Samstag, 4. März 2023
Zu viel ist zu viel
Es war ein Bild des Grauens. Der Brustkorb war eingedrückt, aus dem eigentlich schlanken Bauch traten kuppelartige Schwellungen hervor, das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit deformiert und blutverschmiert.
"Ina sagte immer, der sieht aus wie Lord Voldemort mit Nase.", erklärte die verstörte Frau, die scheinbar teilnahmslos auf der Treppe saß. "Jetzt sieht man, wer er ist. So ohne Nase."
Kommissarin Kerkenbrock lief es kalt den Rücken herunter. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Geschichten ihnen die mutmaßliche Mörderin offenbaren würde, wenn sie erst einmal zu einer Aussage in der Lage war.

Dann kam es ganz anders. Als Frauke Loose den Schock überwunden hatte und ihr Gedächtnis wieder einwandfrei funktionierte, legte sie ein umfassendes Geständnis ab:

"Ich habe ihn nicht gehasst. Er hat nur den Tropfen geliefert, der das Fass zum Überlaufen brachte. In letzter Zeit landen alle Arbeitsaufträge bei mir. Alle Kleinigkeiten, Unannehmlichkeiten, alle schwer zu lösenden Probleme: Ob es sich nun um Entsorgung überflüssiger Gegenstände, anstrengende Gespräche oder diffizile Verwendungsnachweise handelt. Er wollte mir für den nächsten Monat seine Konfis aufdrücken, weil er sich kurzfristig zwei Wochen Bildungsurlaub und zwei Wochen Jahresurlaub gönnen wollte. Er nahm nie jemandem etwas ab, drückte sich vor jedweder Verantwortung und wälzte alles, was möglich war, auf andere ab. Als er anfing, mich zu erpressen, weil ich ihm erklärte, dass ich jetzt nicht auch noch seine Konfirmandenarbeit mitmachen könne, indem er in Aussicht stellte, er könne dem Presbyterium einmal stecken, wie häufig im Jugendbereich Geräte auf Standby liefen, Wasserkocher eingestöpselt, Heizkörper nicht herunter geregelt und Fenster geöffnet waren, ist es einfach über mich gekommen. Da war diese Wut, die hat mich überflossen wie heißer Schlamm. Da habe ich ihn umgehauen, getreten, bin auf ihm herumgesprungen, bis er keinen Mucks mehr von sich gab. Es ging nicht mehr anders. Was zu viel ist, ist zu viel."

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Freitag, 24. Februar 2023
Vertuschung - ein Vierteiler - Teil 4
Roswitha Benecke hatte alles richtig gemacht. Sie hatte als erstes die Pfarrerin, ihre direkte Dienstvorgesetzte eingeschaltet. Denn Lydia Mertens, die an Bernhard Godewigs Bibliodrama-Wochenende teilgenommen hatte, war völlig aufgelöst im Gemeindebüro aufgeschlagen, hatte Rotz und Wasser geheult und unter reißenden Schluchzern gestammelt, was ihr widerfahren war:
Bernhard Godewig, seines Zeichens Mitglied des Presbyteriums, Synodaler auf Kirchenkreis-Ebene und ehrenamtlicher, zertifizierter Anbieter von Bibliodrama-Veranstaltungen, war zu weit gegangen.

(Als Bibliodrama bezeichnet man eine kreativ-darstellenden Zugangsweise zu biblischen Texten und gleichzeitig zur eigenen Persönlichkeit. Die Teilnehmenden übernehmen Rollen aus dem vorgegebenen Text und agieren diese in improvisierendem Spiel in einer Gruppe aus.)

Um die Salbung zu Bethanien war es gegangen. Lydia hatte die Maria von Bethanien gespielt, Godewig Jesus und als sie seine Füße ölte, hatte er sie aufgefordert, deutlicher zu liebkosen. „Du bist ganz Hingabe.“, hatte er mit bebender Stimme auf sie eingeredet. „Deine Liebe ist ganzheitlich, allumfassend und uferlos. Die Füße sind erst der Anfang. Sei zärtlich, leidenschaftlich, überwinde alle Grenzen zwischen dir und deinem Meister.“
Lydia hatte sich nicht entziehen können, war gefangen gewesen in den traumatischen Erinnerungen ihrer Kindheit, hatte den Lustgreis bedient, wie er es verlangte, ohnmächtig und starr vor Angst.
Und sie war nicht die erste.

