Dienstag, 13. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 3
Vierzehn Tage später sprach man davon, dass Charlotte mit dem Fahrrad gestürzt war, direkt nach dem Altenclub. Fatalerweise war sie aufgrund ihrer Eitelkeit ohne Helm gefahren und hatte nun infolge einer schweren zerebralen Blutung die Sprache verloren. Man verabredete sich, Charlotte in der nächsten Zeit regelmäßig im Krankenhaus zu besuchen. Zuerst war man unsicher gewesen, ob das überhaupt in ihrem Sinne sei, doch Hermann war selbst zum Altenclub geradelt und hatte den Anwesenden ans Herz gelegt, Charlotte bitte einen Besuch abzustatten.
Rosemarie hatte, als sie zu Hause ankam, schon wieder vergessen, in welchem Krankenhaus Charlotte lag. Irene war nicht gut auf Charlotte zu sprechen und Christenpflicht hin oder her, für die alte Gewitterhexe war ihr einfach ihre Zeit zu schade. Karl-Heinz ging es da ähnlich – Charlotte war kaum für einen scherzhaften Flirt geeignet gewesen, nicht einmal, als sie noch zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie hatte schon als Backfisch so einen verkniffenen Mund und diese eiskalten Augen gehabt.
Renate dagegen war die erste, die sich ins Krankenhaus schleppte. Sie verzichtete extra auf ihren Mittagsschlaf, damit sie Zeit hatte, sich vorher einer Stunde lang zurechtzumachen und dann pünktlich im 15.00 Uhr gepflegt und mit frischen Blumen im Krankenzimmer zu erscheinen. Sie hielt eine Weile Charlottes Hand und gab unerträgliche Gemeinplätze von sich und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als dies klaglos zu ertragen. Zwei Tage später schleppte Anneliese sich in die Klinik, brachte Blumen, drückte Charlottes Hand, sprach aber selbst kaum, denn ein Gespräch kam ja schwerlich zustande und so ging sie bald wieder. Günther war ein Mann von eingefleischtem Pflichtbewusstsein. Er brachte Charlotte eine rote Primel im Topf als Symbol für ihre baldige Genesung. Die Primel solle sie mit nach Hause nehmen. Auch Horst trieb das Mitgefühl ins Krankenhaus, obwohl er Charlotte ebenfalls nicht leiden konnte, aber so eine Lebenssituation wünschte man keinem. Weil er richtig vermutete, dass sie mit Blumen überschüttet wurde, kaufte er ein teures, duftendes Hautöl für sie, damit sie sich wenigstens eine angenehme sinnliche Erfahrung gönnen konnte. Auch Irmgard ließ sich blicken, mit Blumen und Pralinen und als sie Charlottes Krankenzimmer angespannt verließ, fragte sie sich, was wohl passierte, wenn Charlotte ihre Sprache wiederfände? Und selbst wenn sie nie wieder sprechen konnte: würde sie sich dennoch dezidiert mitteilen können? Wie konnte eine alte Frau von 79 Jahren einen so schweren Sturz überleben? Sie hätte die Radmutter noch stärker lösen müssen, dann wäre die Mitwisserin längst ausgeschaltet.
