Samstag, 27. Juni 2020
Einfach drauflos
Sie saßen auf der Terrasse, ließen den Tag bei einem Glas Weißwein ausklingen. Es war ein lauer Sommerabend, so luftig lind, dass man direkt vergaß, dass die ganze Welt in Aufruhr war, wegen der tödlichen Viren, die allerorts in der Dunkelheit feuchtkühler Millieus lauerten, nicht nur in den Lüftungsanlagen der gigantischen Schweinevernichtungslager, in denen osteuropäische Menschen aus prekären Lebensumständen aufs Brutalste zusammengepfercht waren und für einen Hungerlohn unter Volldampf Stunden und Überstunden schwerster, körperlicher Arbeit verrichten mussten, damit die konsumgeilen Fleischfressmaschinen sich ihre täglichen fetten Portionen toter Tiere in den Kopf drücken konnten.

Jetzt saß sie da mit ihrem besten Freund, dem sie alles von sich offenbarte, bis auf das eine, das sie wohl lieber für sich behalten musste, damit sie ihn nicht in eine vertrackte Lage brachte. Eigentlich war dieser Moment perfekt, wie sie da gerade zusammen schweigend in den Sonnenuntergang blinzelten, aber sie fühlte Schwermut in sich und eine tiefe Sehnsucht.

Sehnsucht - nach was? Vielleicht nach Leichtigkeit, nach so einem endlos scheinenden Sommer ganz frei von Pflichten, Bedrohungen, Entbehrungen, gesundheitlichen Einschränkungen, Verlusten und anderen Traurigkeiten. Frei von allem, was reizte, provozierte, einen an die Grenzen dessen brachte, was man noch ertragen konnte. Sie konnte es ihm nicht sagen, aber indirekt mit ihm drüber reden, das würde es auch schon leichter machen.

„Wie kommt es eigentlich“, fragte sie, „dass Lebensäußerungen Anderer einen derartig auf die Palme bringen? Dass man auf sie eindreschen möchte, damit dieses nervtötende Verhalten endlich aufhört? Woher kommen dieses Aggressionen? Was ist so bedrohlich daran, wenn jemand bestimmte Worte wählt, diese oder jene Bewegung, dieses oder jenes Geräusch macht, so ein Gesicht macht, ein blödes T-Shirt anhat, eklatante Grammatikfehler macht, einfach nur furchtbar dick und lethargisch ist?“

„Meinst Du die Familie, die in der Wohnung im Erdgeschoss wohnt?“
Sie schluckte heftig. Ahnte er etwas?
„Zum Beispiel, ja. Aber das sind nicht die einzigen bei denen mir das so geht.“
„Aber am meisten doch sicher bei dem dem Kerl, oder?“
„Ja, schon. Aber woran liegt das? Der tut mir doch nichts. Warum kann ich den nicht einfach so annehmen, wie er eben ist?“

Er schwieg eine Weile, dachte nach, nahm einen Schluck Wein, dann schließlich antwortete er: „Ich glaube, es ist die Angst. Die Angst, von diesem Menschen in den gleichen Sumpf gezogen zu werden, in dem er festsitzt und dann ebenso dort festzusitzen, umgeben von anregungsarmer Geistlosigkeit, latenter Gewaltbereitschaft, raumgreifenden, lärmenden, übel riechenden, Krankheiten verbreitenden Menschen, die einem die Luft zum atmen nehmen, jegliche Gelegenheit zur Regeneration verweigern, sodass man erdrückt, erstickt und gleichzeitig zu Tode beschallt wird. Es ist die Angst vor der Armut, zu einem Leben verurteilt zu sein, in dem jede einzelne Ausgabe genauestens abgewägt sein will, wo am Ende des Monats plötzlich kein Geld mehr fürs Essen da ist, man zittern muss, dass einem Strom, Telefon und Heizung abgestellt werden oder noch schlimmer, dass einen der Wohnungseigentümer auf die Straße setzt, weil man die Miete nicht mehr bezahlen kann, wo plötzlich fremde Leute in die Wohnung eindringen und Sachen, die einem gehören, mitnehmen, weil man seine Schulden nicht bezahlen kann, wo notwendige, medizinische Maßnahmen unerschwinglich sind, aber auch nicht von der Krankenversicherung übernommen werden, wo man praktisch nichts Schönes machen kann, weil alles Geld kostet, über das man nicht verfügt, wo man nicht einmal Lotto spielen darf, um wenigstens einen winzigen Funken Hoffnung auf Erlösung zu haben, wo man sich regelmäßig bei Behördengängen demütigen und für alles Mögliche rechtfertigen muss, das für andere selbstverständlich ist, wo man laufend entmündigt wird, obwohl man doch erwachsen ist. - Aber Angst ist ein schlechter Berater.“