Zwei Tage zuvor hatte ihr eine andere Teilnehmerin im Treppenhaus erzählt, dass Godewig hinter sie getreten war, um „durch ihren Körper zu sprechen“, damit sie „leichter in die Rolle gleiten“ könne. Sie hatte deutlich seine Genitalien an ihrem Gesäß gespürt. Eine andere hatte angerufen und sich vom nächsten Kurs abgemeldet, weil sie die bohrenden Blicke des Kursleiters nicht länger ertrug.

Das waren die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatten, denn Roswitha litt bereits seit Jahren unter den sexualisierten Kapriolen des Provinzpaschas mit informeller Macht. Gern kam er vormittags ins Gemeindebüro, wenn sie gerade allein dort war, fragte nach irgendwelchen Vorgängen, die sie in den Akten nachschlagen musste und fand dann immer einen Vorwand, wenn sie gerade stand, sie mit vorgeschützter Väterlichkeit zu umarmen, mal frontal, mal mit von der Seite um die Taille gelegtem Arm, mal mit von hinten umfassten Schultern oder Oberarmen und immer zog er sie dicht an sich heran, schwer atmend und übel riechend.

Sie hatte nie gewagt, sich zur Wehr zu setzen. Wie würde er reagieren? Gewalttätig? Oder, was viel schlimmer und wahrscheinlicher war, beleidigt. Beleidigte Lokalbarone, die außerordentlich gut vernetzt waren, konnten den Ruin einer ohnmächtigen Angestellten bedeuten. Sie konnten einem das Leben auf vielfältige Weise zur Hölle machen und dabei etliche Funktionsträger einbinden. Sie hatte immer nur versucht, der Bedrohung mit geschickten Ausweichmanövern und anderen Vermeidungsstrategien beizukommen, aber das gelang nur höchst unzureichend.
Als die Beschwerden der anderen Frauen im Büro eintrudelten, hatte sie sich endlich imstande gesehen, zu handeln. Jetzt ging es darum, sich für andere einzusetzen, sie zu schützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, da konnte ihr niemand vorwerfen, sie sei zickig, stelle sich an und bilde sich etwas ein oder wolle sogar einen unbescholtenen Ehrenamtlichen absichtlich diskreditieren.

Nun lief alles aus dem Ruder, obwohl sie alles richtig gemacht hatte, genau wie Anke Liekenbrock. Doch die Träger der Y-Chromosomen hielten bedingungslos zusammen und die hochrangigen Verantwortungsträgerinnen spielten mit, um sich in ihren Machtpositionen zu halten. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende, weder für Roswitha noch für Anke.

Nach umfassenden Beratungen entschlossen sich die beiden Frauen zu einem langen Brief an die Präses. Sie schilderten noch einmal umfassend sämtliche Vorgänge und schlossen mit den Worten:

Es kann nicht sein, dass ein solchen Verhalten innerhalb der evangelischen Kirche toleriert wird und ohne Konsequenzen für den Täter bleibt. Wir erwarten von Ihnen als landeskirchliche Leitung, dass sie hier umgehend eingreifen, konsequent handeln, dem Leiden ein Ende setzen und den Opfern zu ihrem Recht verhelfen. Wenn wir noch einmal vertröstet oder zu absolutem Stillschweigen aufgefordert werden, werden wir uns schonungslos an die Öffentlichkeit wenden und wir wissen ja, dass Sie diesen Schaden um jeden Preis von Ihrer Kirche abwenden wollen. Es liegt also in Ihrer Hand, wo die Reise hingeht. Setzen Sie das Kirchengesetz um und bleiben Sie verdient im Amt.
Es grüßt Sie herzlich Ihre Pfarrerin Anke Liekenbrock und Verwaltungsfachangestellte Roswitha Benecke.