Als es mit Irmgards Gatten zu Ende ging, litt sie bereits seit drei Jahren unter der Pflegebedürftigkeit ihres Mannes, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und depressiv war und sie ständig brauchte. Sie hatte keine Minute mehr für sich, sogar wenn sie ihre Dienste als Fußpflegerin feilbot, um die schmale Rente aufzubessern, hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie liebte es, unter Leute zu gehen und bei leichter Plauderei ihrer Arbeit nachzugehen. Dabei fraß der Gesundheitsbedarf ihres grantelnden Gatten den gesamten Zuverdienst auf, sie konnte sich also noch nicht einmal mit dem einen oder anderen Luxus verwöhnen. Als der Punkt erreicht war, an dem sie nicht mehr bereit war, diese Hölle noch länger zu ertragen und sie außerdem sicher war, dass auch ihr Mann es vorzog, in die ewigen Jagdgründe einzugehen, anstatt sabbernd in die Windeln zu defäkieren und die tägliche Dekubitus-Prophylaxe über sich ergehen zu lassen, entschloss sie sich, den menschenunwürdigen Sterbeprozess ihres Ehemannes zu beschleunigen. Sie verabreichte ihm ein Blutdrucksteigerndes Medikament und löste so einen schweren Schlaganfall aus, der nicht behandelt wurde, weil sie im passenden Moment einen Großeinkauf tätigte. Nach einem Jahr offizieller Trauer konnte sie endlich wieder fröhlich sein. Aber sie hatte diesen Schritt nicht von langer Hand geplant. Es hatte sich zufällig ergeben. Und hier kam Charlotte ins Spiel: Irmgard hatte Charlotte einen Besuch abgestattet, um den Halbjahresbeitrag für den Altenclub zu kassieren, denn sie verwaltete die Gruppenkasse. Als Charlotte das Wohnzimmer verlassen hatte, um ihr Portemonnaie zu holen, hatte sie das Blutdrucksteigernde Medikament auf dem Couchtisch liegen sehen. Sie wusste nicht, dass die Schwiegertochter, die unter Hypotonie litt, es dort vergessen hatte. Einer Eingebung folgend, hatte sie es in ihre Tasche gleiten lassen und zu Hause in Ruhe den Beipackzettel gelesen. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie verbabreichte ihrem Mann eine Überdosis und entsorgte den Rest samt Verpackung im Mülleimer des Supermarktes. Es lag fünf Jahre zurück und sie hätte nie vermutet, dass Charlotte sich noch an das verschwundene Medikament erinnerte. Doch der vernichtende Blick, mit dem ihr der Sprache beraubtes Opfer sie angesehen hatte, ließ sie noch immer innerlich erzittern. Sie würde auch für dieses Problem eine Lösung finden müssen.
Ende

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Samstag, 3. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 2
Keine der drei Saison-Service-Kräfte hatte bemerkt, dass Rosemarie kurz in der Tür gestanden hatte und dann schnell wieder verschwand. Rosemarie wurde leicht übersehen. Sie war die typische freundliche Omi, der man noch deutlich ansah, dass sie in jungen Jahren sehr hübsch gewesen war. Seit zwei Jahren – genaugenommen seit ihrem achtzigsten Geburtstag - war sie Witwe. Unter ihrem unfreundlichen Ehemann hatte sie sehr gelitten, aber bei ihrer fortschreitenden Demenz hätte ein vertrauter Partner an ihrer Seite besser auf sie achtgeben können, als das ihren drei vielbeschäftigten Kindern gelang. Sie hatte sieben Enkel und ein Urenkelkind, die sie aber allesamt höchst selten zu Gesicht bekam. Wenn sie auch ziemlich durcheinander war, ein bisschen frisch aufgeschnappter Tratsch hatte noch immer eine bemerkenswert belebende Wirkung auf sie. Mit leuchtenden Augen betrat sie den Veranstaltungsraum und verkündete: „Ihr glaubt nicht, was ich gerade gehört habe.“
Mehr amüsiert als interessiert wandten sich ihr die Köpfe von zwei weiblichen und drei männlichen ergrauten Häuptern zu.
