Montag, 24. April 2017
Fünfzehn Siebzehn - Kurzkrimi zum Spekulieren - 2. Teil
Am nächsten Morgen betrat Kerkenbrock ihr Büro und staunte über einen selten erholt wirkenden Stefan Keller.
„Waren Sie wirklich nur im Urlaub oder waren Sie irgendwo im Zauberwald?“, fragte sie ihn. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen neuen Lack bekommen.“
„Danke, für das reizende Kompliment.“, erwiderte Keller. „Es ist wohl eher so, als wenn man ein altes Auto mit Politur für den TÜV aufhübscht. Das wäscht sich innerhalb einer Woche wieder runter.“
„Meinen Sie, länger hält das nicht?“, fragte Kerkenbrock. Immerhin betrifft unser neuer Fall ein Opfer aus dem urbanen Milieu, das sollte Ihnen doch gefallen.“
„Ja, aber gefunden wurde die Leiche im Wald, ich habe den Bericht schon gelesen. Ist ja schauerlich. Waren Sie schon beim Psychologen?“
„Haha, ich lach mich gleich tot. Wir haben zu tun, Herr Keller. Ich versuche jetzt gleich Philipp Schwartz zu erreichen, das ist der Pfarrer, der den kirchenkreisweiten Festakt zur Reformation organisiert. Unser Opfer wollte dort nämlich einen Infostand zu Luthers dunklen Abgründen betreiben. Ich wüsste gern, was genau er da geplant hat.“
„Meinen Sie, jemand wollte ihn wegen Ketzerei präventiv bestrafen?“
„Wäre doch möglich.“, meinte Kerkenbrock.
„Haben Sie schon mit der Familie gesprochen?“
„Die waren bisher nicht vernehmungsfähig. Ich schlage vor, die besuchen wir erst am späten Vormittag.“

Philipp Schwartz war zu Hause und empfing die Beamten betont freundlich, so wie ein kundenorientierter Geschäftsmann. Und so sah er auch aus: Jung, dynamisch, gepflegt, im Business-Look gekleidet und ein seriöser Haarschnitt, der aber frech genug geschnitten war, um nicht zu bieder zu wirken. Er sprach laut und fröhlich mit einer Mischung aus angedeuteter, freundschaftlicher Vertraulichkeit, wobei er peinlich darauf achtete, in kein Fettnäpfchen zu treten und nichts Wesentliches von sich preiszugeben. Er hätte den perfekten Jungmanager abgegeben. Über den grausamen Tod seines Kollegen zeigte er sich zutiefst erschüttert und zwar genau in dem Maß, in dem es von ihm als Theologen, Profi und Kollegen erwartet wurde, das heißt, er behielt die Fassung, aber der betroffene Gesichtsausdruck saß wie angegossen.
„Wie kommt es, dass Sie noch nicht informiert sind?“, fragte Keller skeptisch.
„Ich bin erst gestern Nacht von einer Fortbildung aus Süddeutschland zurückgekehrt. Als Sie anriefen, saß ich gerade beim Frühstück. Ich habe noch keine E-mail gelesen, kein Radio gehört und keine Zeitung aufgeschlagen. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Sie organisieren doch die Veranstaltung am 31.10. zum Reformationsjubiläum.“, begann Kerkenbrock die Befragung. „Welche Details sind Ihnen bekannt zum Infostand, den Thorben Münter geplant hatte?“
„Ich weiß nur, dass er Stellwände aufbauen wollte und dann sprach er von einem Brettspiel, sehr einfach gehalten, irgendetwas mit Würfeln und Karten unter der Überschrift: „Was hätte Luther getan?“ Er wollte die Besucher mit den Entgleisungen des Reformators konfrontieren, Also mit seinem Antisemitismus, seinem Unverständnis gegenüber den Bauernaufständen, seiner scharfen Kritik an Thomas Müntzer und seinem Rest-Aberglauben, demzufolge Kinder mit geistigen Behinderungen Wechselbälger des Teufels waren und damit Dämonen, die man töten musste.“
„Gab es Kritik oder Widerstand gegen sein Vorhaben?“, fragte Keller.
