Freitag, 16. März 2018
Das Todeshaus - ein abgeschlossener, profaner Kurzkrimi
„Nicht schon wieder!“, stöhnte Keller.
„Was?“, fragte Kerkenbrock.
„Am Schwarzenberg 10.“, sagte Keller.
„Oh Nein!“
„Doch.“
„Oben oder unten?“
„Wieso fragen Sie? Könnte ja ausnahmsweise mal in der Mitte sein.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Reisers besitzen das Elixier des Lebens, auch wenn sie aussehen, wie gefriergetrocknet. Askese, Disziplin und alle negativen Impulse direkt raus lassen. Damit wird man uralt.“
„Mord macht auch vor vermeintlich Langlebigen nicht halt.“
„Was ist es denn diesmal? Nur dass ich schon weiß, auf welches Bild ich mich einstellen muss.“
„Vermutlich Kohlenmonoxid. Gleich eine ganze Familie.“
„Also eher ein Unfall?“
„Wir werden sehen.“
Diesmal war es die Wohnung oben, im zweiten Stock. Im ersten Stock lebten die Reisers, ein pensioniertes Ärztepaar, im Erdgeschoss eine Frau Blome, die sich schon erstaunlich lange hielt. Ihre Vormieterin hatte nur 18 Monate in der Wohnung verbracht, bevor sie einem Starkstromschlag zum Opfer gefallen war. Sie hatte die Nachmiete einer obskuren Messi-WG angetreten, die bei einem ihrer zahlreichen Gelage allesamt an einer Überdosis Crack gestorben waren. Die wiederum hatten die Wohnung von einer betagten Dame übernommen, die eines Morgens einfach nicht wieder aufgewacht war.
Im zweiten Stock waren die Vormieter der fünfköpfigen Familie – ein exzentrisches Musikerpaar – eines Nachts im Streit gemeinsam vom Balkon gestürzt, was sie nicht überlebt hatten. Vor ihnen hatte ein lesbisches Paar dort gelebt, von dem die eine Partnerin eines Morgens beim Nachbarschafts-Frühstück bei den Reisers an einer Scheibe Schinken erstickt war. Die andere Partnerin war kurz danach ausgezogen, weil sie sich die Wohnung allein nicht leisten konnte.
In allen Fällen hatten sie wegen Mordverdachts ermittelt, waren aber jedes Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Unglücksfall gehandelt haben musste.
Nun betraten die Beamten die Wohnung der Familie Römermann im zweiten Stock. Sie lagen alle friedlich verstreut im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät, das sich dankenswerterweise selbst abgeschaltet hatte. Die Polizisten waren entsetzt vom Anblick der reizenden Familie, junge Eltern mit drei kleinen Kindern, unfassbar, dass es immer wieder zu diesen Kohlenmonoxid-Unfällen kam, noch tragischer angesichts der Tatsache, dass der Familienvater von Beruf Heizungsinstallateur war. War es möglich, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelte?
Frau Blome im Parterre erklärte, sie habe mit den Nachbarn nicht viel zu tun, sie könne nichts dazu sagen.
Die Reisers meinten, der Herr Römermann habe in letzter Zeit schon etwas niedergeschlagen gewirkt. Es sei auch oft zu Streit in der Wohnung über ihnen gekommen, mit den Kindern habe es Probleme gegeben und beruflich sei es für den Vater auch überhaupt nicht gut gelaufen, er habe da gelegentlich so Andeutungen gemacht.
Die Beamten gingen der Sache auf den Grund. Die Befragung von Verwandten, Arbeitgeber und Kollegen konnten die Hypothese der Reisers nicht bestätigen. Und dann ging Keller dieser Halbsatz von Sabine Kerkenbrock durch den Kopf: Oben oder unten? Sie würden alle Todesfälle noch einmal aufrollen müssen und aus einer völlig neuen Perspektive betrachten. Auch wenn die Reisers keine Vampire waren, die ihr Leben mit dem Blut ihrer Opfer verlängerten, so sorgten sie doch für sich für optimale Lebensbedingungen, aber er und seine Kollegin würden dieses Biotop des Grauens ein für alle Mal in eine gefahrlose Kulturlandschaft verwandeln.
ENDE

