Glanz zu verleihen, musste sie zusätzlich andere abwerten. Nicht alle natürlich, sie brauchte ja jene, die sie weiterhin uneingeschränkt bewunderten, also musste sie ein Opfer auswählen für ihre Demütigungen, bei dem sie ein leichtes Spiel hatte, dass alle Anderen mit ihr in ein Horn stießen. Siemke war die einzige Alleinstehende in der Gruppe, bei allen anderen Kindern lebte auch der Vater in der gleichen Wohnung oder war zumindest präsent und übernahm Verantwortung. Und weil sie häufig um Rücksicht oder Unterstützung bitten musste, wurde sie den anderen, privilegierten Müttern bald lästig und niemand nahm sie vor Annettes Angriffen in Schutz, außer vielleicht Nadine, die zeigte sich anfangs noch solidarisch, zog sich aber irgendwann auch in ihr privilegiertes Kleinfamilienleben zurück und erfüllte außerdem nicht Siemkes intellektuellen Ansprüche. Sie suchte sich eine neue Krabbelgruppe, da musste sie zwar mit der Straßenbahn fahren, aber hier fanden sich wenigstens eine Menge Frauen in einer ähnlichen Lebenslage wie sie selbst.
Daria hatte mit drei Jahren einen KiTa-Platz bekommen und Siemke hatte endlich einen Job gefunden, mit dem sie sich und ihre Tochter über Wasser halten konnte, der Plan, einen Mann als Versorger aufzutun, schlug weiterhin fehl. Daria kam problemlos durch die Grundschule, erhielt eine Gymnasialempfehlung und wechselte auf die nahegelegene Gesamtschule, wo sie ebenfalls sehr gut zurechtkam. Eigentlich war sie ziemlich zufrieden, aber dann bekam ihr zerbrechliches Glück einen kleinen Riss, als sie an einem schönen Aprilvormittag einen cremefarbenen Büttenumschlag aus dem Briefkasten zog. Nadine lud zur Nachfeier der Konfirmationen ein. Genaugenommen zu Lorraines Nachfeier. Daria war nicht zum kirchlichen Unterricht gegangen und Isens Sohn sicher auch nicht. Jetzt sollten also mal wieder die Ergebnisse verglichen werden – welcher Sprössling hat sich am besten entwickelt? Sie war so stolz auf Daria, aber sie ahnte schon, wie die elegante Annette ganz nebenbei fallen ließ, dass ihre Lizzi, sich nach zwei übersprungenen Klassen auf ein Auslandsjahr in den USA freute und nebenbei im Schulorchester ganz außerordentlich schön Klarinette spielte, oder Violine, auf jeden Fall die erste Geige. Sie würde wieder alles kaputt machen und hinterher würde Siemke sich ein halbes Jahr lang schlecht fühlen. Sie machte ja schon jetzt alles kaputt, weil Siemke sich präventiv das Ausschlagen der Einladung verordnete. Und dann kam alles ganz anders.
Sie hatte Daria zum Reiten gebracht und unternahm in der Zwischenzeit einen Spaziergang um den Obersee. Als sie so in der Sonne umher spazierte und sich vergegenwärtigte, wie gut sie es doch geschafft hatte, ihre Tochter ganz allein zu einem prachtvollen Teenager zu erziehen, war sie mächtig stolz auf sich und fragte sich, ob es nicht doch gut sei, alle wieder zu treffen. Wer wusste schon, ob sie noch alle in den gleichen heilen Familien steckten wie vor zwölf Jahren? Sie malte sich aus, wie ein Haufen malträtierter, unvorteilhaft gealterter, alleinerziehender Mütter sich über die Fehlentwicklungen ihrer einst so vielversprechenden Sprösslinge beklagten und sie selbst mittendrin, blütenfrisch, hochzufrieden und voller Stolz auf ihr wohlgeratenes Töchterchen. Sie würde da hingehen und es ihnen allen zeigen. Auf einmal kam ihr ein bekanntes Gesicht entgegen. Die Frau trug Sportkleidung und Walking-Stöcke. Sie erkannte sie sofort, sie hatte sich kaum verändert, nur ein paar Falten um Augen und Mund, der Gang begann ein klein wenig wacklig zu werden, denn Annette war eine Spätgebärende gewesen und sie trug die Haare jetzt durchgestuft und offenkundig blondiert, um das sich ausbreitende Grau zu kaschieren und mehr Volumen in die schon immer nicht so beeindruckende Haarpracht zu bringen – da waren Siemke und Daria gegenüber Annette und Lizzi schon immer die Gesegneteren gewesen. Natürlich gab Annette vor, Siemke nicht zu erkennen. Vielleicht hatte sie keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten, aber vermutlich war das wieder nur eine ihrer zahlreichen Demütigungsversuche, doch Siemke ging in die Offensive, fest entschlossen, den Spieß umzudrehen.
