Dienstag, 11. April 2017
Gewitternacht
Da ich zur Zeit im Endspurt meines aktuellen Romans stecke, hier mal wieder eine Kostprobe aus "Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind"

Kriminalhauptkommissar Stefan Keller gönnte sich einen kurzen Spaziergang über den Nordhemmer Friedhof. Gleich musste er seine letzte Befragung durchführen und dann eine Stunde lang im Auto sitzen, da würde ihm etwas Bewegung vorher gut tun, denn hinterher käme er bestimmt nicht mehr dazu. Unter dem dramatischen Himmel mit den sich bedrohlich auftürmenden Wolken wirkte selbst dieser dem Kahlschlag zum Opfer gefallene Friedhof geheimnisvoll und schaurig. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ergeben, dass die Kinder hier auf dem Friedhof erschlagen worden waren; welch ein grausames Schicksal. Ein Blitz zuckte im Norden durch die Luft. Keller beeilte sich, zu seinem Auto zu kommen.
Nicht allzu überrascht öffnete die Jugendreferentin Katharina Förster ihre Wohnungstür.
„Ah, Herr Keller, das hatte ich mir doch fast gedacht, dass Sie mich sprechen wollten.“, erklärte sie. Sie trug ein sportliches Blusenkleid, das ihre weiblichen Rundungen ungewohnt betonte. Sie war zwar ungeschminkt und für eine junge Frau ihres Alters ziemlich Frisur-los, wirkte aber nicht ganz so graumäusig, wie Keller sie in Erinnerung hatte.
„Sie sind also über den Mord an den beiden Kindern informiert?“, fragte Keller.
„Ja, ich hatte heute Morgen ein Vorbereitungstreffen für die Ferienspiele und da hat man mir das erzählt. Anneliese Gieseking war ja eine der ersten, die bei Sigrid Röthemeier waren, nachdem sie die Leichen entdeckt hatte.“
„Und die Kinder wurden von Ihnen betreut?“
„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich. Das Gewitter kommt sowieso näher und gleich kommt sintflutartiger Regen, da können Sie eh' nicht zum Auto laufen, sonst sind Sie sofort klatschnass.“
Keller trat in die ihm vertraute Wohnung der Jugendreferentin, die er vor zwei Jahren mehrfach aufgesucht hatte, als er im Kirchenkreis Minden und vor allem in der Gemeinde Holzhausen II-Nordhemmern in mehreren Mordfällen ermittelt hatte. Katharina Förster war ihm hochgradig tatverdächtig erschienen, und er hatte auch ihr gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, doch dann hatte sie sich als äußerst hilfreiche Zeugin erwiesen und wäre beinahe selbst zum Mordopfer geworden. Die Wohnung hatte sich nicht verändert, zumindest nichts, was Keller aufgefallen wäre. Er nahm Platz auf der Couch vor dem noch immer fleckigen Teppich im gemütlichen Wohnzimmer und stellte seine Fragen.
„Also, Frau Förster, haben Sie die Kinder betreut?“
„So würde ich das nicht formulieren. Sie kamen regelmäßig zur Jungschar – das ist überwiegend für Kinder im Grundschulalter – im Holzhauser Gemeindehaus. Ich bin nur alle vierzehn Tage dabei, sonst leiten die Ehrenamtlichen das auch ohne mich.“
„Und welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?“
„Aufgeweckt, lebhaft, zielorientiert und immer zu Streichen aufgelegt. Aber sie hatten auch eine kleine sadistische Ader.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keller.
