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Samstag, 19. August 2017
Abraham ist schuld – vierteiliger Kurzkrimi – Teil IV
c. fabry, 00:29h
Ein Jahr nachdem Hagar von ihrem Sohn getrennt worden war, bat sie Abraham, zu Ismael reisen zu dürfen, denn sie könne nicht von Isaak erwarten, dass er im Alter zwei Mütter versorge. Abraham ließ sie gewähren, gab ihr reichlich gefüllte Wasserschläuche, Trockenfleisch, ungesäuertes Brot und getrocknete Datteln mit und bat sie, Ismael seine wärmsten Grüße zu überbringen. Als Hagar nach mehreren Wochen den neuen Wohnsitz ihres Sohnes erreichte, hatte der dort bereits eine prachtvolle Oase aufgebaut, in der es sich trefflich leben ließ. Wenig später heiratete er und in den langen Nächten unter dem Sternenhimmel der arabischen Wüste erzählte er seine Geschichte und schloss mit den Worten: „...und dann hat mein Vater mich mit der ganzen Herde hier her gebracht und hier habe ich schließlich mein Glück gemacht.“
Als Ismaels Söhne und Töchter heranwuchsen, erzählte ihre Mutter ihnen: „Großvater Ibrahim hat seinen Sohn Ismail in die Wüste geschickt, weil der Bastard Isaak ihn sonst umgebracht hätte. Nur ein paar Tiere durfte er mitnehmen. Aber euer Vater ist klug, stark und mutig und hat eine Menge aus seinem Leben gemacht. Der Isaak, das verwöhnte Nesthäkchen, hat ihm seinen Platz gestohlen, aber er wohnt heute noch in einem Zelt und züchtet Schafe und Ziegen. Nie hat er sich für irgendetwas angestrengt.“ Nejabot, Kedar und Adbeel gehörten begeistert zu, aber die Tochter Mahalat hegte Zweifel an der Darstellung ihrer Mutter, von der sie sich stets wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte.
Auch Isaak fand seine Frau, Rebekka war ihr Name und der erzählte er: „Mein Halbbruder hat das ganze Vieh bekommen, ich musste ganz von vorn anfangen. Aber das Land, das, was wirklich zählt, das bewohnen wir und wir haben eine blühende Zukunft vor uns.“
Ihren Söhnen Jakob und Esau erzählte Rebekka: „Großvater Abraham hat Ismael, den Bastard, in die Wüste geschickt, aber er musste ihn abfinden. Ismael hat euren Vater immer gequält, darum musste er verschwinden. Seine Nachkommen sind unsere Feinde. Tut euch nicht mit denen zusammen. Jakob, der Jüngere, hing an den Lippen seiner Mutter. Esau, der Ältere ging bald seiner Wege, hatte nichts übrig für das Weibergewäsch und ging lieber jagen. Rebekkas und Isaaks Söhne entzweiten sich, aber sie vertrugen sich schließlich wieder. Und Esau heiratete Mahalat, die Tochter seines Halbonkels Ismael.
Ismaels Kinder erzählten seinen Enkeln: „Euer Großvater sollte geopfert werden. Das hatte Elohim so befohlen, aber er hat es sich anders überlegt und stattdessen ein Tier geopfert und dann ist er mit Ismael gen Osten gezogen und hat den heiligen Tempel wieder aufgebaut. Von Sarah und Isaak spricht heute niemand mehr.“
Isaaks Sohn Jakob erzählte seinen Enkeln: „Euer Urgroßvater sollte Isaak verbrennen, seinen einzigen wahren Sohn, denn den anderen, den Ismael, der nur das Kind einer Zofe war, den hatte er schon mitsamt seiner ägyptischen Mutter in die Wüste geschickt.“
So wurden Geschichte weitererzählt und schließlich aufgeschrieben und abgeschrieben und übersetzt. So vieles ging verloren, so vieles wurde dazu erfunden und zweitausend Jahre später streiten die vermeintlichen Erben um die Wahrheit, dabei weiß man nichts und wird auch nie wissen, nicht einmal, ob es wirklich wahr ist, dass Ismael nach Hebron reiste, als Abraham gestorben war, um ihn gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak an Sarahs Seite zu bestatten.