„Charlotte hat eben erzählt, dass sie weiß, dass unter uns eine Mörderin ist. Eine Gattenmörderin.“
„Ach, Charlotte und ihre düsteren Gedanken.“, winkte der 84-jährige Alterspräsident Günther ab. „Wenn die nicht mindestens einmal am Tag ihr Gift verspritzen kann, kriegt sie Verstopfung.“
Er zwinkerte der 78-jährigen Irmgard, die in seinen Augen noch ein Küken war, verschwörerisch zu. Die quirlige Witwe mit den üppigen Rundungen hatte jedoch nur ein mitleidiges Lächeln für ihn übrig. Während Günther ein einsamer Witwer war, den seine Kräfte allmählich verließen und dessen einzige Tochter in Südamerika lebte, sodass er ständig auf der Suche nach einer jüngeren Partnerin war, die seine Hinfälligkeit kompensieren konnte, wollte Irmgard noch so viel aus ihrem Leben herausholen wie eben ging. Sie hatte schon immer gern gefeiert, doch dann hatte sie viele Jahre ihren pflegebedürftigen Mann betreut und alle Bedürfnisse hinten angestellt. Als er vor fünf Jahren schließlich starb, startete sie noch einmal durch. Auf ihre zwei Söhne, die weit weg wohnten, brauchte sie nicht zu setzen, ihre einzige Enkelin sah sie nur zwei Mal im Jahr. Sie besserte seit mehr als acht Jahren als Fußpflegerin ihre Rente auf und konnte sich so wunderbare Urlaubsreisen, teure Kosmetik und elegante Kleidung leisten. Der Günther konnte ihr gestohlen bleiben, der Horst dagegen machte etwas her. Horst war kultiviert, hatte als einziger im Altenclub studiert, war ein gut erhaltener Galan alter Schule, schlank, elegant, mit gut geschnittenen Gesichtszügen und noch überwiegend dunklem Haar, obwohl er doch auch schon 79 Jahre auf dem Buckel hatte.
Was Irmgard nicht wusste: Horst kam eigentlich nur wegen der interessanten Themen, die der Herr Iring vorbereitete zum Altenclub, im Grunde verachtete er seine Altersgenossen, aber er nutzte das Umfeld für Milieustudien, die er in Kurzgeschichten verarbeitete und heimlich unter Pseudonym veröffentlichte. Im Geiste machte er sich Notizen und fragte sich, welcher der Kunstfiguren in seiner aktuellen Geschichte er einen Mord anhängen würde: der grantelnden Gabi, der hedonistischen Hanna oder der misshandelten Marianne.
Die kränkliche Anneliese, die bereits vor 25 Jahren 58-jährig verwitwete, wirkte seltsam ertappt bei Rosemaries Sensationsbericht. Man traute ihr nichts Böses zu, sie schleppte sich nur mit letzter Kraft 14-tägig zum Altenclub, um wenigstens ab und zu einmal etwas vorzuhaben. Trotzdem fragte Charlottes Ehemann Hermann sich, ob in Annelieses Vergangenheit womöglich finstere Abgründe gähnten. Er kannte sie seit der Kindheit, sie waren zusammen zur Schule gegangen. Alle hatten ihr in Gedanken heimlich gratuliert, als ihr Ehemann, der ein cholerischer Gewalttäter gewesen war, plötzlich den Löffel abgegeben hatte. Jetzt fragte sich Hermann, ob das sanfte Opfer nicht am Ende zur Täterin geworden war. Nur konnte er sich nicht erklären, woher seine Frau davon wissen konnte. Niemand war so gebeutelt wie Anneliese. Ihren Fünf Kindern hatte sie etwas bieten wollen, die Welt sollte ihnen offen stehen, sie sollten all die Möglichkeiten haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, die ihrer Mutter verwehrt geblieben waren. Die Kinder hatten die Chancen genutzt und lebten jetzt in Berlin, München, Frankfurt, Hamburg und London – niemand war in Ostwestfalen geblieben.
Die Konversation im Raum war zum Erliegen gekommen, weil jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachhing. Wie ein seltsamer Bruch wirkte es da, als plötzlich Karl-Heinz gut gelaunt hereinstürmte: „Was ist hier denn los?“, fragte er verwirrt. „Ist jemand gestorben?“
„Gestorben wird immer.“, antwortete Horst lakonisch.