„Ich meine nicht, dass sie unter einer pathologischen Persönlichkeitsstörung litten und andere Kinder in ihre verborgenen Folterkeller lockten, aber ihre Streich waren schon ziemlich gemein, und sie foppten am liebsten die, die sich am wenigsten zur Wehr setzen konnten. Dabei waren sie ziemlich durchtrieben, denn sie beherrschten es exzellent, den Erwachsenen ein Musterkind-Dasein vorzugaukeln, während sie anderen übel mitspielten. Flogen sie auf, nahmen sie es sportlich, entschuldigten sich bei ihrem Opfer und zeigten sich auch einsichtig, wenn man ihnen klar machte, dass sie den Bogen überspannt hatten. Vielleicht war das auch nur gespielt, aber ich vermute, sie liebten es, sich mit anderen einen Jux zu machen, allerdings wollten sie niemanden verletzen. Sie kommen beide aus intakten Familien, wurden geliebt, Anforderungen ausgesetzt, aber nicht überfordert, haben klare Strukturen erfahren, aber auch viele Freiheiten gehabt. Perfekte Bedingungen, unter denen ein Kind zu einem gesunden Menschen heranwachsen kann.“
„So sehen Sie die Elternhäuser?“
„Hatten Sie einen anderen Eindruck?“
„Ja. Mir kam alles so vor wie vorne hui, hinten Pfui. Nach außen die perfekte, heile Welt, aber auch ganz viel Leere und Lieblosigkeit.“
„Na ja, Tiemanns sind mächtige Prolos und Borcherdings extrem angepasst, das ist vielleicht nicht optimal, aber so sind die Deutschen eben. Wenn man auch so ist, kommt man klar und wird, wenn man nicht allzu viel nachdenkt, meistens glücklich.“
„Tja, so ist es wohl.“, seufzte Keller, und ein greller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner entlud sich in geringer Entfernung.
„Das ist ja infernalisch.“, staunte Keller.
„Die Wetterfrösche haben Gewitter-Stürme apokalyptischen Ausmaßes angekündigt.“, erklärte Katharina Förster. „Soll ich Ihnen zur Beruhigung einen Kräutertee kochen?“
„Unsinn!“, wehrte Keller ab und die Jugendreferentin grinste.
Dann fragte er weiter: „Ist Ihnen an den Kindern in letzter Zeit irgendeine Veränderung aufgefallen?“
„Nein, Was sollte mir denn aufgefallen sein?“
„Allgemeine Verhaltensänderungen, erhöhte Aggressivität oder Rückzug, Ängste, Hyperaktivität, was weiß ich.“
„Die waren bis zuletzt so frech und fröhlich wie immer. Aber ich sehe die Kinder auch nur einmal in vierzehn Tagen, maximal neunzig Minuten.“
Keller knurrte unzufrieden.
„Wollen Sie irgendetwas Bestimmtes hören?“, fragte Katharina Förster vorsichtig.
„Nein, nein.“, antwortete Keller. Wir haben da zum Teil merkwürdige Parallelen verschiedener Beobachtungen, was den Jungen betrifft, aber wenn ich Ihnen das erzähle und Sie es dann bestätigen, heißt es hinterher, ich hätte Sie manipuliert.“
Die junge Frau grübelte, was man an Sören Außergewöhnliches beobachten könnte, das gleich mehreren aufgefallen war. So, wie der Polizist herum druckste, konnte es sich ja eigentlich nur um den Verdacht handeln, dass Sören sexuell missbraucht worden war oder selber zum Täter geworden war oder beides. Aber wie kam er darauf? Sie kannte Inga Ludwig, die Grundschullehrerin, die war bestimmt keine hysterische Küchenkinderpsychologin, die hinter jeder Monsterzeichnung einen Kinderschänder witterte. Dann fragte sie gerade heraus: „Gibt es Hinweise auf sexuellen Missbrauch?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie sich so beredt darüber ausschweigen, was an dem Jungen merkwürdiges aufgefallen ist. Ich selbst habe keinerlei Hinweise wahrgenommen.“
„Er hat eine Zeichnung angefertigt: eine Figur kniet vor einer anderen und macht schmatz schmatz.“
„Aber das kann doch alles Mögliche bedeuten.“
„Beim Kindersport hat er einem Jungen damit gedroht, ihm in den Mund zu urinieren.“
„Hat er das so formuliert?“
„Selbstverständlich nicht.“
„Aber Kinder machen so etwas. Vor allem Jungs schocken gern rum mit markigen Sprüchen, dann fühlen sie sich gleich stärker. Haben Sie das als Junge nie getan?“
„Nein, nie.“
„Ach, kommen Sie! Bestimmt haben Sie es nur vergessen oder verdrängt. Ich wollte als Mädchen auch Prinzessin werden und vom strahlenden Prinzen aufs weiße Pferd gehoben werden.“
„Sie?!“, fragte Keller ungläubig.
„Natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Aber ich hatte auch Penisneid.“
„So genau wollte ich's gar nicht wissen.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Auf jeden Fall kann es tausend Gründe für solche Zeichnungen geben: Im Gespräch mit Jugendlichen etwas aufgeschnappt oder am wahrscheinlichsten nachts heimlich ferngesehen oder Papas Porno-Sammlung gesichtet. Natürlich sind auch Jungen von solchen Bildern schockiert und kompensieren das, indem sie vor sich und anderen ihr schockiert Sein leugnen. Wenn sie erst so hart sind, dass sie über die brutalen Bilder lachen können, können die brutalen Bilder ihnen nichts mehr anhaben. Ich bin zwar nicht psychologisch qualifiziert, aber ich glaube, das ist ein uralter Mechanismus, den jeder schon einmal bei sich selbst erfahren hat.“
Jetzt prasselte der Regen so ohrenbetäubend aufs Dach, dass ein Gespräch in Zimmerlautstärke kaum noch möglich war.
„Wie lange geht das wohl noch so?“, fragte Keller und blickte nach draußen, wo die Regentropfen in den Pfützen Blasen schlugen, Sturzbäche die Straße hinunter schossen und der Sturm an den hohen Bäumen rüttelte, als wären es dürre Gräser.
„Die halbe Nacht.“, antwortete die Jugendreferentin. „Wo müssen Sie denn heute noch hin?“
„Nach Bielefeld.“
„Davon würde ich abraten. Da können Sie sich auch genauso gut mit einer Rolex am Handgelenk in ein Elendsviertel von Rio De Janeiro setzen.“
„Oder auf eine Parkbank in Duisburg Marxloh?“
„Ja, so ungefähr.“
„Aber wenn ich im Auto schlafe, kann ich auch genauso gut hier von einem Baum erschlagen werden, und ein Hotel gibt es meines Wissens in Nordhemmern nicht.“
„Sie können hier übernachten.“
„Das geht nicht.“
„Wollen Sie lieber sterben?“
„Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Wollen Sie, dass einmal auf ihrem Grabstein steht: Er opferte sich, um niemandem zur Last zu fallen?“
„Ich will keinen Grabstein.“
„Friedwald?“
„Verbrennen und dann Seebestattung.“
„Oh, ein Romantiker.“
„Was soll denn daran romantisch sein? Man wird verfeuert, und die paar Krümel, die davon übrig bleiben, werden ins Meer geworfen wie eine Brausetablette ins Wasserglas. Man löst sich auf im Großen und Ganzen. Nagende Maden in brauner Erde und morschem Holz finde ich dagegen eklig und abstoßend.“
„Aber eigentlich ist es das Gleiche. Anstelle von Feuer zerlegen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen Sie in Ihre Bestandteile. Es dauert nur etwas länger.“
„Jedenfalls denke ich, dass ich problemlos nach Hause fahren kann.“
„Als Polizist sollten Sie doch eigentlich wissen, dass so ein Verhalten verantwortungslos ist. Sie gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch die, die sie im Falle eines nicht unwahrscheinlichen Unfalles retten müssen.“
„Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.“
„Sehen Sie. Ich koche uns jetzt Spaghetti mit irgendeiner leckeren Sauce, Sie entspannen sich bei 'nem Glas Rotwein und ich überlasse Ihnen mein Bett.“
„Nein, keinesfalls!“, protestierte Keller. „Wenn, dann schlafe ich auf dem Sofa.“
„Auf meinem heiligen Sofa? Unterstehen Sie sich, das ist mein Revier. Mögen Sie Tomaten, Olivenöl, Knoblauch und frische Kräuter?“
„Ja, sicher.“
„Und was halten Sie von einem Montepulciano D'Abbruzzo in Bioqualität?“
„Großartig.“
„Gut, dann lege ich mal los. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.“
Keller folgte der jungen Frau in die Küche. „Ich hätte mal eine ganz andere Frage, und ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber dürfte ich Ihre Dusche benutzen? Ich bin ganz klebrig von dem schwülen Wetter heute.“
„Ja, natürlich.“, antwortete Katharina Förster. „Hinter der Tür mit dem bunten Poster ist das Bad.“
„Und hätten Sie auch ein Handtuch für mich?“
„Nein, Sie müssen den Fön benutzen.“, antwortete Katharina verschmitzt.