Ja, da hatte er wohl Recht. Ohne diese Angst wäre es wohl nie so weit gekommen. Der Kerl würde sie nie wieder auf die Palme bringen. Dafür würde er sie nun jede Nacht heimsuchen, ein blutender, Fleisch gewordener Vorwurf. Aufgebrochen hatte sie ihn, mit seiner verdammten Handkreissäge mit der er regelmäßig spät abends und am Wochenende sinnlosen, handwerklichen Dilettantismen nachging. Konnte er mal sehen, wie das war, wenn man einfach so zerlegt wurde, weil jemand anderes das entschieden hatte.
Sie war frisch geduscht, aber ein Teil von ihm hatte sich beharrlich unter ihren Fingernägeln festgesetzt und sie ahnte, dass sie bald erst recht in dem Sumpf landen würde, vor dem sie sich so fürchtete und zwar noch viel tiefer und unentrinnbarer als sie es bisher befürchtet hatte.

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Freitag, 19. Juni 2020
Maschinensturm
Rewelgut hatte echt den Kaffee auf. Das Hand-Ladegerät hatte die ganze Nacht gebraucht um die Greifmuskulatur wieder auf volle Leistung zu bringen und nun war alles umsonst. Er stand vor dem Spiegel und ließ die Schultern hängen. So wüst hatte er noch nie am Kopf ausgesehen. Ausgerechnet heute musste der Haar-Player den Geist aufgeben. Hätte er nur im letzten Jahr den antiquierten Haarrührer nicht entsorgt, der hätte ihn jetzt retten können. Letzte Woche hatte es den Stichmixer erwischt, seitdem war er gezwungen, bereits präsentierte Kleidung aufzutragen, welch eine Demütigung.

Wenigstens Frühstücken war möglich und zwar ausgiebig mit Obst aus dem eigenen Garten und frischem Nass aus der Wassermaschine. Der Anrufmixer bescherte ihm eine angenehme Überraschung. Wendeline, welch ein Glück, es hätte ihn auch Schnuckenriedel treffen können, das hätte heute Morgen seine Kräfte überstiegen.

Pollipopp hatte gestern Abend mal wieder nicht die Küche aufgeräumt. Er aktivierte das Spülmaschinen-Ladegerät und begab sich vor dem Weg zur Arbeit in den Garten, um dem Flüstern der Bäume zu lauschen. Aber überall war bereits große Geschäftigkeit, die die leisen Laute übertönte, der Rasenbeantworter plärrte die ganze Zeit und es juckte ihn in den Fingern, die Videosense zu zücken, aber warum selbst aktiv werden und sich mit Grünschnitt beschmutzen, wenn man auch den Anrufmäher bestellen konnte.

Er machte sich auf, startete den Wasserstoffmotor seines Hovercrafts und koppelte den Auspuff an den Waschplayer – gab ja vorerst keine neuen Klamotten, mussten die alten eben aufgefrischt werden. Zur Reinigung der Hosen und Hemden lief „Oh Happy Day, when Jesus washed my sins away“.

Im Büro wartete Borchenritz die alte Handysäge, kein Mobiltelefon war vor ihm sicher, er machte aus jedem Smartphone zwei nutzlose, kleine Ansammlungen wertvoller Rohstoffe. Niemand wusste, warum er das tat. Vielleicht lag es daran, dass er Kettensauger war.

Rewelgut – was für ein Scheißname, dachte Rüdiger und reckte sich. Warum musste er immer so einen Mist träumen, er las doch schon lange keine Fantasy- und Science-Fiction-Storys mehr.

Welches Gerät würde er gern erfinden, das fragte er sich? Nichts davon, bestenfalls eine Küsterschleuder, die das ganze selbstgerechte Gift aus dem theologisch aufgewerteten Hausmeister rausschleuderte, bis er ganz trocken war, ja ein entspannter Küster mit trockenem Humor, das wärs. Gab es so etwas?

