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Samstag, 22. April 2017
Fünfzehn Siebzehn - Kurzkrimi zum Spekulieren - 1. Teil
c. fabry, 21:23h
Sabine Kerkenbrock fühlte sich wie die Protagonistin eines klischeehaften englischen Krimis, als sie an den Tatort tief im Teutoburger Wald gelangte. Die Klosterruine zwischen alten Buchen und stinkendem Bärlauch war schaurig genug – auch ohne Ketchup und Majo. Der Anblick war zutiefst erschütternd und ließ sofort an das Werk eines Irren denken – oder an eine Gruppe von Menschen in blinder Wut.
Der Tote – ein durchschnittlich schlanker Mann mittleren Alters - war halb sitzend, halb liegend an eine Mauer gelehnt, übersät mit unzähligen, blutenden Wunden und besprenkelt mit schwarzer oder zumindest tiefdunkler Farbe. Überall lagen Scherben herum, aber auch weitestgehend unbeschädigte, handliche kleine Gläser, die als Wurfgeschosse gedient hatten. Es handelte sich um Tintenfässer, manche waren noch gefüllt. Im Baum hing eine individuell gefertigte Hakenkreuzfahne, die mit Sprühfarbe auf Baumwollstoff gemalt worden war. Um den Hals der Leiche war ein Schal drapiert worden, der ebenfalls von Hand beschriftet worden war mit den Worten: "Luthers späte Rache: 95 Thesen - 95 Anschläge".
„Erscheint wie eine Steinigung, Entschuldigung, wie eine Tintenfassigung“, erklärte die Pathologin Konstanze Flegel. „Es sieht nach mehreren Tätern aus, die das Opfer aus verschiedenen Richtungen und Abständen mit Tintenfässern beworfen haben, wie der akut psychotische Luther die Wand in seinem Studierzimmer, an der er den Teufel zu sehen glaubte. Krasse Symbolik. Gestorben ist der Mann aber vermutlich schon vor dem Bombardement, denn ihm wurde mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen und die darauf folgenden zerebralen Blutungen dürften den Exitus herbei geführt haben. Hier liegt ein dicker Ast, der sich hervorragend als steinzeitliche Keule eignet und es befinden sich Spuren von Blut daran. Den nehmen wir mit.“
Die Identität des Toten war schnell geklärt: Thorben Münter, evangelischer Theologe und Pfarrer in Bielefeld Gadderbaum. Seine Familie musste informiert werden und Sabine Kerkenbrock war nicht glücklich über die Tatsache, dass ihr Vorgesetzter Stefan Keller erst morgen aus dem Urlaub zurückkehrte. Sie musste die Unheilsbotschaft allein überbringen.
Münters Frau war am Boden zerstört und vollkommen gesprächsunfähig. Seine Kollegin Susanne Korte konnte dagegen hilfreiche Informationen liefern: „Thorben war immer auch politisch engagiert.“, sagte sie. „Er war aktiv im Bündnis gegen Rechts „Bielefeld stellt sich quer“ und war auch dafür bekannt. Seine Predigten waren oft klare, politische Statements, das wurde nicht überall gern gehört. Er provozierte gern und konfrontierte die Heile-Welt-Christen mit ihrer eigenen Betriebs-Blindheit. Damit hat er sich viele Feinde gemacht. Dass allerdings jemand so weit gehen würde, ihn zu ermorden, damit hat wirklich niemand gerechnet, am allerwenigsten wohl er selbst.“
„Sie halten es demnach für wahrscheinlich, dass er einem Angriff von Rechtsradikalen zum Opfer fiel?“
„Natürlich. Er war einer der führenden Aktivisten in der antifaschistischen Bewegung. Er stand mit seinem Namen dafür. Sie hatten ihn sicher schon länger auf der schwarzen Liste.“
„Haben Neonazis denn einen Bezug zu Luther?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Es gab da Hinweise am Tatort. Und? Ist Luther ein Nazi-Idol?“