„Den Fön?“
„Ich verleihe grundsätzlich keine Handtücher an Polizisten. - Jetzt gucken Sie mich nicht an, als hätte ich Sie zum Tode verurteilt. Frische Handtücher liegen im Regal, bedienen Sie sich einfach. Sie können auch frische Wäsche von mir haben.“
„Wie bitte?“
„T-Shirts, die Männern passen habe ich genug. Witziger-weise habe ich sogar ein Paket Herrenslips, habe ich mal aus Versehen gekauft, und gemütliche Boxer-Shorts oder Jogginghosen habe ich auch. Ich würde Ihnen auch anbieten, Ihre Kleidung zu waschen, aber ich habe keinen Trockner.“
„Das ist auch wirklich nicht nötig. Vielleicht reicht es, wenn das Zeug über Nacht lüftet.“
„Warten Sie“, sie legte das Schneidemesser, mit dem sie gerade Tomaten zerkleinerte aus der Hand und wusch sich die Hände. „Ich suche Ihnen die Sachen zusammen. Ich kann ja schlecht gleich ins Bad stiefeln, wenn Sie unter der Dusche stehen.“
Keller räusperte sich verlegen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einem Stapel sauberer Kleidung aus dem Schlafzimmer, drückte ihn Keller in die Hand und verschwand wieder in der Küche.
Das Bad war höchstens zehn Jahre alt, offensichtlich entstanden, als das Haus so umgebaut wurde, dass mehrere Parteien darin wohnen konnten. Neben einer Riesenbatterie an Kosmetika, die Keller bei dieser Frau niemals erwartet hätte, standen haufenweise schräge Deko-Artikel herum, und es hingen humoristische Postkarten an der Wand. Zum Duschen musste er in die Badewanne steigen, einen Vorhang gab es nicht, also setzte er sich. Zum Glück benutzte sie einfache Seife und kein Duschgel mit exotischem Blumenduft oder Fruchtaroma. Es war eine Wohltat, sich den öligen Film aus Staub und Schweiß herunter zu waschen und sich mit der sanften Massage des Duschstrahls die Muskeln zu lockern. Die frische Kleidung passte einigermaßen, wenn auch die Beine der Jogginghose etwas kurz waren, aber er sah nicht aus wie ein Idiot, sondern wie ein normaler Mann nach Feierabend. Seine angeschwitzte Kleidung unter dem Arm trat er wieder in die Küche. „Kann ich die Klamotten irgendwo aufhängen?“
„Im Kleiderschrank, im Schlafzimmer sind ein paar freie Bügel. Dann können Sie ihr Zeug einfach an den Schrank hängen. Wenn Sie wollen, können Sie sich das Bett selbst beziehen. Bettwäsche ist auch im Schrank.“
„Das ist nicht nötig. Ich kann doch auf Ihrem Sofa schlafen.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Dann schlafe ich in Ihrer Bettwäsche.“
„Stehen Sie auf Mädchenschweiß?“
„Und wie!“
„Na, dann viel Vergnügen.“
Keller nahm sich einen Kleiderbügel aus dem vollen Schrank und vermied es, sich neugierig darin umzusehen. Er hängte seine Sachen ordentlich auf und sah sich kurz in dem Zimmer um: Ein breites Bett mit grauer Satin-Bettwäsche stand in einer Ecke des Raums, daneben ein Hocker, der als Nachttisch diente, aber nicht ausreichte, all die Bücher, die sie offensichtlich abwechselnd vor dem Einschlafen las, zu beherbergen. Ein einfaches Holzregal voller Stoffkörbe enthielt wohl das, was an Kleidung nicht mehr in den Schrank passte. Unter der Decke prangte ein riesiges Poster mit einem Bild wie aus einem Märchenbuch, auch sonst hingen viele Reproduktionen berühmter Kunstwerke an den Wänden. Er ging wieder in die Küche.
„Das Poster über Ihrem Bett, entführt Sie das in romantische Märchenprinzessinnen-Träume?“, fragte er.