Ende

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Freitag, 17. Februar 2023
Vertuschung – ein Vierteiler – Teil 3
Gutgelaunt ging Diethard ans Telefon. Er hatte gerade einen guten Lauf. "Benteler" meldete er sich mit seiner um vollen Klang bemühter Quäkstimme.
"Guten Morgen, Bruder Benteler", erklang eine weibliche Stimme, die ihm irgendwie vertraut vorkam. "Hier spricht Bettina Klamroth. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich? Die Angelegenheit erscheint mir einigermaßen dringlich."
Die Präses! Dringlich? Das hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten.
"Aber selbstverständlich.", säuselte der Superintendent gönnerhaft. "Was kann ich für Sie tun?"
"Eine Mitarbeiterin einer Gemeinde Ihres Kirchenkreises hat sich mit einer Beschwerde an mich gewandt. Sie hat sich wegen eines Vorfalls von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz an ihre dienstvorgesetzte Pfarrerin gewandt, die hat das an die zuständige Meldestelle weitergeleitet und wurde dann laut Aussage der Mitarbeiterin zunächst von ihrem Stellvertreter und dann von Ihnen selbst dazu angehalten, den Ball flach zu halten und absolutes Stillschweigen über die Angelegenheit zu bewahren. Wir haben in unserer Landeskirche extra ein neues Gesetz verabschiedet, damit wir nicht wie die katholische Kirche in erster Linie die Institution schützen und die Täter aus der Schusslinie nehmen, sondern wir wollen die Opfer schützen, Zwischenfälle verhindern und für diejenigen, die doch Schlimmes erleben mussten da sein. Das ist da jetzt bei ihnen nicht so gut gelaufen."
"Liebe Schwester Klamroth", erwiderte der Sup. "Wir wollen nur nicht in blinden Aktivismus verfallen, sondern den Sachverhalt erst in Ruhe klären. Es soll ja auch schon hin und wieder zu falschen Anschuldigungen gekommen sein, darum sind wir vorsichtig. Aber natürlich müssen wir auch mit dem mutmaßlichen Täter sprechen, Zeuginnen und Zeugen befragen und das alles mit der Meldestelle koordinieren. Das erfordert Zeit und Fingerspitzengefühl und ich wollte Pfarrerin Liekenbrock nur ein wenig herunterregeln, weil sie zu hysterischen Überreaktionen neigt, sie will dann immer alles sofort, auf einmal und ganz richtig machen und zerbricht dabei mehr Porzellan, als sie heilt und rettet. Wir werden uns im Sinne des Kirchengesetzes um diese Angelegenheit kümmern, Sie können sich da getrost auf mich verlassen."
"Na gut, wenn das so ist.", seufzte die Präses. "Aber ich möchte dann bitte einen umfassenden Bericht über die nächsten Schritte und regelmäßig auf dem Laufenden gehalten werden. Können Sie das einrichten?"
"Selbstverständlich. Sobald es etwas Neues gibt, werden Sie die Erste sein, die es erfährt."
"Vielen Dank. Dann alles Gute und Gottes Segen."
"Auch Ihnen Gottes Segen bei allen Ihren Vorhaben."
Die Präses legte auf.
Verdammter Mist! Das konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Er hatte Wichtigeres zu tun. Das Finanzdesaster in den Griff bekommen. Die Personalplanung und Personalentwicklung forderten ihn ebenfalls heraus. Da hatte er für eine hysterische Pfarrerin, die wegen einer zickigen Sekretärin ausflippte keine Kraft. Er musste auf die Bremse treten und weder Arbeits- noch Lebenszeit noch Nervenkraft darauf verschwenden. Er schrieb eine formale Anordnung an Pfarrerin Liekenbrock, die Verwaltungsfachkraft sei bis zur Klärung des Sachverhaltes vorübergehend vom Dienst freizustellen.

Das alles hatte Roswitha Benecke losgetreten, als sie sich in ihrer Verzweiflung an die Präses gewandt hatte. Und sie fand, dass sie jedes Recht dazu hatte, wenn der Kirchenleitung nichts besseres einfiel, als ihr mitzuteilen, sie solle sich mit Anschuldigungen vorerst zurückhalten, man werde das prüfen. Es war ja unfassbar gewesen. Zuerst hatte der Assessor als Beauftragter der Meldestelle sie angerufen, um sie mit investigativen Fragen zu behelligen, aus denen der Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Aussage sprach. Als sie Anke Liekenbrock davon berichtet hatte, hatte die sich sofort für sie eingesetzt und Beschwerde beim Superintendenten eingelegt, aber der hatte genauso reagiert wie sein Stellvertreter. Wenn Verantwortliche ihren Job nicht ordentlich machen, wendet man sich an ihre Vorgesetzte. So hatte sie es gemacht und damit schließlich auch Anke in die Bredouille gebracht. Aber was war ihr anderes übrig geblieben?