Gab es. Er fand ihn schon wenige Viertelstunden später. Eigentlich hatte er nur das Altpapier aus dem Büro im Technikraum entsorgen wollen. Fluchte gerade vor sich hin, warum Braun das nicht erledigt hatte, war schließlich sein Job. Ein freier Sonntag war ja in Ordnung und wenn er den montäglichen Pastorensonntag genutzt hatte, um das Wochenende mal zu verlängern – geschenkt. Aber am Dienstag Vormittag sollte er doch endlich wieder warm gelaufen sein.
Es roch befremdlich. Sehr befremdlich. Dieser gigantische Wäschetrockner war nur angeschafft worden, weil Braun lange genug auf die Tränendrüsen gedrückt hatte – nicht zu schaffen, die ganze Tischwäsche von den großen Feierlichkeiten draußen auf der Leine zu trocknen und bei den riesigen Tüchern, reichte ein Standardtrockner nicht aus, musste einer in Übergröße sein, wie man ihn auch in der gehobenen Gastronomie zur Verfügung hatte. Rüdiger war sofort der Verdacht gekommen, dass Braun das Ding privat nutzten wollte, wie auch sicher das eine oder andere Mitglied des Presbyteriums, das vorbehaltlos zugestimmt hatte. Mal eben ins Gemeindehaus und die ganze Wäsche in zwanzig Minuten knochentrocken pusten. Konnte man doch mal machen, so in der Mittagszeit, wenn gerade keiner da war. Und Braun wohnte direkt nebenan. Der konnte zur Not auch nachts an die Maschine. Und das hatte er unweigerlich getan. Nur steckte er mittendrin und transpirierte aufs Erbärmlichste. Das Gerät lief auf der höchsten Temperatur und im Benutzermodus, stellte sich also nicht von selbst ab.
Furztrocken war der Küster. Und Rüdiger wollte ums Verrecken nicht einfallen, wer das getan haben könnte. „Rewelgut, du Satan“, zischte er und erzitterte.

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Freitag, 12. Juni 2020
Auftakt
Er lag ausgestreckt auf seinem Puschenrasen, die Kantenschere noch in der Hand, wie auf einem perfekt komponierten Gemälde: Figur in Erdtönen auf sattgrünem Hintergrund mit tiefrotem Akzent im Zentrum.
Dieter Gerhard, leitender Angestellter im Ruhestand, Angehöriger des Evangelischen Männerkreises, treuer Gottesdienstbesucher, Mitglied des Presbyteriums. Ein Musterbürger. Niemand wusste etwas von Feinden. Es gab keinen Anhaltspunkt, kein Motiv, keine Zeugen.

Dafür hatte Thomas selbst gesorgt. Dieser hundertfünfzigprozentige Saubermann hatte kein Recht, sein Leben zu zerstören. Thomas war noch nicht einmal Fünfzig, hatte noch viel vor, beruflich, wie privat. Und Anton hatte noch fast sein ganzes Leben vor sich, gerade mal siebzehn, fast noch ein Kind.
Gerhard dagegen hätte ohnehin nicht mehr viel Lebenszeit vor sich gehabt, aber die hätte er genutzt, um jedem Knüppel zwischen die Beine zu werfen, der seinen Weg kreuzte.
„Herr Rakelmann“, hatte er über den grünen Gitterzaun zwischen ihren beiden Gärten geschnarrt, „ich weiß genau, was Ihr sauberer Herr Sohn treibt; und ich weiß auch, dass Sie es wissen. Sie sind mir ein schöner Polizist. Sie denken wohl, Sie könnten sich alles erlauben.“
Da war das Todesurteil gefallen. Es war nur noch um den schnellen und perfekten Plan gegangen. Er konnte ihn ja nicht mit der Dienstwaffe erledigen. Gut, dass es die alten Kameraden noch gab. Gut, dass er sich von denen nie ganz abgewandt hatte.

In diesem Fall war er nur Nachbar, nicht einmal Zeuge. Dann sah er die Pfarrerin vorbeikommen, die der Witwe beistehen wollte. Sie blickte ihn ziemlich finster an. Sie wusste etwas. Und Thomas wusste, dass es noch lange nicht zu Ende war.

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Freitag, 5. Juni 2020
Konsequenz
Ich hab‘ mich entschieden. Für dich.
Kein Tag ist in den letzten zwei Monaten vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe.
Ich hab‘ mich selbst auf die Probe gestellt und bin dir konsequent aus dem Weg gegangen.
Ich hielt mein Begehren für eine Mischung aus einer biologischen Kettenreaktion und einem neurologischen Strohfeuer.
Aber jetzt ist es stärker als ich.
Du bist das Ziel. Nur du.
Meine Gefühle für dich ebben nicht einmal dann ab, wenn ich dich nicht höre und sehe.
Es ist diese Wucht, die ich in mir spüre, mit der ich in dich dringen will.
Du hast sie mir damals geschenkt, dieses Kleinod, wie du sie nanntest.
Damit ich mich sicher fühle.
Ich hab‘ mich schon damals vor dir geekelt.
Aber du konntest mir alles bieten, was ich aus eigener Kraft niemals erreichen konnte.
Augen zu und durch – hab‘ ich gedacht.
Jetzt bin ich durch.
Und alle anderen auch.
Mit einer kleinen Bewegung meines Zeigefingers werde ich meine Entscheidung umsetzen.
Ich werde es wie Notwehr aussehen lassen
und endlich frei sein.
Melania

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