Freitag, 24. Juli 2020
Bildbetrachtung
Ein Kindergesicht. Gemalt in starken Farben. Ein fröhliches Bild, ein Sommerbild, voller Leben und Lachen. Aber der Verfall deutet sich bereits an: der leere Blick der schwermütigen Augen, voller Lethargie, Trauer und Perspektivlosigkeit. Die Winkel des leicht und träge geöffneten Mundes weisen nach unten, flankiert von tiefen Nasolabialfalten. Ungelenk der Schneidersitz und in der linken Hand das obligatorische Skatblatt, ständiges Accessoire seines Ruins.
Im Hintergrund die strahlende Schwester, weibliche Bescheidenheit, aber auch ungetrübte Lebensfreude. Die Schwester hat vieles erreicht, von dem, was sie wollte, wenn auch nicht alles, ein typisches Frauenschicksal ihrer Generation. Ist aber sehr alt geworden und war bis kurz vor dem Ende mit außerordentlicher Gesundheit gesegnet. Hier mit stramm geflochtenen Zöpfen, zu Affenschaukeln hochgesteckt, ein Mona Lisa-haftes Lächeln im glatten Gesicht.
Er dagegen hatte schon als Kind keine Körperspannung, trotz der sportlichen Erfolge als junger Mann fehlte ihm schon immer das ausreichende Maß an Energie. Er hätte es wohl ohnehin nicht geschafft. Schon bald hätte sein Herz aufgegeben oder eines seiner Blutgefäße. Aber vielleicht auch nicht.
Der Pfuscher, der es damals vermasselt hat, liegt längst selbst unter der Erde. War ja nicht mehr bei klarem Verstand, hat sogar seine eigene Tochter verpfuscht. Von einer Klage hatte die Mutter damals abgesehen. „Das macht Papa auch nicht wieder lebendig.“, hatte sie gesagt. Es gab so viel für sie zu schultern, da wollte sie sich nicht zusätzlich die nervenaufreibenden Strapazen eines Zivilprozesses zumuten. Und die Ärzte hielten ja zusammen wie Pech und Schwefel. Am Ende hätte sie noch die Prozesskosten tragen müssen.
Doch es war ja nicht allein die Inkompetenz des Arztes gewesen, die den Vater damals aus dem Leben gerissen hatte. Es war das Management diese aufgeblasenen Provinzklinik, die Schludrigkeit des örtlichen Pflegepersonals in einer Region, in der alle irgendwie unpräzise, oberflächlich, unmotiviert und chronisch unfreundlich vor sich hin arbeiteten. Weil sie es konnten, weil es keine Konkurrenz gab und eine stille Übereinkunft herrschte, sich nur nicht zu sehr anzustrengen. Darum war die Region auch so strukturschwach. Darum verschwanden auch alle, die es konnten, in die nächstliegenden Metropolen oder gar an viel weiter entfernte Orte. Diejenigen die blieben, waren entweder anspruchslos oder ängstlich oder schafften es einfach nicht, zu entkommen oder alles auf einmal.
Diesem Schlendrian musste man ein Ende setzen, ein Exempel statuieren. Der Vater würde vielleicht heute nicht mehr leben, aber er hätte wenigstens alle seine Enkelkinder kennenlernen können. Und die Klinik war noch immer ein Schlachthof trotz Standortwechsel und hochmoderner Ausstattung. Natürlich hatte es schon vor Inbetriebnahme die ersten Bauschäden gegeben, ebenso wie die Erkenntnis eklatanter Planungsfehler, die dann wieder durch menschenunwürdige Improvisationen ausgeglichen wurden: Aus Zweibettzimmern wurden Dreibettzimmer gemacht, in dem ein*e Patient*in in einer dunkeln Ecke lag, zwischen Zimmertür, Nasszelle und Trennwand, nahezu ohne Tageslicht.
Mit der Hygiene bekamen sie es auch nicht hin, pflaumten zwar Besucher der Isolierstation an, wenn es geschah, dass beide Türen der Schleuse eine Sekunde lang gleichzeitig geöffnet waren, ließen aber selber am Abend bei der Essensausgabe alles sperrangelweit offen stehen, damit sie schneller fertig wurden und wieder gemütlich Kaffee trinken konnten. Pflegenotstand hin oder her, dieses Pflegepersonal sorgte für sich.
Die Mutter hatte kürzlich bei schwerem Durchfall eine ganze Nacht in einer Besenkammer zugebracht, die sie nicht verlassen durfte, für die Notdurft hatte sie einen Eimer zur Verfügung, der die ganze Nacht nicht geleert wurde und eine Gelegenheit zum Hände waschen gab es auch nicht. Wenn sie dort verstorben wäre, wäre es erst nach Stunden aufgefallen. Sie selbst hatte es zwei Mal erlebt, dass sie nach Operationen in dieser Klinik stark eiternde Narben hatte – bei anderen OPs in anderen Krankenhäusern war das nie passiert.
Aktuell gab es keine Vorkommnisse, aber das Bild ließ ihr keine Ruhe. Es war Zeit für ein Zeichen, das wachrüttelte. Kein nörgelnder Leserbrief, der sich breiter Ignoranz erfreute, kein mutig angebrachtes Banner, über das doch nur alle die Nase rümpften. Es brauchte einen großen Knall. Nicht in der Klinik, in der Patienten verzweifelt auf Hilfe warteten. Sie wusste genau wo sie zuschlagen würde und das Bekennerschreiben würde sie an die Boulevardpresse schicken.
Als am Ende ein hoffnungstragender Assistenzarzt an einer Überdosis des Giftes verstarb, das sie in die Lebensmittel der Personalkantine geschleust hatte, hätte sie das Bekennerschreiben gern zurück gerufen, doch all ihr Gift war nun in der Welt und man würde sie suchen und wenn man sie fand wäre die Schmach unendlich.
Sie blickte noch einmal in das gemalte Bildnis des eigenen Vaters und entdeckte ihre eigenen Gesichtszüge in den seinen. Die Antriebslosigkeit, die Trauer, die Leere des Geistes, die hängenden Mundwinkel, der Mangel an Körperspannung. Sie musste sich nicht stellen, sie war schon im Vorhinein bestraft und sie würde nicht alt. Und so versank sie in Scham und Lethargie und wartete täglich auf den Tod.