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Freitag, 9. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 2. Teil
Dort stand:
Liebe Kirstin!
Wenn Du diese Zeilen in Deinen Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben und Du vielleicht schon längst erwachsen. Ich habe einen Notar damit beauftragt, Dir meine Beichte zuzustellen, sobald ihn die Nachricht meines Todes erreicht. Ich konnte dies nicht tun, so lange ich lebte, denn dann hätte ich damit rechnen müssen, dass Du Strafanzeige gegen mich erstattest und ich hätte die nächsten Jahre im Strafvollzug verbringen müssen. Dazu war ich nicht bereit. Aber was ich getan habe, habe ich auch für Dich getan – und vor allem für jene, die Dir nachgefolgt wären, wenn ich nicht gehandelt hätte.
Ich war ungeheuer stolz auf meinen Sohn, der ein beachtliches Abitur hinlegte und sich anschließend für ein Studium der evangelischen Theologie entschied. Dass er in Tübingen und Marburg problemlos einen Studienplatz erhielt und mit Auszeichnung abschloss, beeindruckte mich umso mehr. Er fand früh eine ebenso attraktive wie respektable Ehefrau und gründete noch im Vikariat eine Familie. Bereits im Alter von 30 Jahren hatte er seine erste feste Stelle, damals im Kirchenkreis Siegen. Als ich ihn dort nach etwa einem Jahr zum wiederholten Mal für längere Zeit besuchte, fiel mir auf, dass eine 17-jährige Ehrenamtliche, die den Mädchen-Bibelkreis leitete, täglich bei ihm aufkreuzte und unverhältnismäßig lange blieb. Alexanders Frau bemerkte das nicht einmal, sie war viel zu sehr mit ihren damals zwei kleinen Kindern beschäftigt. Die glühenden Blicke, die der naive Backfisch meinem anziehenden Sohn zuwarf, waren jedoch kaum zu ignorieren und ich stellte fest, dass er sie unentwegt ermutigte, schamlos mit ihr flirtete und sie generös mit Komplimenten überschüttete, wie besonders sie sei, wie klug, wie einfühlsam und so weiter. Ich machte ihm die Hölle heiß und er ließ von dem Mädchen ab. Ich hielt es für einen Ausrutscher. Er war fast 33 Jahre alt, als er schließlich die Stelle hier in Spradow antrat und ich freute mich, dass ich endlich wieder die Gelegenheit hatte, täglich ihn und meine Enkel zu sehen, die mittlerweile zu dritt waren. Er war gerade ein halbes Jahr in seinem neuen Wirkungskreis, da bemerkte ich seinen Annäherungsversuch an eine 14-jährige Neukonfirmierte, den ich sogleich im Keim erstickte. Etwa ein halbes Jahr später fand ich heraus, dass er sich direkt im Anschluss eine 16-Jährige geangelt hatte, dabei war er allerdings viel geschickter vorgegangen. Ich hatte ihn nur zufällig entdeckt und stellte ihm ein Ultimatum: endlich damit aufzuhören oder ich würde ihn anzeigen.
Zwei Jahre später – er war mittlerweile 35 Jahre alt und seine Älteste ging bereits zur Schule - erwischt ich ihn erneut mit einer 15-Jährigen – mit Dir. Ich war ja schon außer mir, als er den jungen Mädchen mit überfreundlicher Zuwendung und unangemessenem Körperkontakt die Köpfe verdreht hatte, aber was er mit Dir angestellt hat, das sprengte meine Vorstellungskraft. Es wäre mir schon peinlich gewesen, ihn mit seiner Frau zu überraschen, aber als ich dann sah, dass Du es warst, eine minderjährige Kindergottesdiensthelferin, da stürzte meine Welt ein wie ein Kartenhaus. In meiner Verzweiflung stellte ich seine Wohnung auf den Kopf, ohne einen Plan, was ich da eigentlich suchte. Schließlich fand ich Massen von Fotos, Briefen und Aufzeichnungen, die belegten, dass er mit mindestens zwölf Mädchen Affären gehabt hatte.
Wie konnte ich zulassen, dass der Mann, dem ich das Leben geschenkt hatte, den ich zu dem erzogen hatte, was er heute war, reihenweise die Seelen junger Mädchen zerstörte, nur um seinen absonderlichen Trieben zu frönen? Ich musste ihn aufhalten. Sicher, ich hätte ihn anzeigen können, dann wäre er ins Gefängnis gekommen und hätte nie wieder als Gemeindepfarrer arbeiten können. Aber spätestens nach zehn Jahren oder eher wäre er aus der Haft entlassen worden und ich bin sicher, dass er einen Weg gefunden hätte, erneut Mädchen zu missbrauchen. Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. Ich war dafür verantwortlich, dass er existierte, ich musste dafür sorgen, dass er nie wieder Schaden anrichtete. Vielleicht war auch ein wenig Egoismus im Spiel, als ich beschloss, ihn ohne das Bekanntwerden seiner ungeheuerlichen Taten in den Tod zu schicken. Ob das verzeihlich ist, weiß nur Gott. Wäre jemand anderes des Verbrechens bezichtigt worden, das ich begangen habe, hätte ich mich sofort gestellt. Aber das war nicht nötig, der Arzt stellte einen natürlichen Tod fest. Als Krankenschwester weiß ich, wie man einen Infarkt auslöst, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hoffe, die Wunden, die mein Sohn Dir in jungen Jahren zugefügt hat, werden im Laufe Deines Lebens verheilen. Ich wünsche Dir für Deinen weiteren Weg alles Gute.
Deine Anneliese Buschmann
Ende