Fortsetzung folgt

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Freitag, 10. Februar 2023
Vertuschung – ein Vierteiler – Teil 2
Pfarrerin Anke Liekenbrock sah sich das Interview, das in der Lokalzeit mit ihr geführt worden war nun zum fünften Mal in der Mediathek an. Triumph der Gerechten, dachte sie. Nun galt sie wohl als Nestbeschmutzerin, aber das war ihr egal, sie hatte nur noch zehn Jahre bis zum Ruhestand, die würde sie mit engagierter Gemeindearbeit herumkriegen. Wenigstens konnte sie, ohne Ekel zu empfinden, morgens in den Spiegel sehen. Und Silbernagel hatte sie mit seiner unsäglichen Drohung dazu getrieben. Sie hatte seine irreführend glatte Stimme noch in den Ohren: "Wenn Sie an die Öffentlichkeit gehen, Schwester Liekenbrock, dann schaden Sie nicht nur dem Kirchenkreis, sondern auch sich selbst. Die Kollegen werden sie schneiden und wenn Sie versuchen, sich in einem anderen Kirchenkreis zu bewerben, werden Sie kläglich scheitern. Niemand möchte eine Pfarrerin im Team haben, die öffentlich schmutzige Wäsche wäscht. Sie sollten sich das sehr gut überlegen."
"Sie bestätigen mich nur in meinem Vorhaben, Herr Silbernagel.", sie nannte ihn bewusst nicht Bruder oder Kollege, das fühlte sich absolut nicht richtig an. "Wenn die Kollegen mich künftig schneiden, halte ich mich eben an die Kolleginnen. Die sind ohnehin überwiegend auf meiner Seite und außerdem diejenigen, die ihre Arbeit ordentlich verrichten."
Dann hatte sie einfach aufgelegt.
Sie hatte den Superintendenten angerufen, weil sie sich die von ihm angeordnete Freistellung nicht gefallen lassen wollte. Sie hatte nichts Unrechtes getan, sich keinen Fehler zuschulden kommen lassen, im Gegenteil. Dann hatte sie nur den Assessor, den stellvertretenden Leiter des Kirchenkreises erreicht, der aber hundertprozentig mit dem Sup auf einer Linie war. Der Kirchenkreis war doch nicht das Politbüro, wo man unbequeme Verantwortungsträger einfach entfernte. Schon gar nicht, wenn diese sich an die nächsthöhere Ebene wandten, um einen Missstand anzuzeigen.
Von der Präses hatte sie in der Tat ein härteres Durchgreifen erwartet. Die hatte auch sehr entrüstet und betroffen auf Anke gewirkt und versprochen sich um die Ungeheuerlichkeit zu kümmern, aber dann hatte sie sich wohl vom Sup oder von Silbernagel einlullen lassen, die ihr bestimmt eröffnet hatten, Anke Liekenbrock leide an einer Zwangsstörung und steigere sich in Bagatellen hinein, neige zu verzerrter Wahrnehmung und man halte sie nur im Amt, weil der eklatante Pfarrermangel einen zwinge, nicht wählerisch zu sein. Jedenfalls hatte die oberste Landeskirchenleitung ebenfalls nicht gehandelt und kleinen Wichten auf der mittleren Ebene das Feld freimütig überlassen. Und dann hatte der Sup sie einfach freigestellt „bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes", wie er sich ausdrückte.

Ihr Kollege Markus Ruddat, der ängstliche Speichellecker, hatte sie ebenfalls versucht, zu Untätigkeit zu überreden: "Wenn die Kirchenkreisleitung dir eine Anordnung schickt, musst du doch Folge leisten. Die werden ihre Gründe haben. Vielleicht haben sie weitergehende Informationen, über die du nicht verfügst."
"Papperlapapp!", hatte Anke geantwortet. "Wir sind diejenigen die an der Quelle der Informationen sitzen, was diesen Fall betrifft. Die Kirchenkreisleitung weiß nur, was wir ihr mitgeteilt haben. Oder hast du Beobachtungen weitergeleitet, die du mir vorenthältst?"
"Nein, natürlich nicht. Aber weißt du, ob Roswitha sich nicht in ungebührlicher Weise an den Sup gewandt hat?"
"Wohl kaum. Roswitha hat sich an mich gewandt und ich bin diejenige gewesen, die aktiv geworden ist. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie ist das Opfer, das geschützt werden muss."
Markus atmete tief ein und aus und verließ dann wortlos das Büro. Wie immer, wenn ihm nichts Kluges einfiel. Also meistens.

Fortsetzung folgt

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