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Donnerstag, 16. Juli 2020
Mamma
Das letzte, das er sah, waren die wimpernlosen, dunkel geränderten Augen der kahlköpfigen Frau. Mit letzter Kraft blies sie ihm das Lebenslicht aus. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, aber sie überlebte ihn. Dabei hatte alles so harmlos angefangen.

An einem schönen Junitag war sie zur routinemäßigen Mammographie erschienen – sechs Mal spanischer Büstenhalter: zwei Mal horizontale Quetschung, zwei Mal vertikale Quetschung und zwei Mal die Cleopatra, um das Gewebe zwischen Brustansatz und Achselhöhle zwischen die Platten des Röntgengeräts zu bekommen. Dazu musste die Frau sich in einer theatralischen, Ballett-Figur positionieren, mit vorgestreckter Brust, durchgebogenem Rücken, halb seitlich, halb rückwärts gewandtem Kopf und ausladender Armbewegung. Jedes Mal dachte sie: Jetzt ist die Maschine am Anschlag, jetzt geht nichts mehr, aber es wurde immer noch ein bisschen mehr gequetscht, ein nahezu unerträgliches Folterinstrument kam da zum Einsatz, aber was tat frau nicht alles für die Gesundheit.

Wieder zwei Jahre Ruhe, hatte sie gedacht und war erlöst nach Hause gegangen. Falsch gedacht. Nach einer Woche war ein Schreiben gekommen. Bitte in einer Woche noch einmal zur Abklärung erscheinen. Zu weiteren Aufnahmen und Ultraschall. Kein bösartiger Befund. Aber auch keine Entwarnung.

Eine Woche Zittern. Na gut, das ließ sich aushalten. Sie war pünktlich zum Termin erschienen, saß trotzdem eine halbe Stunde im Wartebereich. Dann wieder in den spanischen Büstenhalter, glücklicherweise nur mit einer Brust. Danach zusätzlich eine halbe Stunde warten auf den nächsten Schritt. Ultraschall. Die Ärztin war einigermaßen verzweifelt. „Ich kann es nicht abbilden.“, sagte sie. „Ich sehe nichts, das ist eigentlich gut, aber auf der Röntgen-Aufnahme ist etwas zu sehen, das ist nur leider so nah an der Thoraxwand, dass man es weder mit der Mammographie noch im Ultraschall vernünftig sehen kann. Im Kernspin könnte man eindeutig etwas erkennen, aber das zahlt die Krankenversicherung nicht.“
„Was kostet das denn?“
„Um die vierhundert Euro.“
Sie schluckte heftig. Vierhundert Euro. Ein Klacks für die Besserverdienenden. Für sie selbst aber leider nicht aufzubringen.

