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Freitag, 31. März 2017
Ketzerkoketterie
c. fabry, 00:03h
Angewidert stieg Keller in sein Auto. Für wen hielt dieser blasierte Theologe sich eigentlich? Einer seiner Konfirmanden hatte sich das Leben genommen, weil er an Depressionen litt. In seinem Abschiedsbrief hatte es geheißen:
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
„Ich habe lange gehofft, dass irgendwann doch noch etwas aus mir wird, aber als sogar Pastor Mendel gesagt hat, dass er sich fragt, ob Leute, die ihren Konfi-Kalender verlieren, überhaupt noch irgendwas geregelt kriegen, da ist es mir klar geworden. Ich schaffe mein Leben einfach nicht. Und ich will auch niemandem mehr zur Last fallen.“
Nicht die Spur von Schuldbewusstsein oder wenigstens Selbstkritik war in der Miene des Pfarrers aufgetaucht. Er schien sich statt dessen in seiner Einschätzung bestätigt zu fühlen. Wie konnte jemand das Christsein zu seinem Beruf machen und dann derartig verantwortungslos in den Seelen Heranwachsender herumholzen?
Im Gemeindehaus ging die Dienstbesprechung weiter. Regina Führmann sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie eine Beerdigung. Ja ganz genau, liebe Leser, die Beisetzung des verstorbenen Konfirmanden. Jakob Ebeling. Und während sie auf heißen Kohlen saß, stahl Reinhard Mendel ihr die Zeit mit Nebensächlichkeiten des Gemeindealltags.
„Hältst du dich nächsten Sonntag eigentlich an den Predigttext?“, fragte er seine Kollegin.
„Natürlich.“, antwortete Regina. „Warum fragst du?“
„Ach, wir haben beim Bibelkreis gestern sehr angeregt diskutiert. Es ging ziemlich ketzerisch zu.“ Er versuchte gewinnend zu lachen, doch sein Gekicher klang irgendwie unstimmig und ein bisschen irrsinnig. „Günther meinte, das Heiligen des Feiertages, könne man auch dahingehend interpretieren, dass man einfach die Füße hochlegen soll und nicht zwingend den Gottesdienst besuchen muss.“
„Was soll denn daran ketzerisch sein?“, fragte die Pfarrerin, „Das Füße Hochlegen ist doch der Sinn des Sonntags. In den zehn Geboten steht nicht: Du sollst den Feiertag heiligen, indem du zwischen zehn und elf Uhr eine umfangreiche Liturgie abspulst in deren Rahmen du zwanzig Minuten zum vorgesehenen Bibeltext predigst.“
„Aber Regina!“, echauffierte sich der Kollege. „Wenn du das am Sonntag von der Kanzel verkündest, kreuzigen dich unsere Hardliner. Ich finde den Gedanken ja auch interessant, aber ich würde das nie öffentlich äußern.“
„Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, ich muss los, habe gleich eine Beerdigung.“
„Ach ja, der Jakob.“, seufzte Reinhard Mendel. „Das ist ja tragisch, ich wäre eigentlich gern dahin gegangen, normalerweise hätte ich ihn ja auch beerdigt, aber die Eltern haben deutlich erklärt, dass sie mich nicht dabei haben wollen. Eine Unverschämtheit.“
Regina musste sich auf die Zunge beißen, um nicht eine Bemerkung entschlüpfen zu lassen, aus der ihr vollstes Verständnis für die Eltern gesprochen hätte. Sie hatte den Abschiedsbrief selbst in der Hand gehalten. Mit dunkelgrüner Tinte hatte Jakob seine anklagenden letzten Worte auf mintfarbenem Papier festgehalten, in seiner krakeligen Jungenschrift.
Es war die schlimmste Trauerfeier ihres Lebens. Ein Kind, das den Lebensmut verloren hatte, welch eine Verschwendung. Die gebrochenen Eltern, die fassungslosen Freunde, die vielen Menschen am Grab des Jugendlichen. Sie hatte Mühe, nicht selbst in Tränen auszubrechen.
Hinterher legte sie sich in die Badewanne, um den Kopf frei zu kriegen. Sie hatte für heute alle anderen Termine abgesagt. Als sie endlich am Schreibtisch saß und über ihrer Predigt brütete, sehnte sie sich nach Urlaub. Endlich mal wieder einen arbeitsfreien Sonntag erleben. Sie griff nach der hübschen Kladde, in die sie regelmäßig ihre Gedichte schrieb, vielleicht würde sich daraus irgendwann einmal etwas machen lassen. Sie schlug eine neue Seite auf und schrieb hinein:
Sonntag
ausschlafen
Maus gucken
Brötchen zum Frühstück
stricken
Sonntagsmärchen
spazieren gehen
auf der Sonnenterrasse rumliegen
Verkehrsberuhigung
lesen
telefonieren
Kuchen am Nachmittag
vögeln
Tatort gucken
Midsomer Murders
Halleluja!
Schon bezeichnend, dass der Gottesdienst darin nicht vorkam. Schade, dass sie das nicht in ihrer Predigt würde vorlesen können. Sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie es täte und musste schmunzeln. So vieles, was sich eigentlich hätte ändern müssen, blieb wie es war, weil die Starrsinnigen auf die Bremse traten. Sie hatten Angst, dass sich etwas ändern könnte und sie sich plötzlich in einer Kirche wiederfänden, zu der sie nicht mehr dazu gehörten. Am schlimmsten waren die, die sich für die kritischsten Geister hielten, aber sich selbst und anderen lauter Denkverbote auferlegten. Reinhard Mendel kokettierte mit seinem angeblichen Ketzertum. Wenn der gewusst hätte, für was sie stand, wäre ihm die Spucke weggeblieben.
Sie holte die Post herein. Lennart Behneke hatte ihr eine Ausarbeitung zu seinem Konfirmationsspruch in den Briefkasten gelegt. Sie hatte vorgeschlagen, sich seine Gedanken einmal durchzulesen und gegebenenfalls mit ihrem Kollegen zu reden, der Lennart vorgeworfen hatte, seine Hausaufgabe nicht ordentlich gemacht zu haben. Sie fand es schon unsäglich, Konfirmanden überhaupt mit Hausaufgaben zu behelligen, dann aber ein „Ungenügend“ auszusprechen, war der Gipfel der Anmaßung. Als sie den Zettel in der Hand hielt, lief ihr ein Schauer über den Rücken: es war eine krakelige Jungenschrift in dunkelgrüner Tinte auf mintgrünem Papier.
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