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Freitag, 2. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 1. Teil
Das Papier fühlte sich ungewöhnlich trocken an und wirkte seltsam vergilbt. Auch die Tinte, mit der Anschrift und Absender geschrieben waren, war deutlich ausgeblichen. Straße und Wohnort waren durchgestrichen und in jüngster Zeit mit einem Kugelschreiber in einer vollkommen anderen Schrift korrigiert worden.
Es war 10 Tage vor Kirstins vierzigsten Geburtstag und sie freute sich schon lange auf die rauschende Party, glücklich und zufrieden wie sie zur Zeit mit ihrem Leben war. Und jetzt das. Ein Brief von A. Buschmann. Nur der Name stand im Absender. Keine Anschrift. Aber der Brief schien vor langer Zeit verfasst worden zu sein und das war ja auch kein Wunder, denn A. Buschmann war vor fünfundzwanzig Jahren plötzlich gestorben. Kirstin traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Was hatte Alexander ihr mitteilen wollen und warum war der Brief mindestens fünfundzwanzig Jahre unterwegs gewesen? Wer hatte ihre Adresse korrigiert, ohne sich als Vollstrecker zu erkennen zu geben?
Kirstin spürte einen tiefen Schmerz im Bauch. Keinen seelischen, sicher den auch, aber was sie vor allem spürte, war ein stechender Schmerz im Unterleib, als würde jemand sie rektal mit einem Messer penetrieren und das Folterwerkzeug zu allem Übel auch noch umdrehen. Sicher hätte es sich um ein Vielfaches schmerzhafter angefühlt, wenn so ein brutaler Akt Wirklichkeit gewesen wäre, aber es war genau dieses Bild, mit dem sie ihr gegenwärtiges Gefühl am besten beschreiben konnte.
Kirstin dachte an Alexander Buschmann. Sie dachte daran, wie sie fassungslos vor Trauer unter der riesigen Rotbuche neben der Kirche gelehnt hatte und die Tränen zuerst nicht in Fluss geraten wollten, weil der Schock alle Bahnen blockierte und wie sie sich dann Bahn gebrochen hatten, über welche Schwelle auch immer, und nicht mehr aufgehört hatten, aus ihr herauszulaufen. Wie sie sich tagelang – ach was wochen- oder sogar monatelang gefühlt hatte, als sei ihr Körper ein Gefäß aus hauchdünnen, brüchigen Textilien, gefüllt mit winzigen Kügelchen aus Styropor, ja wie ein maroder Sitzsack hatte sie sich gefühlt, kraftlos und unzusammenhängend. Und hätte jemand nur eine winzige Stelle ihrer Außenhaut verletzt, wäre all ihr Innerstes einfach aus ihr herausgelaufen und sie hätte sich aufgelöst. Eigentlich war es damals genau das gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Ihre große Liebe war für immer von ihr gegangen und sie durfte noch nicht einmal in aller Form um ihn trauern, denn sie war für ihn offiziell nur irgendjemand gewesen und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie auch geliebt hatte.
Dann brachen die schönen Erinnerungen über sie herein. Alexanders Hände bei ihrer Konfirmation. Sie hatten bei der Einsegnung gezittert und das hatte sie verwirrt. Die Grillparty mit den anderen Helferinnen im Pfarrgarten und Alexander hatte seinen ganzen Charme spielen lassen. Graue Novembernachmittage bei Händel, knusprigen Keksen und Sherry. Alexander hatte Scotch getrunken, aber Kirstin durfte als Fünfzehnjährige keinen Branntwein trinken – eigentlich gar keinen Alkohol, aber so ein kleiner Sherry, hatte Alexander gemeint – das diene ja eher dem Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Alkohol. Sie rekapitulierte, an welchen Stellen ihres Körpers sie überall schon seine Hände gespürt hatte und kam auf eine beträchtliche Fläche. Alles war wieder da, das Herzklopfen, das Gefühl von Verheißung und nahender Erfüllung aller Sehnsüchte und dann wieder der große Schmerz des Verlustes, der ihr beinahe das Herz heraus riss. Sie befühlte den Brief, wagte aber noch immer nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn er Verletzendes enthielt? Den unumstößlichen Beweis, dass er sie nicht einmal besonders geschätzt hatte. Was, wenn er ihr in dem Brief seine Liebe gestanden hatte? Sie würde verrückt werden, wenn ihr klar würde, was sie hätte haben können und was man ihr genommen hatte, bevor sie auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte.
Vor dem Zubettgehen nahm sie den Umschlag erneut in die Hand. Nein, sie würde ihn jetzt nicht lesen, denn wie konnte sie wissen, ob die Zeilen nicht entsetzliche Dämonen heraufbeschworen, die sie die ganze Nacht kein Augen zutun ließen. Beim Einschlafen lenkte sie ihre Gedanken zu alltäglichen, leichten Dingen: Ruwens anstehende Klassenfahrt, das Strickmuster für Sophias Pullover. Darüber schlummerte sie entspannt ein. Doch die Dämonen ließen sich in keinem papiernen Umschlag einsperren. Alexander stand vor ihr mit einem gewinnenden Lächeln und einer nie gekannten Glut in seinen Augen. Seine Stimme war warm, sein Tonfall anzüglich und er sprach davon, dass er ihr Dinge zeigen wollte, von denen sie nicht einmal ahnte, dass sie existierten. Sie wusste nicht, ob es freudige Erregung und unbändige Lust oder Panik und Ekel waren, die wie ein Hurrikan in ihrem Magen herumwirbelten. Sie konnte ihn riechen – Talg und Magensäure überdeckt von einem herben Herrenduft. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen, seine fleischigen, sehr warmen Hände, ja wo eigentlich? Sie schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie erwachte schweißgebadet und mit rasendem Puls, lag einen Moment da, starrte an die Decke bis ihr Atem wieder gleichmäßiger ging, taumelte zur Toilette, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte und ging zurück ins Bett. Sie war so müde und erschöpft, bald glitt sie wieder in den Schlaf und die Träume wurden nicht besser. Es war immer das gleiche: Alexander kam ihr unendlich nah und sie wusste nicht, ob sie es liebte oder hasste. Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sie sich wie durchgeprügelt. Sie schaltete sich selbst auf Autopilot, deckte mit ihrem Mann den Frühstückstisch und schmierte die Pausenbrote für die Kinder.
„Ich habe ganz schlecht geschlafen heute Nacht.“, verkündete sie. „Ein Glück, dass ich heute frei habe. Ich glaube, ich lege mich gleich wieder hin.“
Als alle aus dem Haus waren und sie wieder allein war, kam sie über den toten Punkt hinweg . Sie duschte lange und ausgiebig, zog bequeme Kleidung an, kochte sich einen starken Kaffee und öffnete den Brief.
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt.

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Freitag, 16. Februar 2018
Rotraut Reloaded - ein interaktiver Werkstattkrimi
Keinmann hat schon Interesse angemeldet, aber es sind auch weitere Autorinnen und Autoren willkommen, gemeinsam diesen Krimi ins Blaue zu schreiben, bei dem alles offen ist - Ihr habt eine Woche Zeit. Die Kommentare, werden dann nach und nach in den Beitragstext kopiert, das liest sich besser. Und hier nun der Anfang:

Rotraut blickte in den trüben, winterlichen Nachmittagshimmel und spürte diese immer unerträglicher werdende Sehnsucht nach Sommer, Sonne, Wärme und Farben. Wie schön hatte im letzten Herbst alles im Garten geleuchtet und nun war da nur grau, braun, schwarz und bestenfalls dunkelgrün. Nicht einmal der Schnee blieb liegen. Ob ihr wohl ein weiterer Frühling vergönnt war? Sie fühlte sich so seltsam leer und aufgebraucht, wie ein rostiges altes Auto auf Reserve. Es wäre ja vielleicht nur gerecht, wenn sie sich durch einen langen, trüben, freudlosen und lebensfeindlichen Winter quälen musste, um noch vor dem ersten Frühlingsleuchten von dieser Welt Abschied zu nehmen. Sie hatte geglaubt, nach dem Abgang der schäbigen Schwägerin würde es ihr besser gehen, aber da war nur Leere, so als hätten die Eskapaden mit Mechthild ihre sämtliche Lebensenergie verbraucht, als wäre Mechthilds Lebenswille an Rotrauts verbleibende Energien gekoppelt gewesen. Dabei brauchte sie keinen Feind und auch keine Feindin, um ein Ziel zu haben, sie hatte doch so viele Hobbys: Ihren Blumengarten, das Gemüsebeet, die Seidenmalerei, den Literaturkreis und das Kuchenbacken. Doch all das schien ihr zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es war kaum noch jemand da, der überhaupt Kuchen essen wollte. Die Jungen waren weggezogen oder hatten nie Zeit, die Alten waren gestorben oder litten an Diabetes oder anderen Stoffwechselstörungen. Für Blumen und Gemüse war jetzt keine Zeit und in dieser Welt ohne Farbe fehlte ihr jegliche Inspiration für die Malerei. Das Fernsehprogramm war viel zu laut und hektisch geworden und Stricken und Häkeln hatte sie schon als Jugendliche gehasst und diese Aversion bis heute nicht abgelegt. Fieberhaft dachte sie darüber nach, mit welcher Beschäftigung sie ihre Lebensfreude und damit auch ihre Schaffenskraft zurückgewinnen könnte. Und da hatte sie plötzlich einen Einfall.

sonnensplitter, Freitag, 16. Februar 2018, 22:26
Ihre Nichte Juliane,die erstaunlich liebenswerte Tochter dieser impertinenten Frau, die Rotraut nun endlich los war, hatte sich vor Jahren in Karls Gartenhaus,Gott hab ihn selig, eine kleine Töpferwerkstatt eingerichtet. Sie und ihr geliebter Gatte hatten für Juliane immer viel übrig gehabt,konnte sie doch nichts für ihre Mutter und hatten ihr damals gern Raum für die Werkstatt zur Verfügung gestellt. Sie war so talentiert gewesen! Eine Schande,dass Mechthild sie nicht unterstützt hatte und sie letztlich in einen "anständigen" Beruf nötigte, statt sie der "brotlosen Kunst" nachgehen zu lassen.
Juliane hatte das Talent zu großen Werken....so hing sie einen Moment den Erinnerungen nach, bevor sie sich den Schlüssel vom Gartenhaus schnappte und ihr Haus durch die Hintertür verließ.

keinmann, Samstag, 17. Februar 2018, 11:57
Eilig schritt Rotraut durch den Blumengarten, vorbei an ihren Gemüsebeeten, dem alten Gartenhaus zu.
Seit langem hatte sie es gemieden, diesen Ort aufzusuchen: Zu viele schöne Erinnerungen - an heitere Tage und sternklare Nächte mit Karl, an ihre Nichte Juliane ... zu viele unschöne Szenen, die sich hier mit Mechthild abgespielt hatten - die zuletzt, in einem Anfall aus Selbstgerechtigkeit und Eifersucht auf die künstlerischen Neigungen ihrer Tochter, versucht hatte, alles in Grund und Boden zu stampfen.
Beim Gedanken daran ballte Rotraut in ohnmächtiger Wut ihre Faust, die jetzt so krampfhaft den alten Schlüssel umschloss, dass ihre Knöchel weiß hervorstanden.
Sie atmete tief ein - in der irren Hoffnung, dass sie dem standhalten konnte, was sie gleich erblicken würde. Rotraut kniff die Augen zusammen und in einem Anfall mutiger Verzweiflung steckte sie den Schlüssel ins Schloss ...


C. Fabry, Samstag, 17. Februar, 14:00
Es war schon eine Weile her, dass sie das Schloss zum letzten Mal benutzt hatte und die winterliche Kälte und Feuchtigkeit hatten dem uralten Schloss zugesetzt, darum dauerte es eine ganze Weile, bis der Schlüssel passend steckte und es erforderte viel Geschick und Fingerspitzengefühl ihn so im Schloss umzudrehen, dass die Tür entriegelt wurde. Die lebensfeindliche Witterung hatte auch das Holz aufquellen lassen und so schabte die alte Tür ratschend über den Estrich. Nichts hatte sich seit dem letzten Mal verändert. Warum auch?, dachte Rotraut, schließlich lebte sie allein und an die Heinzelmännchen glaubte sie schon lange nicht mehr. Überall lagen die Scherben der zerschlagenen Objekte, die große, mechanische Töpferscheibe lag noch immer auf der Seite und alles war mit einer dicken Patina aus Staub und Spinnweben überzogen. Ein paar Holzspäne auf dem Boden ließen Mäuse vermuten, die sich den Winter über im ruhigen Gartenhaus einquartiert hatten - hier kam ja nicht einmal die Katze hinein. Es grenzte an ein Wunder, dass damals niemand auf die Idee gekommen war, in Julianes Atelier nach dem Rechten zu sehen, obwohl sie doch tagelang verhört worden war, denn es hatten etliche Nachbarn ausgesagt, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nahezu feindlich gewesen war. Jetzt war alles gut. Mechthilds Asche diffundierte allmählich ins umliegende Erdreich ihrer Grabstätte, ihre DNA war unwiederbringlich verloren und die Blutspritzer in der Werkstatt waren kaum von den Farbklecksen der Tonlasuren zu unterscheiden. "Höllenqualen ihrer Asche", murmelte Rotraut, denn nicht einmal im Tod gönnte sie ihrer Schwägerin Frieden, schließlich hatte sie auch niemandem ein glückliches Leben frei von Anfeindungen gegönnt und alles dafür getan, den Frieden allgegenwärtig zu stören. Die Bilder kamen wieder hoch wie explodierende Feuerwerkskörper: Julianes entspanntes Lächeln beim surren der Töpferscheibe, ihre schlanken, geschickten Hände, die langsam den Ton hoch zogen und ihm bizarre, nie dagewesene Formen verliehen, ja sie war wie eine Göttin gewesen, sie hatte der toten Erde Leben eingehaucht. Und dann das knallen der auffliegenden Tür, die rücksichtslos gegen die Mauer schlug, Mechthilds hysterisches Gekreische von brotloser Kunst und Schande in der Nachbarschaft, das Zerschellen der Töpfe unter Mechthilds Brecheisen, das den Vorsatz ihrer Handlungsweise unterstrich, Julianes verzweifelte Rufe, und sie Rotraut mittendrin wie gelähmt, Zeugin dieser bestialischen Szene. Sie würde sich im Laufe des Frühjahrs dem ganzen Elend stellten, aber noch nicht jetzt. Dafür fehlte ihr die Kraft.