Die Ärztin sah sich noch einmal die Aufnahmen an und meinte schließlich: „Es kann sich auch durchaus um eine normale Gewebeüberlagerung handeln. Sie bekommen einen Termin in sechs Monaten, dann kontrollieren wir, ob sich etwas verändert hat. Seien Sie dann bitte unbedingt da.“

Sechs Monate zittern. Na das konnte ja heiter werden. Aber musste das sein? War das hier nicht ein Ausnahmefall? Gleich am nächsten Tag suchte sie die örtliche Niederlassung ihrer Krankenversicherung auf.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte ein geschäftig und aufstrebend wirkender junger Mann mit dem üblichen, aufgesetzten Lächeln Empathie-befreiter Servicekräfte.
„Ich habe ein schwerwiegendes Problem.“, erklärte sie. „Beim Mammographie-Screening gab es eine auffällige Veränderung in der Brust zu sehen, bei der nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um eine bösartige Variante handelt. Die Position ist so ungünstig, dass man weder bei der Mammographie noch beim Ultraschall vernünftig erkennen kann, um was es sich handelt. Die Ärztin hat mir erklärt, dass ein MRT eindeutige Ergebnisse liefern würde, dass die Krankenkassen das aber nicht bezahlen.“
„Das ist richtig.“, antwortete der junge Mann mit schon deutlich weniger freundlichem Gesichtsausdruck. „Vermutlich sind Sie vollkommen gesund und wenn bei jeder Frau ein MRT vorgenommen würde, würden die Kosten und damit auch die Versicherungsbeiträge explosionsartig in die Höhe schießen. Das will niemand. Wenn sich in einem halben Jahr etwas verändert hat, wird man weiter sehen.“
„Aber dann ist es vielleicht schon zu spät.“, sagte sie. „In einem halben Jahr kann sich die Lage dramatisch verändern.“
„Aber das ist doch nicht gesagt.“, beschwichtigte er sie.
Allmählich stieg ihr die Galle hoch: „Aber wozu veranstaltet man dieses sicherlich auch äußerst kostspielige, flächendeckende Screening, wenn man im Bedarfsfall nicht schnell handelt? Das ist doch schließlich der Sinn der Untersuchung: Früherkennung, damit man rechtzeitig intervenieren kann, sodass der Krebs nicht metastasiert und brusterhaltend, wenn nicht sogar minimalinvasiv operiert werden kann. Das muss doch auch im Interesse der Versicherer liegen, hier schnell zu handeln und so die Kosten geringer zu halten. Da müssen Sie sich doch für einsetzen!“
„Erklären Sie mir nicht, was wir müssen.“, erwiderte er nun mit vollends versteinerter Miene. „Selbstverständlich steht es Ihnen frei, einen Termin für ein MRT zu vereinbaren und in Vorleistung zu gehen. Sollte sich der Verdacht bestätigen und es sich tatsächlich um ein Mammakarzinom handeln, würden wir Ihnen Ihre Auslagen erstatten. Wenn wir aber wegen jeder Panikattacke den Empfehlungen der Radiologen folgen, sind wir sehr bald zahlungsunfähig. Glauben Sie mir, diese vielfachen apparatemedizinischen Untersuchungen sind nichts als Geldschneiderei. Die wollen Ihre Geräte auslasten, machen Ihnen Angst, damit Sie sich eine weitere, völlig überflüssige Untersuchung aufschwatzen lassen. Glauben Sie mir: Wenn die im Ultraschall nichts erkennen, dann ist da auch nichts.“

Sie fand sich mit der Zurückweisung ab. Was blieb ihr auch anderes übrig. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um weiterhin ihren Lebensunterhalt zu verdienen und konnte sich nicht in Streitereien mit der Krankenversicherung verzetteln.

Als sie ein halbes Jahr später wieder in den spanischen Büstenhalter gequetscht wurde, war das unscheinbare, kleine Etwas zu einem riesigen, invasiven Karzinom angewachsen, hatte Ausläufer in das umliegende Gewebe gebildet.

Es folgte das ganze Programm: Resektion der Brust, Bestrahlung, Chemotherapie mit allen üblichen Nebenwirkungen: Übelkeit, Schwäche, Reizung der Schleimhäute, Haarausfall.