Kerime sah nichts als weiß. War sie auf dem Weg ins Paradies? Was würde sie dort erwarten? Worauf die Männer spekulierten, war ja hinlänglich bekannt, aber auf was durften die Frauen hoffen? Kerime sehnte sich nach Ruhe, Frieden, Licht, Wärme, Wohlgerüchen und warmen Farben. Gerade jetzt war es zwar ruhig und friedlich, aber ihr war kalt, es roch seltsam und unangenehm und es gab keine Farben, nur weiß. Sie spürte nach, ob sie noch einen Körper hatte. Doch da waren ihre Hände, sie konnte sie bewegen, auch die Füße. Sie spürte ihre Beine, ihre Hüften, den Rücken nur den Bauch konnte sie nicht so richtig fühlen. Oder doch? Sie wusste es nicht. Ob sie sich bewegen konnte? Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wackelte mit den Zehen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite. Was für ein Gestell war das denn? In ihrem Kopf arbeitete es, sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sie sah und dem, was sie bereits kannte. Ihr dämmerte allmählich, wo sie sich befand. Sie fuhr nicht auf ins Paradies, sie lag im Krankenhaus. Wie war sie hier hingekommen? Was war geschehen? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die Platte mit Dolma, die sie aufs Buffet gestellt hatte. Welches Buffet eigentlich? Ach ja richtig, Torgays Klassenfest. Sie erschrak. Tuncay, was war mit Tuncay? Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Bauchmuskeln gehorchten ihr nicht und da waren überall Schläuche. Sie sah wieder Jörn vor sich. Jörn mit dem Messer, der auf Tuncay losging. Sie musste wissen, was passiert war, doch schon verließen sie die Kräfte und sie sank zurück in die Dunkelheit.
Fünf Stunden später saßen Daniel und Tuncay gemeinsam an Kerimes Krankenbett und warteten ungeduldig darauf, dass sie erwachte. Sie hatte die Messerattacke nicht nur überlebt, sie war auch außer Gefahr, obschon die Klinge einige Organe verletzt hatte, aber die Operateure hatten die Blutung stillen können und die Wunden verschlossen. Tuncay wollte ihr dringend sagen, wie sehr er sie liebte, nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Daniel brannte darauf, ihr mitzuteilen, dass Jörn bereits in Untersuchungshaft saß und dass die Chancen gut standen, dass der Staatsanwalt eine sehr lange Haftstrafe beantragen würde. So viele Zeugen hatten beobachtet, was geschehen war, er käme sicher nicht mit einem blauen Auge davon.
Tuncay hielt Kerimes Hand. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht provozieren lassen, läge sie jetzt nicht hier. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Er wollte seine schöne Frau zurück haben, heil und gesund. Er weinte. „Und das alles wegen Ibrahim.“, schluchzte er.
„Ja.“, pflichtete Daniel ihm betroffen bei. „Abraham ist schuld.“
ENDE
Als Ismaels Söhne und Töchter heranwuchsen, erzählte ihre Mutter ihnen: „Großvater Ibrahim hat seinen Sohn Ismail in die Wüste geschickt, weil der Bastard Isaak ihn sonst umgebracht hätte. Nur ein paar Tiere durfte er mitnehmen. Aber euer Vater ist klug, stark und mutig und hat eine Menge aus seinem Leben gemacht. Der Isaak, das verwöhnte Nesthäkchen, hat ihm seinen Platz gestohlen, aber er wohnt heute noch in einem Zelt und züchtet Schafe und Ziegen. Nie hat er sich für irgendetwas angestrengt.“ Nejabot, Kedar und Adbeel gehörten begeistert zu, aber die Tochter Mahalat hegte Zweifel an der Darstellung ihrer Mutter, von der sie sich stets wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte.
Auch Isaak fand seine Frau, Rebekka war ihr Name und der erzählte er: „Mein Halbbruder hat das ganze Vieh bekommen, ich musste ganz von vorn anfangen. Aber das Land, das, was wirklich zählt, das bewohnen wir und wir haben eine blühende Zukunft vor uns.“
Ihren Söhnen Jakob und Esau erzählte Rebekka: „Großvater Abraham hat Ismael, den Bastard, in die Wüste geschickt, aber er musste ihn abfinden. Ismael hat euren Vater immer gequält, darum musste er verschwinden. Seine Nachkommen sind unsere Feinde. Tut euch nicht mit denen zusammen. Jakob, der Jüngere, hing an den Lippen seiner Mutter. Esau, der Ältere ging bald seiner Wege, hatte nichts übrig für das Weibergewäsch und ging lieber jagen. Rebekkas und Isaaks Söhne entzweiten sich, aber sie vertrugen sich schließlich wieder. Und Esau heiratete Mahalat, die Tochter seines Halbonkels Ismael.