der imperialist, Samstag, 17. Februar 2018, 17:32
Was nur zu verständlich war bei dieser Diagnose. Retrograde Amnesie, ausgelöst durch einen schweren Schlag auf den Kopf. Ihr wurde gesagt ihr Name sei Rotraut. Rotraut Töpfer...

keinmann, Sonntag, 18. Februar 2018, 13:04
Doch für eines musste sie jetzt ihre ganze Kraft zusammennehmen: Für Juliane. Sie musste sie aus den Psychiatrischen Kliniken herausholen. Das letzte Mal, als sie Juliane dort besucht hatte, war diese nur noch ein Bild des Jammers: Aufgedunsenes Gesicht, zitternde Hände ...diese schönen, schlanken Künstlerhände ...!
Die Retrograde Amnesie, die ausgelöst wurde durch Mechthilds schweren Schlag auf den Kopf ihrer Tochter, hatte bei der stillen, in sich gekehrten, künstlerisch veranlagten, zarten Seele einen solchen Schaden angerichtet, dass Juliane seitdem in dem wahnhaften Glauben war, ihre geliebte Tante zu sein. Deshalb nannte sie sich jetzt Rotraut Töpfer ... ein Umstand, der für Rotraut schier unerträglich war. Es musste dringend etwas geschehen: Juliane musste hierher gebracht und Schritt für Schritt mit der schrecklichen Vergangenheit konfrontiert werden, damit überhaupt eine Heilung möglich war. Sie nur mit Tabletten vollzupumpen, konnte auf Dauer keine Lösung sein. Aber wie konnte Roraut ihr das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter erklären ...?

C. Fabry, Montag, 19. Februar 2018, 18:53
Vielleicht war es an der Zeit, den Schuppen wieder herzurichten. Sie holte den alten Ascheeimer aus der Ecke und sammelte Scherben und Unrat ein. Danach schnappte sie sich den guten Kokosfaserbesen und fegte mit kräftigen Strichen über den Estrich, bis alles wieder sauber und aufgeräumt aussah - nicht einmal ein Fitzelchen Mäusedreck war zu sehen. Doch sie war völlig außer Atem, denn nach dem langen Winter hatte ihre Kondition deutlich nachgelassen. Das musste für heute reichen. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel um und kehrte ins Haus zurück, um sich einen schnellen Tüten-Cappuccino aufzubrühen. Den hatte sie vor einigen Jahren entdeckt, liebte das künstliche Aroma und war begeistert von der unkomplizierten Zubereitung. Rotraut saß in ihrem hellen Wohnzimmer, nippte an dem Industrie-Getränk und knabberte dazu ein paar Kokoskekse. Sie wollte Juliane ins Leben zurückholen. Sie brauchte einen Plan. Für eine Konfrontation mit der Wirklichkeit war es noch zu früh. Zumindest, was Julianes Wirklichkeit betraf. Aber da sie sich ja selbst für Rotraut hielt, könnte sie ja mit Rotrauts Realität konfrontiert werden. Sie könnten Anfangen mit Erfahrungen, die Jahrzehnte zurücklagen. Sie selbst würde sich als Rotrauts verstorbene Freundin Irene ausgeben - die hatte ihr immer fast so ähnlich gesehen wie eine Zwillingsschwester - und dann könnte sie mit Juliane über die alten Zeiten plaudern. Sie würde beginnen mit der Geschichte, wie Mechthild damals plötzlich in Rotrauts und Hektors Flitterwochen aufgetaucht war und sich in der Ferienwohnung häuslich niedergelassen hatte.

keinmann, Dienstag, 20. Februar 2018, 17:17
Hektor? Rotraut wurde selbst schon ganz wirr im Kopf, hieß ihr Mann nicht Karl? Und woher sollte Juliane Rotrauts alte Erinnerungen kennen, sie lebte ja nur in der wahnhaften Verkennung, selber Rotraut zu sein … bei all diesen Überlegungen schwirrte ihr der Kopf, viel lieber wollte sie sich jetzt schönen Erinnerungen hingeben: Ihre Flitterwochen, damals, vor vierzig Jahren, mit Karl: Jauchzendes Erwachen am Morgen, inniges Beisammensein an unbeschwerten Tagen, einsame Strände, sternenklare Nächte, heiße Umarmungen … bis Mechthild auftauchte, dieses impertinente Luder.