Sie mochte sich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen. Nach zwei Jahren musste sie den erbitterten Kampf aufgeben, konnte nur noch palliativ behandelt werden. Sie wusste, dass das MRT höchstwahrscheinlich ihr Leben gerettet hätte. Im Frühstadium lag die Genesungsquote bei 90 Prozent. Aber es ging ja nicht um die Rettung von Testikeln sondern um Brüste, dazu um Brüste von alternden Frauen, an denen kein Mann mehr ein gesteigertes Interesse hatte. Schon gar nicht der junge Schnösel, der sie so brüsk abgewiesen hatte. Sie würde gehen müssen, aber ihn würde sie mitnehmen und wenn er in ihr Gesicht sah, würde er wissen, warum.

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Donnerstag, 9. Juli 2020
Fleisch
Er machte sich gut unter den Großwildjägertrophäen. Die vornehme Blässe stand ihm ausgezeichnet. Sie hatten lange gestritten, ob sie ihn nicht auf einem Silbertablett auf die Tafel stellen sollten, karamellisiert mit einem rotbackigen Apfel zwischen den Zähnen, Zuckerguss-Strähnen als Haarpracht und abgerollten Lakritz-Schnecken als Brille, aber die Mehrheit hatte sich für den Präparator entschieden. Als ständiges Mahnmal sollte sein Kopf zwischen denen der von ihm getöteten Hirsche, Gazellen, Elefanten, Löwen, Elche, Nashörner, Giraffen und Bären hängen, in ewiger Schicksalsgemeinschaft mit seinen Opfern. Den Rest von ihm hatten sie so getötet, wie diejenigen seiner Opfer, die es weitaus schlimmer getroffen hatte. Zuerst hatten sie ihn ein halbes Jahr in seinen eigenen Katakomben in einen engen Käfig gesperrt, in dem er sich kaum rühren konnte. Sie hatten ihm Hormone injiziert und ihn mit proteinreicher Nahrung genudelt. Dann wurde er in einem engen, zugigen Fahrzeug bei 35 Grad zwei Tage lang durch Europa gekarrt; ohne Pause, ohne Essen und mit viel zu wenig zu trinken, lag er in seinen eigenen Exkrementen. Danach wurde er mit vermeintlich beruhigender Musik gefoltert: Richard Clayderman spielt Ballade pour Adeline, dabei stand er in einem grün beleuchteten Raum und wartete auf die Fortsetzung. Er kannte sie ja, hatte sie selbst abgesegnet. Die Betäubung erfolgte halbherzig. Mit Absicht, denn seinen Opfern war es ja auch nicht selten so ergangen. Sie hängten ihn an den Fußgelenken auf und ließen ihn vorsätzlich so lange über der Brühwanne hängen, bis er wieder aufwachte. Sie machten ihm Hoffnung, nahmen ihn ab von der Vorrichtung – allerdings nur, um bei der folgenden Prozedur sein Gesicht zu erhalten. Dann tauchten sie ihn ein, bis zum Hals, bis er krebsrot war. Anschließend brachen sie ihn auf und nahmen ihn aus. Die Eingeweide wurden zu Katzenfutter verarbeitet.
Später an der Festtafel genossen sie ein veganes Menü. Es stand zwar Fleisch auf dem Speiseplan, aber das war für die Hunde – sie waren nun einmal von Natur aus Fleischfresser und der Tierefresser sollte von Tieren gefressen werden.

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Freitag, 3. Juli 2020
Brüder
„Das ist übrigens Sabine“, sagte Albert mit gespielter Beiläufigkeit und nuschelte ein erklärendes „von der ich dir erzählt habe.“ hinterher.
Georg begrüßte die Frau, die sich zu ihm umdrehte und ihm freundlich lachend die Hand entgegenstreckte: „Oh, Alberts Bruder?“, rief sie, „da bin ich aber neugierig.“
Georg ergriff ihre lange schmale Hand und drückte sie herzlich, dabei sah er nur kurz in das freundliche, aber unspektakuläre Gesicht, dann glitt sein Blick über die schmalen Schultern, das seidige, lange, blonde Haar, dessen Platin-Ton erste Silberfäden vermuten ließ, die wohlproportionierten Brüste, die schmale Taille, den flachen Bauch und die stark gerundeten Hüften, alles umhüllt von fließendem, himmelblauem Stoff, sehr sinnlich und feminin, ein bisschen so wie Deborah Kerr in „Quo Vadis“ - nur das Gesicht war nicht so apart, aber das spielte ja auch keine so entscheidende Rolle, wenn man einer Frau näher kam.
Als Mediziner hatte Georg hinreichend Kenntnis über die menschliche Physiologie, dass er auch unter dem Stoff die definierten Muskeln der Bekannten seines Bruders wahrnahm. Albert hatte erzählt, dass sie besonders engagiert, hinreißend amüsant und von großer Herzenswärme sei, so wie man über seinen besten Kumpel spricht. Die weiblichen Kurven hatte er geflissentlich verschwiegen. Georg fragte sich, warum.