„So weit würde ich nicht gehen in meinen Behauptungen.“, erwiderte Susanne Korte. „Aber Luther ist dafür bekannt, dass er antisemitische Schriften verfasst hat und auch, dass er dazu aufgerufen hat, geistig behinderte Kinder zu töten, weil sie Wechselbälger des Satans seien. Es gibt eine Menge Nazis, die in ihm eine Art Vordenker sehen und noch mehr, die ihn einfach gern vor ihren politischen Karren spannen. Da sind sie dann gern schon einmal lutherischer als der evangelisch-lutherische Theologe.“
„Moment.“, hakte Kerkenbrock nach. „Luther war Antisemit und Begründer der Behinderten-Euthanasie im Dritten Reich und evangelische Kirchengemeinden benennen sich heute noch nach ihm?“
„Na ja.“, rechtfertigte Susanne Korte ihren Anstellungsträger und ihre Religionsgemeinschaft. „Wir gründen unser bürgerliches Gesetzbuch ja auch auf dem römischen Recht und welche Absonderlichkeiten vom römischen Reich ausgegangen sind, muss ich Ihnen sicher nicht erzählen. Es gibt auch sicher haufenweise Freudianer, die Sigmund Freud umgehend aus ihrer WG geworfen hätten und Marxistinnen, die sich umgehend von Karl Marx hätten scheiden lassen, wenn sie ihn überhaupt geheiratet hätten. Lutherische Kirchen stehen für die reformatorischen Gedanken, nicht für Antisemitismus, Obrigkeitshörigkeit und mittelalterliche Angst vor Hexen und Zauberern.“
„Hat Pfarrer Münter sich denn auch öffentlich kritisch mit der Person Martin Luthers auseinandergesetzt?“
„Gelegentlich.“, erwiderte Susanne Korte. „Auf jeden Fall wollte er einen Infostand zu den dunklen Kapiteln in Luthers Biographie betreiben. Unser Kirchenkreis plant im Asapheum in Bethel ein großes Reformationsfest am 31. Oktober zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg. Thorben ging die Glorifizierung und Beweihräucherung dieses zweifelhaften Menschen gegen den Strich. Er wollte dem etwas entgegensetzen.“
„Was genau hatte er da geplant?“
„Keine Ahnung. Da müssen Sie Philipp Schwartz fragen, der organisiert die Veranstaltung. Er ist Pfarrer in der Neustädter Marienkirche.“
Kerkenbrock bedankte sich und fuhr zurück ins Präsidium. Bevor sie weiter Klinken putzen ging, wollte sie bei der KTU und der Gerichtsmedizin vorbei schauen. Vielleicht gab es schon neue Erkenntnisse.
Die Hakenkreuzfahne war auf höchst dilettantische Weise hergestellt worden. Die Experten erklärten, dass dies ein Hinweis darauf war, dass die Täter höchstwahrscheinlich nicht der rechten Szene zuzuordnen waren, denn richtige Nazis verwendeten richtige Fahnen und dumme Jugendliche, die so etwas selbst basteln mussten, hatten keine Ahnung von Luthers antisemitistischer Gesinnung, hatten vielleicht einmal etwas von 95 Thesen gehört und im besten Fall mitbekommen, dass die Reformation sich 2017 zum 500. Mal jährte, wären aber niemals auf das Wortspiel "95 Thesen – 95 Anschläge" gekommen, das in seiner Doppeldeutigkeit sowohl auf den Thesenanschlag als auch auf einen Anschlag im Sinne eines Gewaltverbrechens hinwies. Offenkundig hat der Täter oder hatten die Täter versucht, von den wahren Motiven abzulenken.
Es waren höchstwahrscheinlich exakt 95 Tintenfässer auf den Toten geschleudert worden.
Was die Todesursache betraf, hatte Konstanze sich nicht getäuscht. Der Pfarrer war mit einem dicken Ast bewusstlos geschlagen worden und zwar mit einer solchen Wucht, dass die darauf folgenden Blutungen sein Gehirn zerstört hatten. Die durch die Würfe mit Tintenfässern verursachten Hämatome wären allenfalls unangenehm, aber niemals tödlich gewesen.
Weil es schon spät war und sie Philipp Schwartz nicht erreichen konnte, verschob sie die weiteren Ermittlungen auf den nächsten Tag, an dem sie sich mit Stefan Keller beraten konnte.