c. fabry, Mittwoch, 21. Februar 2018, 10:25
Sie saßen gerade beim Frühstück im Rimini Miramare und hatten für diesen Tag einen Ausflug nach Venedig auf dem Programm, da sah Rotraut, wie plötzlich Karls Gesichtszüge entgleisten, ganz so, als hätte er ein Gespenst gesehen. Sie drehte sich um und blickte in das irre, dreist grinsende Gesicht ihrer verhassten Schwägerin. Sie hatte sie von Anfang an nicht ausstehen können.
"M - Mechthild", hatte Karl gestottert. "Was tust du hier?"
"Ich habe überraschend Urlaub bekommen, bin ins Reisebüro gegangen und habe das erstbeste Hotel gebucht. Ich wusste gar nicht, dass ihr auch hier abgestiegen seid, das ist ja witzig. Und so praktisch. Ihr zwei sprecht ja kein Wort Italienisch, ich dagegen... Und was habt ihr heute vor?"
"Venedig.", antwortete Karl einsilbig. Er stand noch immer unter Schock. Seine ganze Kindheit und Jugend hindurch hatte er unter dem Pantoffel seiner großen Schwester gestanden und Rotraut beschlich allmählich das Gefühl, dass sie für ihn nichts weiter war als eine Flucht aus der familiären Enge, die ihm auf normalem Wege nicht gelingen wollte.
"Venedig?", fragte Mechthild strahlend. "Da komme ich natürlich mit. Ihr müsst den Dogenpalast sehen und im Florian am Markusplatz Kaffee trinken."
"Wir hatten erst einmal eine Gondelfahrt geplant.", bemerkte Rotraut verschnupft. "Zu zweit."
"Ach das lohnt sich doch gar nicht.", wischte Mechthild Rotrauts Einwand beiseite. "Diese Gondolieri sind die schlimmsten Halsabschneider. Man sitzt so nah am Wasser, dass es stinkt, die singen disharmonisch 'Oh Sole Mio', spritzen euch nass und verlangen am Ende ein Vermögen dafür. Wenn ihr die Stadt vom Wasser aus bewundern wollt, gibt es eine Linie mit dem Vaporetto, eine Art öffentlicher Bus auf den Kanälen. Also schlagt euch die Gondeln aus dem Kopf, wir nehmen den Vaporetto, steigen an der Piazza San Marco aus, gehen in den Palazzo Ducale, trinken Kaffee im Florian, setzen die Vaporetto-Fahrt fort, essen im Ghetto Ebraico - da ist es gut und preiswert und sehr ruhig, dann machen wir einen längeren Verdauungsspaziergang durch die Calle, unternehmen eine Fahrt nach Murano, essen dort eine Kleinigkeit und abends gehen wir in La Fenice - falls es noch Karten gibt - also das ist die berühmte Oper im Herzen Venedigs."
Trotz Rotrauts vehementer Proteste hatte Mechthild sich durchgesetzt und so war es die gesamten Flitterwochen weitergegangen. Naürlich war die Schwägerin nicht zufällig im Rimini Miramare gelandet, sie war in Panik geraten, weil ihr der Verlust der Kontrolle über ihren kleinen Bruder drohte. Sie klebte an ihnen wie eine Klette, nur die Nächte hatten sie für sich, aber sie hatten kaum etwas davon, denn Mechthild sorgte für ein straffes Programm, nach dem sie nur noch erschöpft auf die Matratze sanken und morgens noch halb zerstört unter die Dusche schlichen. Und dann war Hektor aufgetaucht.



keinmann, Mittwoch, 21. Februar 2018, 12:31



Gottseidank. Denn der galante Hektor van de Groen war ein Womanizer, wie er im Buche stand. Seinen aalglatten Charme-Offensiven konnte selbst die altjüngferlich anmutende Mechthild in ihrem spitzzüngigen, kaltschnäutzigen Charakterpanzer nicht widerstehen. Intuitiv schien sie zu wissen, dass sie Zuhause nie wieder so umschwärmt werden würde, deshalb griff sie mit ihren langen, spitzen, rotlackierten Krallen sofort zu - und bot sich dem distinguiert und gebildet wirkenden Herrn van de Groen an wie Sauerbier.
Rotraut und Karl kam der feine Herr aus Belgien gerade sehr gelegen - und es machte ihnen überhaupt nichts aus, dass schon während der Werbewochen um Mechthild hinter ihrem Rücken im Hotel geflüstert wurde, dass dieser van de Groen ein Pleitier und Heiratsschwindler sei, der Ausschau nach wohlhabenden, unattraktiven, einsamen Frauen wie Mechthild geworfen habe, die ihm seine Vita finanzieren sollten ...

C. Fabry, Donnerstag, 22.02., 13:12 Uhr
Aber Mechthild hatte großes Glück gehabt - wie viel zu oft im Leben - und trotz der Heirat mit dem belgischen Taugenichts hatte ihr Schicksal eine grandiose Wendung genommen, als König Zufall Hektor einen Glücksgriff bei seinen Spekulationen bescherte. Plötzlich waren sie reich und sicher hätte Hektor alles mit fremden, schönen Frauen verjubelt, doch das Schicksal stand ein zweites Mal auf Mechthilds Seite und Hektor verstarb plötzlich und unerwartet - da war Juliane gerade zwei Jahre alt gewesen.
Mechthild war nun reich, aber brauchte als einsame, junge Witwe natürlich jeden Trost und jede Zuwendung, die überhaupt möglich war. Kein Tag verging, an dem sie nicht entweder Karl zu sich beorderte, um irgendein banales Problem zu lösen wie verstopfte Abflüsse oder Mäuse im Gartenhaus oder sie kam selbst bei Rotraut vorbei und bat sie, auf Juliane acht zu geben oder Mechthild die Haare aufzudrehen. Und dabei verhielt sie sich nie wie ein Gast sondern wie die Hausherrin persönlich. Wie oft hatte Rotraut sich mit Karl gestritten, der herrschsüctigen Schwester endlich Grenzen zu setzen, aber ihrem weichherzigen Mann hatte immer der Schneid dazu gefehlt und Blut ist ja bekanntlich dicker als Wasser.
keinmann, Freitag, 23. Februar 2018, 10:20
Karl gehörte zu jener Sorte Männer, die ihre Ruhe haben wollen und versuchen, es allen recht zu machen und nur ungern klar Position beziehen. Er scheute die Auseinandersetzung mit seiner Schwester und wollte mit geringstmöglichem Aufwand den größtmöglichen Hausfrieden erhalten. Doch da hatte er nicht mit den beiden Frauen gerechnet: Mit ihren unterschiedlichen Erwartungs- und Bedürfnishaltungen zerrten Rotraut und Mechthild an ihm – und an seinen Nerven.
Karl zog sich emotional mehr und mehr zurück – am Liebsten in sein Gartenhäuschen - und überließ die Grabenkämpfe mit der herrschsüchtigen Schwester lieber seiner Frau.
Nur die feinsinnige, kleine Juliane, die Karls ruhigem Wesen sehr ähnlich war, vermochte es stets, ihn in diesem Streitorchester mit ihrem fröhlichen Lachen und Plappern aufzumuntern. Er liebte die Kleine, die sich ebenfalls intuitiv zum gutmütigen und schweigsamen Onkel Karl hingezogen fühlte.
Es kam nicht selten vor, wenn sich ihre Mutter und Tante Rotraut in der Küche wie die Kesselflicker stritten, dass die kleine Juliane davonlief, um sich bei Onkel Karl im Gartenhaus zu verkriechen.
Dort verbrachten dann die beiden in schweigender Symbiose ihren Tag, zogen kleine Pflänzchen für das Gartenbeet hoch oder bastelten und werkelten miteinander Drachen, Vogelhäuschen und Möbel für Julianes Puppenstube …

