Freitag, 3. März 2017
Die zweite Posaune - abgeschlossener Kurzkrimi
- Was habe ich mit da nur eingebrockt? Ich wollte doch nur den Verein retten, damit unsere Jugendarbeit nicht untergeht, hab diesen Posten doch nur übernommen, weil es sonst keiner wollte und jetzt stehe ich hier und muss repräsentieren, allein unter Rentnern. Na ja, die beiden da vorne sind wohl gerade noch so in den Vierzigern. Und das brave Mädchen und der noch bravere Junge machen ja auch mit. Aber die habe ich auch nie bei TEN SING gesehen. Nicht mal in der Jungschar. Wo bleibt nur Louis? Hoffentlich vergisst der nicht, die Scheiß Urkunde mitzubringen, sonst bin ich gleich voll am Arsch. -
Zur gleichen Zeit in einem anderen Kopf:
- WAS MACHT DENN DAS MÄDCHEN HEUTE ABEND HIER? ACH JA, DIE IST JA DIE NEUE VORSITZENDE. WIE HEIßT DIE NOCH MAL? ICH MUSS DOCH WENIGESTENS IHREN NAMEN WISSEN, WENN ICH IHRE HAND SCHÜTTELE. HÄTTE ICH GAR NICHT GEDACHT, DASS DIE JUNGEN LEUTE DAS SO WEITERMACHEN. ABER DAS SIND EBEN CVJM-LEUTE. BLUMEN HAT SIE JA NICHT DABEI: ABER VIELLEICHT KOMMT GABI JA MIT DEN BLUMEN. -

- Ein Glück, da kommt ja Louis. Mit Urkunde. Super. Ich frage mich nur, wann wir anfangen. Wieso sitzen die hier alle im Kreis und pusten ihre Hörner durch? Ich denke, es soll 'ne Feier geben. Wie lange wollen die denn spielen? Ich muss doch in einer halben Stunde weg. -

Lena öffnet den Mund: „Du, Jörg, wann fangt Ihr denn mit der Ehrung an? Ich kann nämlich nur bis in einer halben Stunde, dann muss ich zum nächsten Termin.“

„Ach so.“, erwidert der Chorleiter. „Also wir proben jetzt erst eineinhalb Stunden und danach findet dann der Empfang statt.“

„Wir wollen Hans Nolting doch eine Urkunde überreichen und auch kurz was dazu sagen. Aber wir müssen gleich wieder weg. Ich hab'n privaten Termin und Louis muss gleich noch arbeiten. Gabi muss auch noch zu einer Sitzung.“

„Dann macht das doch jetzt sofort, sozusagen als Startschuss für die Chorprobe.“

„Ja ist okay. - Könnt Ihr mal bitte alle kurz zuhören?“
Ein in seinen Reaktionen verzögerter Bläser pustet immer noch sein Waldhorn durch.

„Jetzt gib doch mal Ruhe Willi!“, schimpft Walter, die ehemalige Tuba. Walter sitzt ohne Instrument da. Er kann nicht mehr blasen. Die Zähne.

- UND DER ERSTE ENGEL STIEß IN DIE POSAUNE UND ES ENTSTAND HAGEL UND FEUER. GLEICH BEKOMME ICH ENDLICH DEN APPLAUS, DEN ICH VERDIENE. -

Lena hebt den Blick, strafft die Schultern und erklärt: „Für alle, die mich nicht kennen, ich bin die Lena und seit September die neue Vorsitzende des CVJM und der Louis hier neben mir, ist der zweite Vorsitzende. Wir haben von dem 70-jährigen Jubiläum heute gehört und beim Westbund angefragt, wie es mit einer Ehren-Nadel aussieht, aber da ist nichts vorgesehen. Uns ist es aber eine Herzensangelegenheit, einem langjährigen, verdienten Mitglied für 70 Jahre Mitwirkung im Posaunenchor eine Urkunde für die Ehrenmitgliedschaft zu überreichen. Lieber Hans Nolting, herzlichen Glückwunsch, bleib gesund und dem Chor weitere 70 Jahre erhalten!“

Gelächter brandete auf, gefolgt von Applaus und die drei Vertreter des Vereins defilierten am Jubilar Hans Nolting vorbei, der die Glückwünsche mit Tränen der Rührung in den Augen entgegennahm, auch wenn er sich über einen etwas würdigeren Rahmen gefreut hätte. Doch das war eben die übernächste Generation, mehr konnte man da wohl nicht erwarten.

