Freitag, 3. Juli 2020
Brüder
„Das ist übrigens Sabine“, sagte Albert mit gespielter Beiläufigkeit und nuschelte ein erklärendes „von der ich dir erzählt habe.“ hinterher.
Georg begrüßte die Frau, die sich zu ihm umdrehte und ihm freundlich lachend die Hand entgegenstreckte: „Oh, Alberts Bruder?“, rief sie, „da bin ich aber neugierig.“
Georg ergriff ihre lange schmale Hand und drückte sie herzlich, dabei sah er nur kurz in das freundliche, aber unspektakuläre Gesicht, dann glitt sein Blick über die schmalen Schultern, das seidige, lange, blonde Haar, dessen Platin-Ton erste Silberfäden vermuten ließ, die wohlproportionierten Brüste, die schmale Taille, den flachen Bauch und die stark gerundeten Hüften, alles umhüllt von fließendem, himmelblauem Stoff, sehr sinnlich und feminin, ein bisschen so wie Deborah Kerr in „Quo Vadis“ - nur das Gesicht war nicht so apart, aber das spielte ja auch keine so entscheidende Rolle, wenn man einer Frau näher kam.
Als Mediziner hatte Georg hinreichend Kenntnis über die menschliche Physiologie, dass er auch unter dem Stoff die definierten Muskeln der Bekannten seines Bruders wahrnahm. Albert hatte erzählt, dass sie besonders engagiert, hinreißend amüsant und von großer Herzenswärme sei, so wie man über seinen besten Kumpel spricht. Die weiblichen Kurven hatte er geflissentlich verschwiegen. Georg fragte sich, warum.

Albert hatte sich schon seit Monaten auf dieses Wanderwochenende des Vorbereitungskreises für politische Gottesdienst gefreut. Auf die abwechslungsreiche Route, die anregenden Gespräche in lockerer Atmosphäre, darauf, seinem Bruder zu zeigen, mit was für interessanten Leuten er sich umgab und auf Sabine. Er hatte sie eigentlich nicht erwähnen wollen, aber dann war doch die eine oder andere Geschichte aus ihm herausgepurzelt. Er sprach ja sonst kaum mit jemanden über diesen Kreis. Seine Frau interessierte sich nicht für kirchliche Zusammenhänge, ja nicht einmal mehr für Albert und seine Kollegen wollten auch nichts davon wissen, die interessierten sich für Fakten, Gesetze, Präzedenzfälle und in seltenen Fällen für ethische Fragen, aber sicher nicht für die Aktivitäten spirituell engagierter Freizeitchristen.

Als es nach der ersten Etappe darum ging, wer in der Schutzhütte seine Schlafmatte wo ausbreitete, sah es ganz so aus, als lege sich Sabine neben Albert. Doch da war ja Georg, der auch irgendwo liegen musste und Albert, ganz der höfliche, wohlerzogene Junge, der er schon immer gewesen war, fragte den Bruder: „Willst du lieber am Fenster schlafen? Du hast doch gern frische Luft in der Nacht.“
„Muss ich nicht unbedingt.“, antwortete Georg gleichmütig und Albert wusste längst, wie es enden würde und auch warum. Doch er gab sich ebenso unaufgeregt.
„Such es dir aus.“, sagte er nur.
„Dann schlaf du am Fenster.“, sagte Georg. „Dann hab' ich es ein bisschen wärmer.“

Sabine lag die halbe Nacht wach. Nicht weil Georg neben ihr schnarchte, das tat er nur kurze Zeit, sondern weil sie enttäuscht war. Sie hätte so gern neben Albert gelegen, diesem feinsinnigen, zurückhaltenden und gerade deshalb so charmanten Naturburschen, der sie oft zum Lachen brachte, aber auch zum Nachdenken und der Gefühle in ihr weckte, von denen sie längst vergessen hatte, dass sie sie empfinden konnte. Nicht, dass sie sich in pubertären Phantasien ausgemalt hätte, wie sich Albert in der Nacht an sie herangemacht hätte, aber sie hätte es genossen, seinem Atem zu lauschen, seinen Geruch einzusaugen und hin und wieder einen heimlichen Blick auf seinen ruhenden Körper zu werfen. Jetzt lag Georg im Weg, dieser akkurate Apparatemediziner mit seinen antiseptisch manikürten Fingernägeln. Sie war entsetzt, dass Alberts Bruder ihr auf Anhieb so unsympathisch war.