Im Laufe der Zeit war Juliane das innig geliebte und umsorgte Ziehkind von Karl und Rotraut – ein Umstand, der Mechthild rasend machte und sie zu verbissenen Vorwürfen veranlasste, die beiden wollten ihr mit Absicht das Kind entfremden.
Doch Mechthilds Bestrebungen, Juliane mit entschlossenen Handgriffen und harten Maßnahmen vom Einfluss der beiden fernzuhalten, gingen ins Leere: Die Liebe vermag alle Verbote und einschränkenden Maßnahmen zu umgehen – das Kind nahm jede Gelegenheit war, in der wärmenden und fürsorglichen Umgebung von Tante Rotraut und Onkel Karl zu sein.
Als klar wurde, dass Rotraut nach einigen Aborten in der Frühschwangerschaft nie ein eigenes Kind haben würde, startete Mechthild einen ihrer perfidesten Schachzüge: Sie gab Juliane in ein Internat - weil ihr Kind die Nähe zu ihr mehr und mehr mied und verweigerte, entzog sie es jenen, die es liebte. Aus Bosheit, aus Eifersucht - und einfach, weil sie es konnte.
Damit nahm sie Rotraut und Karl jeden Trost, ihr kinderloses Schicksal durch die Hinwendung und Fürsorge für die kleine Juliane zu mildern. Karl wurde zu einem schweigsamen Eigenbrötler, einem in sich gekehrten, traurigen Mann, dem Mechthild das Gefühl vermittelte, seiner Schwester und seiner Frau gegenüber und im Leben generell versagt zu haben. Auch vor Rotraut demonstrierte Mechthild gerne ihre scheinbare Überlegenheit: Sie, Mechthild, war Mutter geworden, reich, finanziell unabhängig ... und besaß scheinbar alles, was Karl und Rotraut sich für ihr Leben gewünscht hatten. Selbst das Haus, in dem Karl und Rotraut zur Miete wohnten, gehörte Mechthild.

Eines Tages trieb es Mechthilds Bosheit auf die Spitze: An jenem Tag, als sie, in exaltiertem Zustand, eingehüllt in eine Wolke exklusiven Parfums und teure Designerklamotten, mit diesen zwei Architekten durch Karls und Rotrauts Garten gestöckelt kam und, bereits von weitem hörbar, offensichtlich in bester Champagner-Stimmung kreischte: „… und der ganze Mist hier draußen, das ganze Gartengedöns mit der alten Bretterbude, das kommt alles wech, da kommen Parkplätze für unser Appartement-Projekt hin …!“

sonnensplitter, Freitag, 23. Februar 2018, 07:13
Sie riss sich selbst aus ihren Gedanken an diese unschöne Seite ihren doch sonst glücklichen Ehe. Jetzt ging es um Juliane und darum,wie sie das Mädchen zu sich holen konnte. Ihr Zustand hielt nun schon zu lange an und niemand außer ihr glaubte daran, dass sie je wieder zurückkehrte. Oft schon hatte die Ärzte sie vorsichtig darauf angesprochen, dass eine gerichtlich bestellte Betreuung eingerichtet werden sollte, denn dass Rotraut im Moment fast alle wichtigen Entscheidungen traf,war rechtlich nicht länger tragbar. Bisher hatte sie alles daran gesetzt, dies zu verhindern, aber endlich erkannte sie die Chance,die sich ihr bot.
Mit neuer Zuversicht eilte sie zum Telefon und wählte die Nummer von Christoph Schmidt, dem behandelden Oberarzt ihrer Nichte.