Albert hatte sich schon seit Monaten auf dieses Wanderwochenende des Vorbereitungskreises für politische Gottesdienst gefreut. Auf die abwechslungsreiche Route, die anregenden Gespräche in lockerer Atmosphäre, darauf, seinem Bruder zu zeigen, mit was für interessanten Leuten er sich umgab und auf Sabine. Er hatte sie eigentlich nicht erwähnen wollen, aber dann war doch die eine oder andere Geschichte aus ihm herausgepurzelt. Er sprach ja sonst kaum mit jemanden über diesen Kreis. Seine Frau interessierte sich nicht für kirchliche Zusammenhänge, ja nicht einmal mehr für Albert und seine Kollegen wollten auch nichts davon wissen, die interessierten sich für Fakten, Gesetze, Präzedenzfälle und in seltenen Fällen für ethische Fragen, aber sicher nicht für die Aktivitäten spirituell engagierter Freizeitchristen.

Als es nach der ersten Etappe darum ging, wer in der Schutzhütte seine Schlafmatte wo ausbreitete, sah es ganz so aus, als lege sich Sabine neben Albert. Doch da war ja Georg, der auch irgendwo liegen musste und Albert, ganz der höfliche, wohlerzogene Junge, der er schon immer gewesen war, fragte den Bruder: „Willst du lieber am Fenster schlafen? Du hast doch gern frische Luft in der Nacht.“
„Muss ich nicht unbedingt.“, antwortete Georg gleichmütig und Albert wusste längst, wie es enden würde und auch warum. Doch er gab sich ebenso unaufgeregt.
„Such es dir aus.“, sagte er nur.
„Dann schlaf du am Fenster.“, sagte Georg. „Dann hab' ich es ein bisschen wärmer.“

Sabine lag die halbe Nacht wach. Nicht weil Georg neben ihr schnarchte, das tat er nur kurze Zeit, sondern weil sie enttäuscht war. Sie hätte so gern neben Albert gelegen, diesem feinsinnigen, zurückhaltenden und gerade deshalb so charmanten Naturburschen, der sie oft zum Lachen brachte, aber auch zum Nachdenken und der Gefühle in ihr weckte, von denen sie längst vergessen hatte, dass sie sie empfinden konnte. Nicht, dass sie sich in pubertären Phantasien ausgemalt hätte, wie sich Albert in der Nacht an sie herangemacht hätte, aber sie hätte es genossen, seinem Atem zu lauschen, seinen Geruch einzusaugen und hin und wieder einen heimlichen Blick auf seinen ruhenden Körper zu werfen. Jetzt lag Georg im Weg, dieser akkurate Apparatemediziner mit seinen antiseptisch manikürten Fingernägeln. Sie war entsetzt, dass Alberts Bruder ihr auf Anhieb so unsympathisch war.

Am nächsten Tag nutzte Georg viele Gelegenheiten, Sabine in ein Gespräch zu verwickeln. Er ging dabei äußerst geschickt vor, gab sich bescheiden, belesen, nachdenklich und von feinsinnigem Humor. In Albert begann es zu kochen. Hörte das denn nie auf? Die Anerkennung des Vaters hatte der Bruder ihm streitig gemacht, als er in dessen Fußstapfen als Mediziner getreten war, dazu noch als Radiologe, während Alberts Berufswahl vom Vater nur mit Verachtung gestraft worden war. Alberts erste große Liebe war Georgs Geliebte geworden, damals hatte der Bruder ihm regelrecht das Herz herausgerissen, als er im Zeltlager plötzlich den Arm um die Angebetete gelegt hatte und die sich widerstandslos an ihn geschmiegt hatte. Die Erinnerung an den Schmerz war noch immer hellwach. Und Jahre davor hatte Georg Albert bei seinem besten Freund angeschwärzt, Albert sei eine unverbesserliche Quaktasche, habe seinem Bruder das Geheimnis seines Freundes verraten. Dass er es ihm regelrecht aus der Nase gezogen hatte, hatte Georg natürlich für sich behalten. Warum hatte er ihn nur eingeladen, bei der Wanderung dabei zu sein? Er hätte wissen müssen, dass der Große ihm wieder alles vermiesen würde.