Am nächsten Tag nutzte Georg viele Gelegenheiten, Sabine in ein Gespräch zu verwickeln. Er ging dabei äußerst geschickt vor, gab sich bescheiden, belesen, nachdenklich und von feinsinnigem Humor. In Albert begann es zu kochen. Hörte das denn nie auf? Die Anerkennung des Vaters hatte der Bruder ihm streitig gemacht, als er in dessen Fußstapfen als Mediziner getreten war, dazu noch als Radiologe, während Alberts Berufswahl vom Vater nur mit Verachtung gestraft worden war. Alberts erste große Liebe war Georgs Geliebte geworden, damals hatte der Bruder ihm regelrecht das Herz herausgerissen, als er im Zeltlager plötzlich den Arm um die Angebetete gelegt hatte und die sich widerstandslos an ihn geschmiegt hatte. Die Erinnerung an den Schmerz war noch immer hellwach. Und Jahre davor hatte Georg Albert bei seinem besten Freund angeschwärzt, Albert sei eine unverbesserliche Quaktasche, habe seinem Bruder das Geheimnis seines Freundes verraten. Dass er es ihm regelrecht aus der Nase gezogen hatte, hatte Georg natürlich für sich behalten. Warum hatte er ihn nur eingeladen, bei der Wanderung dabei zu sein? Er hätte wissen müssen, dass der Große ihm wieder alles vermiesen würde.

„Ich muss mal eben etwas Privates erledigen.“, erklärte Georg und verschwand in Richtung Waldrand. Albert blickte grimmig ins Feuer. Er kannte den Code: Sein Bruder musste pinkeln und wie er ihn kannte, würde er in seinem Größenwahn die Schlucht hinunter strullen. Das gefiel ihm: so vielen Kreaturen wie möglich auf den Kopf zu urinieren.
Sabine lag zusammengerollt wie eine Katze auf ihrer Isomatte, alle anderen waren ebenfalls eingeschlafen. Albert erhob sich und folgte seinem Bruder in den Wald. Die Rolle mit dem Toilettenpapier nahm er vorsichtshalber mit. Es war eine helle Nacht. Wenn man sich auf dem Weg hielt, konnte man vieles erkennen. Georg stand tatsächlich am Rande der Schlucht, um sich dort zu erleichtern. Wie erleichternd es wäre, sich vom Ballast des lästigen Bruders zu befreien. Es waren nur ein paar Schritte und dann war es schon passiert. Wie beim Volleyball, eine kräftiger Pritscher gegen die Schulterblätter und schon fiel der Blutsverwandte aus der direkten Seitenlinie ins Leere. Er war wohl so überrascht, dass er nicht einmal dazu kam, einen Schrei von sich zu geben. Und Albert war so elektrisiert von der Ungeheuerlichkeit seiner Tat, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie er das Toilettenpapier fallengelassen hatte. Wie ferngesteuert kehrte er zurück und legte sich ans Feuer. Da fiel ihm auf, dass er den Hygieneartikel am Tatort liegen lassen hatte. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Einfach die Augen schließen und so tun als schlafe er schon seit Stunden.

Sabine erwachte mitten in der Nacht. Sie war irgendwie aus ihrem Schlafsack gerutscht und fror entsetzlich. Vom Feuer war nur noch eine sterbende Glut übrig. Sie tastete in der Dunkelheit nach dürren Zweigen und legte sie vorsichtig auf die glimmende Kohle. Bald züngelten die ersten zarten Flammen, sie legte systematisch Holz nach, bis das Feuer wieder leuchtete und vor allem wärmte. Auf dem Schlafplatz neben ihr kämpfte Albert im Schlaf gegen die ganze Welt. Er weinte und wimmerte. Sollte sie ihn wecken? Ihm sagen, dass er in Sicherheit war, dass er nur geträumt hatte? Oder würde er das als Übergriff empfinden? Schließlich konnte sie das Elend nicht mehr mit ansehen. Sie wand sich wieder aus ihrem Schlafsack, aber bevor sie so weit war, war jemand anderes schneller als sie.

Albert hörte seinen Namen. Seine linke Seite war kalt, die rechte warm. Er hörte das Knistern des Feuers. Wieder rief jemand seinen Namen. Entsetzlich, es klang wie Georg. Er war in einem Alptraum gefangen, wagte nicht, die Augen zu öffnen, stattdessen schrie er: „Nein, geh weg! Geh endlich weg!“ Schließlich war auch der Letzte aufgewacht und alle Augen waren auf den phantasierenden Albert gerichtet, bis schließlich auch Sabine seinen Namen rief. Er drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme kam und öffnete die Augen. Sie sah ihn besorgt an, dann sagte sie: „Albert, es ist alles gut. Du hast nur schlecht geträumt. Es ist vorbei.“
Ja, das dachte sie. Aber nichts war vorbei, das würde ihr schon bald auffallen. Wie sollte er diese Spannung nur aushalten? Er wandte sich von ihr ab. Einen Mörder würde sie niemals lieben. Als er sich umdrehte, entwich seiner Kehle eine Schrei des Entsetzens: Er blickte in das Gesicht seines toten Bruders, der ihn aus eisblauen Augen anstarrte.
„Albert?“, sagte er. „Was ist mit dir? Wovor hast du solche Angst?“
Im Augenwinkel nahm er wahr, dass zwischen ihm und dem Feuer etwas Wesentliches stand: die Rolle mit dem Toilettenpapier.
ENDE

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