C. Fabry, Freitag, 23.02.2018
"Hören Sie, Dr. Schmidt", erkärte Rotraut. "Eigentlich wollte ich dieses Geheimnis mit ins grab nehmen, aber nun scheint mir geboten, die Wahrheit zu sagen. Juliane ist meine leibliche Tochter. Mein Mann und ich waren finanziell sehr schlecht aufgestellt während meine Schwägerin und mein Schwager dem Kind alles bieten konnten. Als es uns besser ging, ließ sich dieses Arrangement nicht mehr Rückgängig machen, dafür war Juliane schon zu alt. Ich möchte sie gern bei mir haben, sie hat sich hier immer wohl gefühlt, vermutlich hat sie instinktiv gespürt, dass wir ihre wirklichen Eltern waren. Ich denke in der vetrauten Umgebung, die durchweg positiv besetzt ist, wird sie schneller genesen als in jeder noch so guten Klinik."
"Das ist gut möglich. Aber wir müssten schon einwandfrei feststellen, dass Sie die leibliche Mutter von Frau van de Groen sind, also einen DNA-Abgleich machen."
"Oh, das ist kein Problem, ich kann Ihnen gelich ein paar Haare von mir bringen."
"Wir würden ihnen lieber Blut abnehmen."
"Oh bitte nicht.", protestierte Rotraut. "Ich habe Rollvenen und ein regelrechts Kanülen-Trauma. Wenn es nicht absolut notwendig ist, vermeide ich das. Aus einem Haar kann man doch auch DNA isolieren."
"Ja, schon, das ist aber aufwändiger. Und sollte sich herausstellen, dass Sie gelogen haben, werden Sie auf keinen Fall mehr für Frau van de Groen sorgen dürfen."
"Ja, das verstehe ich.", antwortete Rotraut, überredete den Arzt aber, ihr die Nichte gleich zu überlassen.
Rotraut lief in den Keller. Dort hatte sie - warum genau wusste sie eigentlich nicht - Mechthilds handtasche aufbewahrt. Darin befand sich noch immer die Haarbürste ihrer Schwägerin und glücklicherweise hatte mechthild genauso schlohweiße Haare gehabt wie Rotraut. Der Plan war also todsicher.
Beim Anblick der verhassten Gucci-Tasche lief das Erlebte noch einmal wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab:
Mechthilds Auftritt, ihr Gekreische, ihre Beleidigungen, wie sie mit der Brechstange die zarten Vasen und Töpfe zerschlagen und schließlich das Eisen quer durch den Raum in Julianes Richtung geschleudert und sie nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Wie sich Julianes Gesichtsausdruck plötzlich verändert hatte und ein Ruck durch ihren Körper gegangen war, wie sie sich nach dem Brecheisen gebückt hatte und damit auf Mechthild losgegangen war, wie sie unerbittlich auf ihre verhasste Mutter eingedroschen hatte, bis diese kraftlos zu Boden gegangen war. Rotraut hatte alles mit angesehen, sich über den leblosen Körper ihrer Schwägerin gebeugt und ihren tod festgestellt. Dann hatte sie ihrer Nichte erklärt: "Du musst mir gleich helfen, deine Mutter auf den Pick-up zu heben. Danach gehst du ins Bad, duscht gründlich und legst deine Kleidung auf einen Haufen. Ich gebe dir neue Sachen von mir, dein Zeug muss verschwinden."
Rotraut hatte malerfolie auf die ladefläche des Pickups gelegt und Mechthild mit Julianes Hilfe daraufgehoben - die Hecken um das grundstück waren zu hoch, als dass Nachbarn etwas hätten bemerken können. Dann hatte sie Juliane ins Haus geschickt, die Leiche mit undurchsichtiger gartenplane abgedeckt und mit ZUrrgurten, die im Fußraum von Mechthilds Pick-up lagen gesichert. Sie hatte Juliane frische Kleidung gebracht und die Sachen ihrer Nichte in der Feuertonne verbrannt. Dann hatte sie Kuchen gekauft und Kaffee gekocht. Sie hatte es sich mit Juliane gemütlich gemacht und ihr Schlaftabletten gegeben, damit sie zur Ruhe kam, sie sollte sich ins Bett legen.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sie den Pick-up zu Mechthilds Anwesen gefahren und die Ladefläche direkt vor das gartenhäuschen gesetzt. Sie hatte sie mit der Plane ins innere des Schuppens gezogen, die Planen dann ordentlich zusammengefaltet und den Pick-up in die Garage gefahren.
Im Haus hatte sie für Spuren eines normalen Abendessens gesorgt, Licht angemacht, Eier gebraten, Tee gekocht. Den Tee hatte sie in den Ausguss geschüttet, die Eier mit nach hause genommen und Tasse und Gabel an Mechthilds Lippen gepresst, falls die Polizei das Geschirr auf DNA-Spuren untersuchen würde. Dann hatte sie Mechthilds Abgang inszeniert. Die Schwägerin liebte Petroliumlampen, der ganze Schuppen war voll davon. Was, wenn sie gerade eine Lampe entzündet hätte, auf eine Harke getreten wäre, deren Stiehl ihr vor die Stirn geschlagen wäre und sie hätte hinfallen lassen, wodurch die Lampe zerbrochen wäre und das auslaufende Petrolium die Hütte in Brand gesetzt hätte? Es hatten genug Trockensträße herumgehangen und überall hatte leicht entflammbarer Kitsch gestanden und Rotraut hatte die Öllampe gut befüllt, bevor sie sie angezündet, gut heiß werden lassen und schließlich fallen lasen hatte. Dann hatte sie sich einen Rechen geschnappt und sich in der Dunkelheit mit den Folien vom Grundstück gestohlen. Am nahegelegenen Wertstoffhof hatte sie die Planen mit Hilfe des Rechens über den hohen Zaun in die Restmüll-Mulde bugsiert und den Rechen hinterher geschleudert. Auf diese geschickte Entsorgung war sie besonders stolz gewesen. Noch während des zweistündigen Fußmarsches, den sie nach Hause unternommen hatte, hatte sie das Martinshorn der Feuerwehr gehört und gebetet, dass die Flammen ihre Arbeit bereits erledigt hatten.
Sie war damit durchgekommen, auch wenn es ihr schmerzliche Qualen bereitet hatte, dass Juliane tagelang unter Mordverdacht gestanden hatte und immer wieder verhört worden war. Aber die Nichte hatte standgehalten und die Polizei war zu dem Ergebnis gekommen, dass Mechthild van de Groen durch ihr eigenes Missgeschick den Tod gefunden hatte. Un irgend wie stimmte das ja auch.
Nun würde sie also in der Maske ihrer lieben Freundin Irene in die Klinik fahren, Mechthilds letzte DNA abgeben und Juliane zu sich holen. Es war alles überstanden und sie konnte endlich anfangen, ihre geliebte Nichte ins Leben zurück zuholen.

ENDE

Falls noch jemand einen Nachklapp schreiben möchte, bitte gern, aber ich für meinen Teil bin fertig mit Rotraut und werde an dieser Stelle nächsten Freitag einen neuen Krimi hochladen.
Vielen, herzliche Dank an Keinmann, Sonnensplitter und den Schizophrenisten für die inspirierende und befeuernde Mitarbeit. Und danke auch an Fabia de La und magic desire für die lieben Kommentare.

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