Sie reichte ihm ein Glas Wein und nahm selbst einen Schluck, dann sagte sie: „Das ist Bruchtal, das Reich Elronds, eines Elbenfürsten in der Geschichte 'Der Herr der Ringe'. Kennen Sie die Filme nicht?“
„Hat mich nie interessiert. Ich hab's nicht so mit Märchen.“
„Das ist kein Märchen. Die Romanvorlage ist Weltliteratur und gilt als Begründung des Fantasy-Genres. Allerdings geht mir der ganze Fantasy-Quatsch auch auf die Nerven, nur platte Effekthascherei. Aber Tolkien war ein Genie. Der war Wissenschaftler und hat vierzig Jahre an den Büchern gearbeitet. Die Geschichte ist absolut zeitlos, wie die Bibel.“
„Sie finden die Bibel ist zeitlos?“
„Wenn man sie nicht zu wörtlich nimmt, sich mit den Hintergründen beschäftigt und es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen, schon. - Schmeckt Ihnen der Wein?“
„Der ist ziemlich lecker.“
„Das Essen ist auch fertig. Setzen wir uns gleich hier in die Küche? Das ist zum Essen bequemer als auf der Couch.“
„Das sehe ich auch so.“
Keller hatte noch nie Spaghetti mit kalter Tomatensauce gekostet, aber es schmeckte herrlich aromatisch, die Nudeln waren bissfest, nicht zu hart und klebten nicht. Es gab knackigen, grünen Salat dazu, und der Wein war wirklich eine Wohltat. Er lobte Katharina Försters Kochkünste und half ihr anschließend beim Spülen. Der Wein entspannte ihn nicht nur, sondern regte auch seine Sinne an. Die junge Frau erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so spröde, sondern fast schon anmutig, und hin und wieder stieg ihm ein Hauch ihres Duftes in die Nase, kein Parfum, aber trotzdem frisch und natürlich. Er musste sich konzentrieren, um nicht instinktiv näher an sie heran zu rücken.
„Ich würde ja jetzt Fernsehen vorschlagen“, sagte die Jugendreferentin, „aber bei dem Inferno da draußen habe ich alles ausgestöpselt, wo der Blitz einschlagen kann. Setzen wir uns trotzdem ins Wohnzimmer? Ist irgendwie gemütlicher.“
„Meinetwegen.“, sagte Keller.
Sie nahmen den Wein mit, setzten sich beide aufs Sofa und Katharina Förster schenkte ihnen nach.
„Sie haben noch gar nicht zu Hause angerufen.“, stellte sie fest.
„Ich lebe allein.“, erklärte Keller. „Ich muss niemanden informieren.“
„Ja, das hat auch Vorteile.“, sagte Katharina. „Sie haben ja auch nicht gerade einen familienfreundlichen Beruf.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Ihre Arbeitszeiten sind doch für ein geordnetes Familienleben auch nicht gerade förderlich, oder?“
„Ich glaube, solange die Kinder klein sind, ist das eher von Vorteil. Unsereins ist ja morgens meistens zu Hause. Wenn man dann mit jemandem zusammen ist, der normale Arbeitszeiten hat und beide nicht ganz voll erwerbstätig sind, kann man sich da ganz gut abwechseln. Das Problem ist eher, jemanden kennenzulernen. Die Männer in meinem beruflichen Umfeld heiraten meistens früh und sind auch größtenteils nicht nach meinem Geschmack. Ansonsten sehe ich tagein tagaus nur Kinder und Teenager. Ich stehe auch nicht auf diese chronisch besoffenen Dorf-Vereinsmeier, und jemanden in der Disco oder Kneipe aufzureißen, gehört ebenfalls nicht zu meinen Kernkompetenzen.“
Keller grinste. Dann sagte er: „Geht mir ähnlich. Seit meiner Scheidung vor acht Jahren sehe ich nur noch zu, dass ich meine Arbeitswoche vernünftig über die Bühne bringe, und dann hänge ich zu Hause 'rum.“
„Haben Sie Kinder?“, fragte Katharina Förster.