„Ja, dann verabschieden wir uns. Feiert noch schön, wir hätten gern mitgefeiert, aber wir müssen alle noch zu einem anderen Termin.“

- Wie gut, dass ich das hinter mir hab'. Ich kann so was nicht. Das ist echt nicht meine Welt! -

Lena verlässt gefolgt von Louis und Gabi den Raum. Kaum hat Gabi die Tür hinter sich geschlossen, dringt ein verstörendes Geräusch durch die Trennwand.

„Was ist denn jetzt los?“, fragt Gabi alarmiert. Alle drei bleiben stehen und spitzen die Ohren. Sie öffnet die Tür erneut, Louis hat schon das Smartphone im Anschlag, irgendetwas sagt ihm, dass er vielleicht gleich einen Notruf absetzen muss.

- UND DER ZWEITE ENGEL STIEß IN DIE POSAUNE UND ES WURDE ETWAS WIE EIN GROßER, GLÜHENDER BERG INS MEER GEWEORFEN UND DER DRITTE TEIL DES MEERES WURDE ZU BLUT... SO STEHT ES JA IN DER OFFENBARUNG IM ACHTEN KAPITEL. ABER WAR ES JETZT DER FÜNFTE ODER DER ACHTE VERS? -

Unter Hans Nolting breitete sich eine tiefrote Lache aus. Ein Messer mit langer scharfer Klinge steckte in seinem Rücken. Damit sollte eigentlich der Butterkuchen geschnitten werden, den es nach den pikanten Häppchen zum Nachtisch geben sollte. Jetzt dachten die ersten schon an Beerdigungskuchen.

- NA ALSO. MAN MUSS EBEN WAS TUN, DAMIT MAN NICHT UNTERGEHT. ICH BIN 70 JAHRE MITARBEITER UND NICHT NUR ALS AKTIVES CHORMITLGLIED! ABER JETZT SIND SIE JA ZURÜCKGEKOMMEN. -

Entsetzt starren alle auf das Blut an Walters linker Hand. Alle wissen, dass Walter Linkshänder ist und dass er eben noch an Hansis rechter Seite saß. Und dass er direkt vor dem Servierwagen saß, auf dem der Kuchen steht, auf dem das Messer lag, das jetzt in Hansis Rücken steckt.

„Walter!“, keucht Willi. „Was hast du gemacht? Und warum?“

Die Ausdruckslosigkeit in Walters vom Leben zerfurchten und erschlafften Gesicht hat eine
verstörende Wirkung auf alle Anwesenden. Louis überprüft die Vitalfunktionen des Opfers, gleich mehrere Chormitglieder haben einen Notruf abgesetzt. Wie gelähmt warten alle auf den Rettungsdienst – und die Polizei.

Willi geht auf Walter los und baut sich vor ihm auf. Dann packt er seinen Chorbruder an den Schultern. „Warum hast du das gemacht, Walter?“, schreit er. „Jetzt rede!“

Walter atmet tief ein, so als müsste er innerlich in den Keller gehen und die alten Geschichten aus dem Regal holen, die da schon viel zu lange lagern und die viel zu viel Gewicht haben für seine alten Knochen.

„Ich habe heute Jubiläum. Ich bin nun 1946 Jahre Mitarbeiter. Siebzig ging es in der Jungschar für mich los. Ich habe Kanones gehalten und Bibelstunden eingeübt. Bei Egon Harsch bin ich durch die harte Schule gegangen, die einen gestandenen Mitarbeiter aus mir gemacht hat.“
Walter blickt abfällig auf den blutenden Hans.
„Der da hat immer nur aufgeblasen. Immer nur Zugposaune. Und sonst immer in allen Vereinen rumgesprungen und hat sich immer mit seiner Landwirtschaft rausgeredet. Und jetzt kriegt der meine Urkunde. Wo gibt’s denn sowas?“

- Ich hab' noch nie so einen leeren Blick gesehen. Man glaubt direkt, die Löcher im Gehirn zu erkennen. Wie ein Schweizer Käse. Hoffentlich werde ich niemals genauso. Und hoffentlich kommt hier gleich mal ein Krankenwagen. Und die Polizei. Ich will nach Hause. Wo bin ich hier nur gelandet? Was habe ich mir nur dabei gedacht? -

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