Dienstag, 4. April 2017
Lennart
Der Vater war chronisch abwesend. 1967 hätte niemand das in irgendeiner Weise ungewöhnlich gefunden. 2017 jedoch waren Väter im Familienleben präsenter geworden. Nicht in gleicher Weise wie die Mütter – von einigen Ausnahmen einmal abgesehen – aber präsenter. Doch dieser Vater leitete ein Unternehmen. 16-Stunden-Tage waren die Regel. Freie Wochenenden gab es kaum. Er war der Versorger, ansonsten ein Fremder, ein Abstraktum.
Die Mutter war körperlich anwesend. Sie war karitativ für den Lions-Club tätig, bei dem ihr Gatte ordentliches Mitglied war. Frauen waren hier nach wie vor nur schmückendes Beiwerk. Die Mutter hatte viele Termine, um repräsentationsfähig und präsentabel zu bleiben.
Der Sohn war dreizehn, fast vierzehn Jahre alt. Er hatte alles, was Jugendliche in seinem Alter sich wünschen können: PC, Tablett, PS2, I-Phone 5, BMX-Rad, Rennrad, Longboard, Stereoanlage...die üblichen Konfirmationsgeschenke würden für ihn nicht mehr infrage kommen. Das müsste schon eine besondere Reise sein oder ein teures Event. Seine Mutter hatte schon ein paar Mal gegoogelt, abends, wenn der Junge schlief. Wenn sie dachte, dass der Junge schlief.
Der Junge war frei wie ein Vogel. Die Ergebnisse mussten am Ende stimmen, wie er dahin kam, war egal. Bis jetzt hatte er sich leidlich durchlaviert. Wo es in der Schule hakte, half das große Taschengeld. Überall konnte man sich Unterstützung kaufen, es war alles eine Frage des Preises.
Dann kam aber auch noch dieser kirchliche Unterricht dazu, bei diesem blöden Pfaffen, den wirklich kein Mensch ernst nehmen konnte, nicht einmal seine Eltern. Diesen Foliengriller steckte er mit links in die Tasche und das ließ er ihn auch spüren. Er würde in wenigen Jahren ein Weltmarkt-relevantes Unternehmen leiten, wer war schon dieser Pfaffe mit seinen zehn Geboten, seinen uralten Chorälen, die kein Mensch mehr verstand und seinen flachen langweiligen Geschichten. Er musste seine 1 1/2 Jahre absitzen, dann das Ritual in der Kirche über sich ergehen lassen und seine Eltern waren zufrieden. Es war überaus wichtig, sie zufrieden zu stellen, sonst liefen sie nicht rund. Und wenn sie nicht rund liefen, bekam er nicht, was er wollte.
Aber er brauchte etwas zur Kompensation. Jede Woche zu diesem blöden Geseier ein entspanntes Gesicht zu machen, das war einfach zu viel verlangt. Trotz seiner Bemühungen, war er schon mehrfach mit dem Pfaffen aneinandergeraten, mal waren seine Fragen zu kritisch, mal hatte er einen Kaugummi im Mund, mal war er abgelenkt von erhellenderen Gesprächen mit seinen Sitznachbarn. Der Pfaffe hatte ihn auf dem Kieker, er musste vorsichtig sein. Aber nichts setzte ihn so sehr unter inneren Druck wie Speichelleckerei, ganz besonders, wenn er den, dessen Speichel er lecken sollte, als minderwertig erachtete. Diesen Druck wurde er nur los, indem er denjenigen, dem er sich unterwerfen musste, demütigte. Er hatte sich den Klassiker gegönnt: Brennende Zeitung auf Hundescheiße vor Pfarrers Haustür, klingeln, weglaufen. Es hatte funktioniert, der Pfaffe hatte reichlich Scheiße am Schuh. Und geflucht hatte er, dass es eine wahre Wonne war. So ein Erlebnis gewann deutlich an Wert, wenn man es mit anderen teilen und ihre Bewunderung einheimsen konnte. Er hatte es gefilmt und herum gezeigt. Das brachte ihm große Anerkennung.