„Nein.“, erwiderte Schwartz, ohne zu überlegen. „Warum auch? Das ist ja alles historisch belegt. Natürlich fragt man sich, warum wir, wenn wir das Jubiläum der Reformation feiern, die eine Errungenschaft der Christenheit darstellt, immer gleichzeitig daran erinnern müssen, dass der Reformator kein Heiliger war? Jeder Held der Geschichte hat auch dunkle Seiten. Menschen sind keine perfekten Lichtwesen, deswegen haben wir ja auch alle die Vergebung so nötig. Martin Luther hat das immer betont und war sich auch stets seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst. Er war ein Kind seiner Zeit und dabei sollte man es belassen. Natürlich ist die Evangelische Kirche heute meilenweit davon entfernt, antisemitisch zu sein, Menschen, die nicht der Norm entsprechen auszugrenzen, Reformwillige zu vertreiben oder politischen Widerstand zu verbieten. Ganz im Gegenteil.“
„Natürlich.“, erwiderte Keller mit gespielter Freundlichkeit. „Das entspricht ja auch der aktuellen gesellschaftlichen Norm. Vor achtzig Jahren sah das aber noch ganz anders aus.“
„Vor achtzig Jahren sah es auch bei der Polizei noch ganz anders aus.“, konterte Schwartz. „Ich bin jedenfalls in einer evangelischen Verbandsjugendarbeit groß geworden, in der man sich mit Themen befasst hat wie dem Weltfrieden, dem Umweltschutz und der Integration von Menschen mit Behinderungen. Und wenn jemand bei einem Fest zur Reformation darauf besteht, auch die Schattenseiten zu bedenken, dann hat er alle Freiheit, das zu tun. Wie halten Sie es denn bei Ihren Polizeifesten?“
„Ich besuche keine Polizeifeste.“, antwortete Keller. „haben Sie sonst etwas mitbekommen, dass Thorben Münter vielleicht bedroht wurde oder mit jemandem Streit hatte?“
„Er wurde bestenfalls von einigen Kollegen belächelt.“, erwiderte Schwartz mit einem mitleidigen Zucken der Mundwinkel. „Irgendwann wird man einfach nicht mehr ernst genommen, wenn man sich immer gebärdet, als sei man das personifizierte Gewissen des Kirchenkreises.“
Sie befragten Philipp Schwartz noch lange zu den Aufgaben, den die Theologen im Kirchenkreis unter sich aufteilten, wer besonders gut mit Münter zurecht gekommen war und wer ihn besonders missbilligte und was bei der Veranstaltung am 31.10. genau geplant war und in wessen Verantwortung. Der Pfarrer schwärmte in höchsten Tönen von seinem Projekt und es war nicht zu übersehen, dass er es liebte wie sein Baby und es – falls nötig – mit Zähnen und Klauen verteidigte.
„Wir müssen die angebliche Fortbildung in Süddeutschland genau überprüfen.“, meinte Keller später zu Kerkenbrock. „Ich finde, dieser Schwartz hat das dickste Motiv, das man sich vorstellen kann, er hatte nur nicht die Gelegenheit, aber vielleicht hat er auch nur dafür gesorgt, dass es so aussieht.“

Am späten Vormittag suchten sie Frau Münter auf. Die hatte sich durch Notfallseelsorge und die Einnahme von entsprechenden Medikamenten so weit beruhigt, dass sie zu einem längeren Gespräch fähig war.
„Ja, mein Mann hat es seinen Kollegen nicht immer leicht gemacht, aber ich glaube kaum, dass irgendjemand ihn deswegen umbringen wollte. Seine echten Feinde müssen Sie wohl eher im rechtsextremistischen Umfeld suchen. Die haben sich ja schon im Nazi-Deutschland auf Luther berufen. Als er vorgestern Abend noch einmal raus gegangen ist, hat er mir einen Zettel hinterlassen.“
Sie zeigte den Beamten ein quadratisches Blatt eines handelsüblichen Notziblocks: „Hallo Frauke, bin kurz noch mal Nazis gucken :-) Kann spät werden. Thorben.“
„Verstehen Sie, was er damit meinte?“, fragte Kerkenbrock.