Was ist hier passiert? Wer war das? Und warum? Über wilde Spekulationen würde ich mich mal wieder außerordentlich freuen, obwohl mir selbst das Ende der Geschichte natürlich schon bekannt ist :-)
Der Tote – ein durchschnittlich schlanker Mann mittleren Alters - war halb sitzend, halb liegend an eine Mauer gelehnt, übersät mit unzähligen, blutenden Wunden und besprenkelt mit schwarzer oder zumindest tiefdunkler Farbe. Überall lagen Scherben herum, aber auch weitestgehend unbeschädigte, handliche kleine Gläser, die als Wurfgeschosse gedient hatten. Es handelte sich um Tintenfässer, manche waren noch gefüllt. Im Baum hing eine individuell gefertigte Hakenkreuzfahne, die mit Sprühfarbe auf Baumwollstoff gemalt worden war. Um den Hals der Leiche war ein Schal drapiert worden, der ebenfalls von Hand beschriftet worden war mit den Worten: "Luthers späte Rache: 95 Thesen - 95 Anschläge".
„Erscheint wie eine Steinigung, Entschuldigung, wie eine Tintenfassigung“, erklärte die Pathologin Konstanze Flegel. „Es sieht nach mehreren Tätern aus, die das Opfer aus verschiedenen Richtungen und Abständen mit Tintenfässern beworfen haben, wie der akut psychotische Luther die Wand in seinem Studierzimmer, an der er den Teufel zu sehen glaubte. Krasse Symbolik. Gestorben ist der Mann aber vermutlich schon vor dem Bombardement, denn ihm wurde mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen und die darauf folgenden zerebralen Blutungen dürften den Exitus herbei geführt haben. Hier liegt ein dicker Ast, der sich hervorragend als steinzeitliche Keule eignet und es befinden sich Spuren von Blut daran. Den nehmen wir mit.“
Die Identität des Toten war schnell geklärt: Thorben Münter, evangelischer Theologe und Pfarrer in Bielefeld Gadderbaum. Seine Familie musste informiert werden und Sabine Kerkenbrock war nicht glücklich über die Tatsache, dass ihr Vorgesetzter Stefan Keller erst morgen aus dem Urlaub zurückkehrte. Sie musste die Unheilsbotschaft allein überbringen.
Münters Frau war am Boden zerstört und vollkommen gesprächsunfähig. Seine Kollegin Susanne Korte konnte dagegen hilfreiche Informationen liefern: „Thorben war immer auch politisch engagiert.“, sagte sie. „Er war aktiv im Bündnis gegen Rechts „Bielefeld stellt sich quer“ und war auch dafür bekannt. Seine Predigten waren oft klare, politische Statements, das wurde nicht überall gern gehört. Er provozierte gern und konfrontierte die Heile-Welt-Christen mit ihrer eigenen Betriebs-Blindheit. Damit hat er sich viele Feinde gemacht. Dass allerdings jemand so weit gehen würde, ihn zu ermorden, damit hat wirklich niemand gerechnet, am allerwenigsten wohl er selbst.“
„Sie halten es demnach für wahrscheinlich, dass er einem Angriff von Rechtsradikalen zum Opfer fiel?“
„Natürlich. Er war einer der führenden Aktivisten in der antifaschistischen Bewegung. Er stand mit seinem Namen dafür. Sie hatten ihn sicher schon länger auf der schwarzen Liste.“
„Haben Neonazis denn einen Bezug zu Luther?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Es gab da Hinweise am Tatort. Und? Ist Luther ein Nazi-Idol?“
„So weit würde ich nicht gehen in meinen Behauptungen.“, erwiderte Susanne Korte. „Aber Luther ist dafür bekannt, dass er antisemitische Schriften verfasst hat und auch, dass er dazu aufgerufen hat, geistig behinderte Kinder zu töten, weil sie Wechselbälger des Satans seien. Es gibt eine Menge Nazis, die in ihm eine Art Vordenker sehen und noch mehr, die ihn einfach gern vor ihren politischen Karren spannen. Da sind sie dann gern schon einmal lutherischer als der evangelisch-lutherische Theologe.“