„Einen Sohn.“, antwortete Keller. „Aber der ist schon erwachsen.“
„Haben Sie denn noch Kontakt zu ihm?“
„Selten.“
„Und was macht er so?“
„Er ist Physiotherapeut. Kommt mehr nach seiner Mutter, die ist Krankenschwester.“
„Da könnten Sie doch seinen Service häufiger in Anspruch nehmen.“
Wie meinen Sie das?“
„Massagen und so.“
„Mach ich einen verkrampften Eindruck auf Sie?“
„Nein, aber etwas angespannt wirken Sie schon. Darf ich mal?“
Vorsichtig begann die Jugendreferentin, Kellers Schultern abzutasten.“
„Was machen Sie da?“, fragte er irritiert.
„Ich fühle, ob da Verspannungen sind.“
„Und?“
„Sieht ganz so aus.“
„Haben Sie etwa auch mal als Physiotherapeutin gearbeitet?“
„Nein, aber in meinem letzten Leben war ich eine große Schamanin.“
„Wie bitte?“
„Ach nee, die Nummer zieht ja nur bei den Esoterik-Fuzzis.“ Katharina Förster kicherte. Dann sagte sie: „Ich habe selbst oft Muskelverspannungen, und im Studium hatte ich ein paar Freundinnen und Freunde, mit denen ich mich gegenseitig massiert habe. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür. So eine leicht verspannte Rückenmuskulatur kann man damit schon lockern. Könnten Sie sich etwas zur Seite drehen? Dann muss ich mich nicht so verrenken.“
Keller gehorchte, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn fallen und genoss die sanfte Knet- und Klopfmassage an seinen Schulterblättern und entlang der Wirbelsäulen-Muskulatur. Sie schien gar nicht müde zu werden, und eine Welle wohliger Schauer breitete sich von seinem Rücken über den gesamten Körper aus. Als sie irgendwann sagte: „So, jetzt kann ich nicht mehr.“ und wieder zum Weinglas griff, bedankte er sich und sagte: „Nachdem Sie so ausdauernd meine Muskeln gelockert haben, müsste ich mich eigentlich revanchieren. Ich bin aber nicht sicher, ob ich das kann.“
„Da kann man nicht viel falsch machen.“, erklärte sie. „Sie dürfen nur nicht direkt auf der Wirbelsäule herum drücken, aber die Muskelstränge, auch die über den Rippen, kann man nach Herzenslust bearbeiten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ die schulterlangen Haare nach vorn hängen. „Nur zu, trauen Sie sich. Ich schreie schon rechtzeitig, wenn's weh tut.“
Er begann vorsichtig, mit den Fingerspitzen ihre Schulterblätter zu kneten und fuhr dann mit den Daumen rechts und links der Wirbelsäule entlang. Die restlichen Finger glitten dabei sanft über ihre Seiten und er bemerkte, wie sie kurz den Atem anhielt. Er hielt inne. „Hab' ich was falsch gemacht?“
„Nein, nein, alles gut.“
Er setzte die Massage fort und beobachtete das heftige Pochen ihrer Halsschlagader. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihre Haut war glatt und weich und roch nach unverbrauchter Jugend und das, was er mit den Händen ertastete, fühlte sich fest und wohlgeformt an. Seine Schläfen schienen plötzlich im gleichen Rhythmus zu pochen wie ihre Halsschlagader. Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten? Und diese hier erschien ihm so sanft und hingebungsvoll. Die gezielten Massagegriffe waren längst in zärtliches Streicheln übergegangen, und sie wich ihm nicht aus, sondern lehnte sich, im Gegenteil, zurück und schmiegte sich in seine Arme. Er begann vorsichtig, ihren Hals zu küssen und über ihre Brüste zu streicheln.
Nachher wusste er nicht einmal mehr, wie sie ins Schlafzimmer gelangt waren und wie und wo sie sich unterwegs ihrer Kleidung entledigt hatten. Er erinnerte sich dunkel an einen Wortwechsel über Empfängnis-Verhütung und AIDS-Prävention, und sie hatten beides verworfen, weil sie beteuerte, sich in einer unfruchtbaren Phase zu befinden und beide seit vielen Jahren keinen Sexualpartner gehabt hatten und auch nie promiskuitiv gewesen waren. Auf einmal hatte das Leben einen neuen Glanz und entzückt warf er einen Blick auf die schlafende Elfe, in deren Bett er lag, bevor er sich auf die Seite rollte und in einen tiefen traumlosen Schlaf sank.

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