„Ich vermute, er hat eine Mitteilung bekommen, dass irgendwo eine heimliche Veranstaltung von Neonazis abgehalten wird. Er wollte dahin und das beobachten. So etwas hat er häufiger gemacht.“
„Wer wusste, dass er so etwas regelmäßig machte?“, fragte Kerkenbrock.
„Praktisch jeder, der ihn kannte.“, antwortete Frauke Münter. „Er sprach sehr viel darüber.“
„Es wäre demnach möglich, dass ihn jemand in eine Falle gelockt hat?“
„Sie meinen, das waren gar keine Nazis?“, fragte die Witwe irritiert.
„Zumindest nicht notwendigerweise.“, antwortete Kerkenbrock. „Haben Sie sich denn gar nicht gewundert, dass Ihr Mann in der Nacht nicht nach Hause kam? Sie müssen sich doch Sorgen um ihn gemacht haben. Ist doch nicht unwahrscheinlich, dass man verletzt wird, wenn man heimlich Treffen von Neonazis beschattet.“
„Ich habe den Zettel doch erst gefunden, nachdem die Polizei hier war.“, antwortete Frauke Münter. „Vorgestern Nacht bin ich selbst sehr spät nach Hause gekommen, ich war bei einer Freundin und wir haben die halbe Nacht geredet. Ich habe mich dann leise ins Bett geschlichen, um meinen Mann nicht zu wecken. Ich wusste gar nicht, dass er nicht da war.“
„Sie müssen doch bemerkt haben, dass das Bett leer war.“
„Nein.“, erwiderte die Frau des Pfarrers. „Seine Schlafzimmertür war zu. Wir schlafen nicht in einem Zimmer. Ich bin sehr geräuschempfindlich und schlafe bei geschlossenem Fenster. Mein Mann dagegen bekommt Alpträume, wenn nicht ständig frische Luft nachströmt.“
Sie hatte für den Bruchteil einer Sekunde vergessen, dass ihr Mann nie wieder Alpträume haben würde.

Sie ließen sich auch Namen und Kontaktdaten der Freundin geben, mit der Frau Münter die halbe Tatnacht verbracht haben wollte. „Getrennte Schlafzimmer“, meinte Keller, „sind immer ein Indiz für eheliche Konflikte. Die Ausrede mit den unterschiedlichen Schlafbedürfnissen wird einem da jedes Mal aufgetischt.“
„Aber es gibt unterschiedliche Schlafbedürfnisse.“, meinte Kerkenbrock. „Ich kenne einige befreundete Paare, die das so handhaben und trotzdem Kinder kriegen und sehr liebevoll miteinander umgehen.“
„Mag ja sein.“, erwiderte Keller. „Überprüfen müssen wir das Alibi der Witwe aber trotzdem. Dieser Notizzettel wirkt auf mich reichlich konstruiert. Ich kümmere mich um die Alibis. Könnten Sie sich in der Zwischenzeit mit dem Kirchenkreis in Verbindung setzen und sich eine Liste aller dort tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer geben lassen? Ich denke wir sollten die alle abklappern, falls die Alibis der Prüfung standhalten.“
„Ist in Ordnung.“, meinte Kerkenbrock. „Vielleicht unterhalte ich mich mal mit der Superintendentin. Die weiß sicher, wer besonders gut mit Münter konnte und wer ihm nicht so grün war, dann müssen wir uns nicht mit jedem unterhalten.“
„Aber die Information haben wir doch schon von Schwartz.“
„Ich hole gern eine zweite Meinung ein.“, antwortete Kerkenbrock. „Und mit der weiblichen Sicht ist das Ganze dann auch gleich ordnungsgemäß gegendert.“
„Sie sprechen definitiv nicht meine Sprache.“, grunzte Keller und lenkte den Wagen zurück zum Präsidium.
JA, IHR LIEBEN, DIES IST NOCH IMMER NICHT DAS ENDE. DARAUF MÜSST IHR NOCH EINE WOCHE WARTEN: VERTREIBT DOCH MIR UND EUCH DIE ZEIT MIT GEWAGTEN HYPOTHESEN UND UNGEHEUERLICHEN VERDÄCHTIGUNGEN.

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