Freitag, 24. Februar 2023
Vertuschung - ein Vierteiler - Teil 4
Roswitha Benecke hatte alles richtig gemacht. Sie hatte als erstes die Pfarrerin, ihre direkte Dienstvorgesetzte eingeschaltet. Denn Lydia Mertens, die an Bernhard Godewigs Bibliodrama-Wochenende teilgenommen hatte, war völlig aufgelöst im Gemeindebüro aufgeschlagen, hatte Rotz und Wasser geheult und unter reißenden Schluchzern gestammelt, was ihr widerfahren war:
Bernhard Godewig, seines Zeichens Mitglied des Presbyteriums, Synodaler auf Kirchenkreis-Ebene und ehrenamtlicher, zertifizierter Anbieter von Bibliodrama-Veranstaltungen, war zu weit gegangen.

(Als Bibliodrama bezeichnet man eine kreativ-darstellenden Zugangsweise zu biblischen Texten und gleichzeitig zur eigenen Persönlichkeit. Die Teilnehmenden übernehmen Rollen aus dem vorgegebenen Text und agieren diese in improvisierendem Spiel in einer Gruppe aus.)

Um die Salbung zu Bethanien war es gegangen. Lydia hatte die Maria von Bethanien gespielt, Godewig Jesus und als sie seine Füße ölte, hatte er sie aufgefordert, deutlicher zu liebkosen. „Du bist ganz Hingabe.“, hatte er mit bebender Stimme auf sie eingeredet. „Deine Liebe ist ganzheitlich, allumfassend und uferlos. Die Füße sind erst der Anfang. Sei zärtlich, leidenschaftlich, überwinde alle Grenzen zwischen dir und deinem Meister.“
Lydia hatte sich nicht entziehen können, war gefangen gewesen in den traumatischen Erinnerungen ihrer Kindheit, hatte den Lustgreis bedient, wie er es verlangte, ohnmächtig und starr vor Angst.
Und sie war nicht die erste.

Zwei Tage zuvor hatte ihr eine andere Teilnehmerin im Treppenhaus erzählt, dass Godewig hinter sie getreten war, um „durch ihren Körper zu sprechen“, damit sie „leichter in die Rolle gleiten“ könne. Sie hatte deutlich seine Genitalien an ihrem Gesäß gespürt. Eine andere hatte angerufen und sich vom nächsten Kurs abgemeldet, weil sie die bohrenden Blicke des Kursleiters nicht länger ertrug.

Das waren die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatten, denn Roswitha litt bereits seit Jahren unter den sexualisierten Kapriolen des Provinzpaschas mit informeller Macht. Gern kam er vormittags ins Gemeindebüro, wenn sie gerade allein dort war, fragte nach irgendwelchen Vorgängen, die sie in den Akten nachschlagen musste und fand dann immer einen Vorwand, wenn sie gerade stand, sie mit vorgeschützter Väterlichkeit zu umarmen, mal frontal, mal mit von der Seite um die Taille gelegtem Arm, mal mit von hinten umfassten Schultern oder Oberarmen und immer zog er sie dicht an sich heran, schwer atmend und übel riechend.

Sie hatte nie gewagt, sich zur Wehr zu setzen. Wie würde er reagieren? Gewalttätig? Oder, was viel schlimmer und wahrscheinlicher war, beleidigt. Beleidigte Lokalbarone, die außerordentlich gut vernetzt waren, konnten den Ruin einer ohnmächtigen Angestellten bedeuten. Sie konnten einem das Leben auf vielfältige Weise zur Hölle machen und dabei etliche Funktionsträger einbinden. Sie hatte immer nur versucht, der Bedrohung mit geschickten Ausweichmanövern und anderen Vermeidungsstrategien beizukommen, aber das gelang nur höchst unzureichend.
Als die Beschwerden der anderen Frauen im Büro eintrudelten, hatte sie sich endlich imstande gesehen, zu handeln. Jetzt ging es darum, sich für andere einzusetzen, sie zu schützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, da konnte ihr niemand vorwerfen, sie sei zickig, stelle sich an und bilde sich etwas ein oder wolle sogar einen unbescholtenen Ehrenamtlichen absichtlich diskreditieren.

Nun lief alles aus dem Ruder, obwohl sie alles richtig gemacht hatte, genau wie Anke Liekenbrock. Doch die Träger der Y-Chromosomen hielten bedingungslos zusammen und die hochrangigen Verantwortungsträgerinnen spielten mit, um sich in ihren Machtpositionen zu halten. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende, weder für Roswitha noch für Anke.

Nach umfassenden Beratungen entschlossen sich die beiden Frauen zu einem langen Brief an die Präses. Sie schilderten noch einmal umfassend sämtliche Vorgänge und schlossen mit den Worten:

Es kann nicht sein, dass ein solchen Verhalten innerhalb der evangelischen Kirche toleriert wird und ohne Konsequenzen für den Täter bleibt. Wir erwarten von Ihnen als landeskirchliche Leitung, dass sie hier umgehend eingreifen, konsequent handeln, dem Leiden ein Ende setzen und den Opfern zu ihrem Recht verhelfen. Wenn wir noch einmal vertröstet oder zu absolutem Stillschweigen aufgefordert werden, werden wir uns schonungslos an die Öffentlichkeit wenden und wir wissen ja, dass Sie diesen Schaden um jeden Preis von Ihrer Kirche abwenden wollen. Es liegt also in Ihrer Hand, wo die Reise hingeht. Setzen Sie das Kirchengesetz um und bleiben Sie verdient im Amt.
Es grüßt Sie herzlich Ihre Pfarrerin Anke Liekenbrock und Verwaltungsfachangestellte Roswitha Benecke.

Ende

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