„Ach, Hallo Annette, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen.“
„Entschuldigung, du musst mir auf die Sprünge helfen. Woher kennen wir uns?“
„Ich bin's, Siemke, die Mutter von Daria, aus der Krabbelgruppe. Ich hoffe, bei Dir geht’s noch nicht im Kopf los.“
„Wohl kaum.“, antwortete Annette kühl. „Weißt Du, in meinem Job begegne ich täglich so vielen neuen Gesichtern, da geht einem die eine oder andere flüchtige Bekanntschaft aus der Vergangenheit schon mal durch die Lappen. Und wie geht es euch?“
Siemke hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen. Annette hatte es schon wieder geschafft, ihr den härteren Schlag zu versetzen. So schnell konnte sie nicht wechseln. Darum antwortete sie nur: „Ganz gut soweit. Hast Du auch die Einladung zur Konfirmationsfeier von Lorraine bekommen?“
„Oh ja. Ich werde da aber kaum erscheinen. Ich habe keine Ahnung, was Nadine sich dabei gedacht hat, unsere Kinder sind doch jetzt alle in dem Alter, warum sollen wir uns ausgerechnet zu Lorraines Konfirmation versammeln?“
„Na ja, es ist doch eine nette Idee, dass sich alle mal wieder treffen. Und wenn man eingeladen ist, hat man ja schließlich keine Arbeit mit der Bewirtung. Außerdem sind ja nicht alle konfirmiert worden. Daria jedenfalls nicht und Finn doch bestimmt auch nicht.“
„Nein, natürlich nicht.“, erwiderte Annette. „Isen hält ja nichts von der Kirche.“
„Ich auch nicht:“
„Ach ja?“
„Ich gehe jedenfalls hin.“, sagte Siemke. „Du kannst Dich ja hinterher mit Isen treffen und Dir berichten lassen.“
„Ich glaube kaum, dass Isen einer Einladung von Nadine nachkommt.“
„Dann eben nicht.“
„Ich kann es mir ja noch mal überlegen.“, räumte Annette ein. „Wahrscheinlich hast du Recht und es ist einfach eine nette Idee. Also dann vielleicht bis morgen.“
Als Annette weiterging, spürte Siemke plötzlich einen schweren Kloß im Hals. Sie hatte sich so auf das Treffen gefreut und jetzt würde die versnobte Edelmami wieder alles in Grund und Boden rammen mit ihren mageren, manikürten Klavierspielerinnen-Fingern, die immer wie Spinnenbeine den Kaffeebecher umschlossen hatten, als handele es sich um den Hals einer Rivalin. Diesmal nicht, dachte Siemke. Annette bog gerade um die Kurve ins unüberschaubare Dickicht der Uferbepflanzung. Vom letzten Winter lag noch ein Paar verlorener, vergessener oder entsorgter, rostiger Schlittschuhe unter einem Busch. Sie griff sich einen davon und hastete auf leisen Sohlen hinter Annette her. Mit einer Präzision, als wenn sie es ihr Leben lang trainiert hätte, traf sie Annette mit der Kufe am Schädel, so dass diese sofort zu Boden ging. Sie hätte es dabei belassen können, aber es gab keine Zeugen und sie war so voller uraltem Zorn. Immer und immer wieder drosch sie mit dem rostigen Schlittschuh auf die am Boden Liegende ein, bis sie sich nicht mehr rührte. Erst danach blickte sie sich geistesgegenwärtig um. Niemand war in der Nähe. Sie rubbelte die Fingerabdrücke mit einem Papiertaschentuch ab und schleuderte den Schlittschuh in den See. Dann atmete sie tief durch. Gleich würde sie Daria vom Reiten abholen und morgen hatte sie eine Einladung zum Kaffeetrinken, auf die sie sich jetzt ohne Abstriche freute.
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