„Ich muss mal eben etwas Privates erledigen.“, erklärte Georg und verschwand in Richtung Waldrand. Albert blickte grimmig ins Feuer. Er kannte den Code: Sein Bruder musste pinkeln und wie er ihn kannte, würde er in seinem Größenwahn die Schlucht hinunter strullen. Das gefiel ihm: so vielen Kreaturen wie möglich auf den Kopf zu urinieren.
Sabine lag zusammengerollt wie eine Katze auf ihrer Isomatte, alle anderen waren ebenfalls eingeschlafen. Albert erhob sich und folgte seinem Bruder in den Wald. Die Rolle mit dem Toilettenpapier nahm er vorsichtshalber mit. Es war eine helle Nacht. Wenn man sich auf dem Weg hielt, konnte man vieles erkennen. Georg stand tatsächlich am Rande der Schlucht, um sich dort zu erleichtern. Wie erleichternd es wäre, sich vom Ballast des lästigen Bruders zu befreien. Es waren nur ein paar Schritte und dann war es schon passiert. Wie beim Volleyball, eine kräftiger Pritscher gegen die Schulterblätter und schon fiel der Blutsverwandte aus der direkten Seitenlinie ins Leere. Er war wohl so überrascht, dass er nicht einmal dazu kam, einen Schrei von sich zu geben. Und Albert war so elektrisiert von der Ungeheuerlichkeit seiner Tat, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie er das Toilettenpapier fallengelassen hatte. Wie ferngesteuert kehrte er zurück und legte sich ans Feuer. Da fiel ihm auf, dass er den Hygieneartikel am Tatort liegen lassen hatte. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Einfach die Augen schließen und so tun als schlafe er schon seit Stunden.

Sabine erwachte mitten in der Nacht. Sie war irgendwie aus ihrem Schlafsack gerutscht und fror entsetzlich. Vom Feuer war nur noch eine sterbende Glut übrig. Sie tastete in der Dunkelheit nach dürren Zweigen und legte sie vorsichtig auf die glimmende Kohle. Bald züngelten die ersten zarten Flammen, sie legte systematisch Holz nach, bis das Feuer wieder leuchtete und vor allem wärmte. Auf dem Schlafplatz neben ihr kämpfte Albert im Schlaf gegen die ganze Welt. Er weinte und wimmerte. Sollte sie ihn wecken? Ihm sagen, dass er in Sicherheit war, dass er nur geträumt hatte? Oder würde er das als Übergriff empfinden? Schließlich konnte sie das Elend nicht mehr mit ansehen. Sie wand sich wieder aus ihrem Schlafsack, aber bevor sie so weit war, war jemand anderes schneller als sie.

Albert hörte seinen Namen. Seine linke Seite war kalt, die rechte warm. Er hörte das Knistern des Feuers. Wieder rief jemand seinen Namen. Entsetzlich, es klang wie Georg. Er war in einem Alptraum gefangen, wagte nicht, die Augen zu öffnen, stattdessen schrie er: „Nein, geh weg! Geh endlich weg!“ Schließlich war auch der Letzte aufgewacht und alle Augen waren auf den phantasierenden Albert gerichtet, bis schließlich auch Sabine seinen Namen rief. Er drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme kam und öffnete die Augen. Sie sah ihn besorgt an, dann sagte sie: „Albert, es ist alles gut. Du hast nur schlecht geträumt. Es ist vorbei.“
Ja, das dachte sie. Aber nichts war vorbei, das würde ihr schon bald auffallen. Wie sollte er diese Spannung nur aushalten? Er wandte sich von ihr ab. Einen Mörder würde sie niemals lieben. Als er sich umdrehte, entwich seiner Kehle eine Schrei des Entsetzens: Er blickte in das Gesicht seines toten Bruders, der ihn aus eisblauen Augen anstarrte.
„Albert?“, sagte er. „Was ist mit dir? Wovor hast du solche Angst?“
Im Augenwinkel nahm er wahr, dass zwischen ihm und dem Feuer etwas Wesentliches stand: die Rolle mit dem Toilettenpapier.
ENDE

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