Doch dann bekam er Streit mit Jakob. Er wusste nicht einmal mehr warum, aber Jakob hatte schließlich angekündigt, ihn beim Pfaffen anzuschwärzen, ihm das mit dem Video zu erzählen, das Lennart überall herumgezeigt hatte, das mit der Scheiße am Schuh. Im Grunde wäre es ein Genuss gewesen, ins Gesicht des Pfaffen zu blicken, in dem Wissen, dass er Kenntnis davon hatte, wer ihm diese unliebsame Überraschung beschert hatte, wer ihn letztendlich gefickt hatte. Doch so wie dieser Pfaffe drauf war, würde er sich weigern, Lennart zu konfirmieren. Seine Eltern würden unzufrieden mit ihm sein, weil das Ergebnis nicht stimmte. Das konnte er sich nicht leisten, es würde seinen Komfort einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten beschneiden, das durfte er keinesfalls zulassen.
Er war kein gewöhnlicher Teenager. Wenn er ausnahmsweise etwas auf Papier schrieb, dann nur auf dem hochwertigen Firmenpapier seines Vaters, mintgrünes Bütten mit einem dezenten Wasserzeichen oben links. Und er schrieb immer mit dunkelgrüner Tinte, das war sein Markenzeichen geworden. In einem Anflug von Schwachsinn, den andere vielleicht als Menschlichkeit oder freundschaftliche Verbundenheit verstanden hätten, hatte er Jakob etwas von seinem Vorrat abgegeben. Er hatte es bald bereut, denn Jakob, der ihn zutiefst bewundert hatte und ihm stets wie ein Hündchen nachgelaufen war, hatte sich ebenfalls dunkelgrüne Tintenpatronen besorgt und imitierte ihn, wie schon so oft. Allein dieses schamlose Kopieren seiner Originalität konnte er nicht dulden. Erst recht nicht die Gefährdung seiner elterlichen Beziehung.
Die letzte Stunde im kirchlichen Unterricht hatte ihm dann das Material geliefert. Der Pfaffe hatte Jakob einen Spruch rein gereicht und Jakob hatte das gar nicht cool genommen. Alle hatten das mitbekommen. Ihm hätte das ja nicht passieren können, dass er sich geschämt hätte, weil er diesen dämlichen Konfi-Kalender verlegt hatte, einfach lächerlich. Aber Jakob war eben ein Zwerg, nicht äußerlich, nein da brachte er es schon auf 1,75, aber innerlich, was seine Persönlichkeit betraf, sein Selbstbewusstsein, seine innere Stärke, da war er ein Zwerg. Geradezu prädestiniert für einen Suizid infolge einer Demütigung.
Er wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ihn zu der Mutprobe zu überreden. Schließlich hatte Jakob eingewilligt, den Kopf durch die Schlinge gesteckt und den Stuhl weggekickt. Es war abgesprochen, dass Lennart ihn nach dreißig Sekunden rettete. Und Lennart zählte: „27, 28, 29, 30, 31, 32, 33...“, dann sah er schweigend zu, so lange bis Jakob aufhörte zu zappeln. Er sah die ganze Zeit hin. Das würde ihn nur härter machen.
Dann schrieb er den Abschiedsbrief. Zum Glück hatte er von allen Bögen, die er Jakob damals überlassen hatte, das Firmenlogo mit der Schneidemaschine abgetrennt. Die Verbindung zur Firma seines Vaters würde niemand herstellen. Jakobs Handschrift zu imitieren, war eine seiner leichteren Übungen. Eine krakelige Jungenschrift, die der seinen äußerst ähnlich war, nur das s und das t schrieb Jakob anders, aber das bekam er hin. Er war kein gewöhnlicher Teenager.

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