Ismaels Kinder erzählten seinen Enkeln: „Euer Großvater sollte geopfert werden. Das hatte Elohim so befohlen, aber er hat es sich anders überlegt und stattdessen ein Tier geopfert und dann ist er mit Ismael gen Osten gezogen und hat den heiligen Tempel wieder aufgebaut. Von Sarah und Isaak spricht heute niemand mehr.“
Isaaks Sohn Jakob erzählte seinen Enkeln: „Euer Urgroßvater sollte Isaak verbrennen, seinen einzigen wahren Sohn, denn den anderen, den Ismael, der nur das Kind einer Zofe war, den hatte er schon mitsamt seiner ägyptischen Mutter in die Wüste geschickt.“
So wurden Geschichte weitererzählt und schließlich aufgeschrieben und abgeschrieben und übersetzt. So vieles ging verloren, so vieles wurde dazu erfunden und zweitausend Jahre später streiten die vermeintlichen Erben um die Wahrheit, dabei weiß man nichts und wird auch nie wissen, nicht einmal, ob es wirklich wahr ist, dass Ismael nach Hebron reiste, als Abraham gestorben war, um ihn gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak an Sarahs Seite zu bestatten.
Kerime sah nichts als weiß. War sie auf dem Weg ins Paradies? Was würde sie dort erwarten? Worauf die Männer spekulierten, war ja hinlänglich bekannt, aber auf was durften die Frauen hoffen? Kerime sehnte sich nach Ruhe, Frieden, Licht, Wärme, Wohlgerüchen und warmen Farben. Gerade jetzt war es zwar ruhig und friedlich, aber ihr war kalt, es roch seltsam und unangenehm und es gab keine Farben, nur weiß. Sie spürte nach, ob sie noch einen Körper hatte. Doch da waren ihre Hände, sie konnte sie bewegen, auch die Füße. Sie spürte ihre Beine, ihre Hüften, den Rücken nur den Bauch konnte sie nicht so richtig fühlen. Oder doch? Sie wusste es nicht. Ob sie sich bewegen konnte? Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wackelte mit den Zehen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite. Was für ein Gestell war das denn? In ihrem Kopf arbeitete es, sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sie sah und dem, was sie bereits kannte. Ihr dämmerte allmählich, wo sie sich befand. Sie fuhr nicht auf ins Paradies, sie lag im Krankenhaus. Wie war sie hier hingekommen? Was war geschehen? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die Platte mit Dolma, die sie aufs Buffet gestellt hatte. Welches Buffet eigentlich? Ach ja richtig, Torgays Klassenfest. Sie erschrak. Tuncay, was war mit Tuncay? Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Bauchmuskeln gehorchten ihr nicht und da waren überall Schläuche. Sie sah wieder Jörn vor sich. Jörn mit dem Messer, der auf Tuncay losging. Sie musste wissen, was passiert war, doch schon verließen sie die Kräfte und sie sank zurück in die Dunkelheit.
Fünf Stunden später saßen Daniel und Tuncay gemeinsam an Kerimes Krankenbett und warteten ungeduldig darauf, dass sie erwachte. Sie hatte die Messerattacke nicht nur überlebt, sie war auch außer Gefahr, obschon die Klinge einige Organe verletzt hatte, aber die Operateure hatten die Blutung stillen können und die Wunden verschlossen. Tuncay wollte ihr dringend sagen, wie sehr er sie liebte, nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Daniel brannte darauf, ihr mitzuteilen, dass Jörn bereits in Untersuchungshaft saß und dass die Chancen gut standen, dass der Staatsanwalt eine sehr lange Haftstrafe beantragen würde. So viele Zeugen hatten beobachtet, was geschehen war, er käme sicher nicht mit einem blauen Auge davon.
Tuncay hielt Kerimes Hand. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht provozieren lassen, läge sie jetzt nicht hier. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Er wollte seine schöne Frau zurück haben, heil und gesund. Er weinte. „Und das alles wegen Ibrahim.“, schluchzte er.
„Ja.“, pflichtete Daniel ihm betroffen bei. „Abraham ist schuld.“
ENDE
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