„Moment.“, hakte Kerkenbrock nach. „Luther war Antisemit und Begründer der Behinderten-Euthanasie im Dritten Reich und evangelische Kirchengemeinden benennen sich heute noch nach ihm?“
„Na ja.“, rechtfertigte Susanne Korte ihren Anstellungsträger und ihre Religionsgemeinschaft. „Wir gründen unser bürgerliches Gesetzbuch ja auch auf dem römischen Recht und welche Absonderlichkeiten vom römischen Reich ausgegangen sind, muss ich Ihnen sicher nicht erzählen. Es gibt auch sicher haufenweise Freudianer, die Sigmund Freud umgehend aus ihrer WG geworfen hätten und Marxistinnen, die sich umgehend von Karl Marx hätten scheiden lassen, wenn sie ihn überhaupt geheiratet hätten. Lutherische Kirchen stehen für die reformatorischen Gedanken, nicht für Antisemitismus, Obrigkeitshörigkeit und mittelalterliche Angst vor Hexen und Zauberern.“
„Hat Pfarrer Münter sich denn auch öffentlich kritisch mit der Person Martin Luthers auseinandergesetzt?“
„Gelegentlich.“, erwiderte Susanne Korte. „Auf jeden Fall wollte er einen Infostand zu den dunklen Kapiteln in Luthers Biographie betreiben. Unser Kirchenkreis plant im Asapheum in Bethel ein großes Reformationsfest am 31. Oktober zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags in Wittenberg. Thorben ging die Glorifizierung und Beweihräucherung dieses zweifelhaften Menschen gegen den Strich. Er wollte dem etwas entgegensetzen.“
„Was genau hatte er da geplant?“
„Keine Ahnung. Da müssen Sie Philipp Schwartz fragen, der organisiert die Veranstaltung. Er ist Pfarrer in der Neustädter Marienkirche.“
Kerkenbrock bedankte sich und fuhr zurück ins Präsidium. Bevor sie weiter Klinken putzen ging, wollte sie bei der KTU und der Gerichtsmedizin vorbei schauen. Vielleicht gab es schon neue Erkenntnisse.
Die Hakenkreuzfahne war auf höchst dilettantische Weise hergestellt worden. Die Experten erklärten, dass dies ein Hinweis darauf war, dass die Täter höchstwahrscheinlich nicht der rechten Szene zuzuordnen waren, denn richtige Nazis verwendeten richtige Fahnen und dumme Jugendliche, die so etwas selbst basteln mussten, hatten keine Ahnung von Luthers antisemitistischer Gesinnung, hatten vielleicht einmal etwas von 95 Thesen gehört und im besten Fall mitbekommen, dass die Reformation sich 2017 zum 500. Mal jährte, wären aber niemals auf das Wortspiel "95 Thesen – 95 Anschläge" gekommen, das in seiner Doppeldeutigkeit sowohl auf den Thesenanschlag als auch auf einen Anschlag im Sinne eines Gewaltverbrechens hinwies. Offenkundig hat der Täter oder hatten die Täter versucht, von den wahren Motiven abzulenken.
Es waren höchstwahrscheinlich exakt 95 Tintenfässer auf den Toten geschleudert worden.
Was die Todesursache betraf, hatte Konstanze sich nicht getäuscht. Der Pfarrer war mit einem dicken Ast bewusstlos geschlagen worden und zwar mit einer solchen Wucht, dass die darauf folgenden Blutungen sein Gehirn zerstört hatten. Die durch die Würfe mit Tintenfässern verursachten Hämatome wären allenfalls unangenehm, aber niemals tödlich gewesen.
Weil es schon spät war und sie Philipp Schwartz nicht erreichen konnte, verschob sie die weiteren Ermittlungen auf den nächsten Tag, an dem sie sich mit Stefan Keller beraten konnte.
Was ist hier passiert? Wer war das? Und warum? Über wilde Spekulationen würde ich mich mal wieder außerordentlich freuen, obwohl mir selbst das Ende der Geschichte natürlich schon bekannt ist :-)
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