Das Thema wurde nicht weiter vertieft, denn mittlerweile war auch Herr Iring angekommen und bat um die werte Aufmerksamkeit für sein heutiges Programm. Er hatte ein Referat zu Joseph Roths „Hiob“ vorbereitet und plante einen nachfolgenden Gedankenaustausch. Während des Vortrages herrschte höfliches Schweigen; die ungeteilte Aufmerksamkeit war hingegen überwiegend geheuchelt. Anneliese sorgte sich um ihren Blutdruck, der trotz einer beträchtlichen Menge regulierender Medikamente noch immer erschreckend überhöht war und gerade jetzt spürte sie einen besonders unangenehmen Druck im Kopf. Hermann grübelte darüber nach, wen genau Charlotte des Gattenmordes bezichtigte und konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht hatte Rosemarie auch nur etwas aufgeschnappt und falsch interpretiert. Charlotte fixierte heimlich ihre Verdächtige. Sie malte sich aus, wie sie beim nächsten Treffen die Details ihrer erfolgreichen Detektivarbeit vor den anderen ausbreiten würde, während die Mörderin in der Untersuchungshaft darauf wartete, ihrer gerechten Strafe zugeführt zu werden. Günther träumte - wie jedes Mal - von romantischen Portwein-Stunden mit Irmgard und bewunderte das Objekt seiner Begierde unverholen und lächelnd. Irene saß auf heißen Kohlen, weil sie nicht sicher war, ob sie die Teebeutel für Herrn Iring schon aus der Kanne genommen hatte. Sie wollte nachsehen, sobald das Gespräch anfing und notfalls einen frischen Tee zubereiten. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie sich in diesem Maße verantwortlich fühlte, wo sie doch froh sein konnte, dass sie zu Hause von derlei Versorgungsleistungen seit drei Jahren verschont blieb. Irmgard überlegte angestrengt, ob sie den Werkzeugkoffer im Auto hatte, seit Wochen schon hatte sie vor, ihn montags nach dem Altenclub bei Klaus vorbeizubringen. Wenn sie noch länger wartete, würde der ihr nie wieder etwas leihen. Karl-Heinz fragte sich gerade, wie Irmgard wohl völlig entblätterte aussähe und wie sie sich unter der Bettdecke anfühlte. Renate konnte seit Charlottes Bemerkung in der Küche nur noch an ihren verstorbenen Erwin denken und fragte sich aufgeregt, ob irgendetwas an ihrem Verhalten so verdächtig erschien, dass Charlotte zu derartig ungeheuerlichen Schlussfolgerungen gelangte. Auch nur zwölf Stunden in Untersuchungshaft würde sie nicht überleben. Rosemarie träumte von ihrer Jugendliebe, einem jungen Mann, den sie ihr restliches Leben lang vermisst hatte, nachdem er einfach aus ihrem Leben verschwunden war. An ihren langjährigen Gatten, der seit zwei Jahren auf dem Friedhof lag, verschwendete sie keinen Gedanken und Herrn Irings Ausführungen konnte sie schon aufgrund der hohen Dichte an Fremdwörtern nicht folgen. Nur Horst hörte zu und fragte sich, wer von den Anwesenden sich in der literarischen Adaption der biblischen Geschichte am ehesten wiederfand.
Als Herr Iring abschließend um Gesprächsbeiträge bat, herrschte zunächst gespenstisches Schweigen. Irene, Charlotte, Irmgard und Rosemarie verließen nacheinander den Raum und Horst fragte sich, wer wohl gleich ermordet würde, doch sie kehrten alle vier wohlbehalten zurück. Horst gab auch als Einziger einen Gespächsbeitrag zum Besten:
„Joseph Roth hat meines Erachtens nicht nur das weiße Feuer der Hiobsgeschichte zum Leuchten gebracht, indem er den vermeintlichen Nebenfiguren eine eigene Perspektive verliehen hat, er hat die Geschichte auch politisiert und sie auf die Situation des europäischen Judentums bezogen.“
„Von was für einem weißen Feuer redest du denn da?“, fragte Karl-Heinz unwirsch. „Hast du eben zu Hause noch einen genommen? Schönen Schluck Schlehenfeuer?“
„Midrasch.“, verkündete Herr Iring mit der wichtigtuerischen Miene des Connaisseurs.
„Ist das jüdischer Schnaps?“, fragte Karl-Heinz und schlug sich laut lachend auf die Schenkel.
„Nein.“, antwortete Herr Iring verschnupft. „Als Midrasch bezeichnet man das Lesen zwischen den Zeilen eines Textes. Die schwarzen Buchstaben, das unmissverständliche Wort auf dem weißen Papier bezeichnet man als das schwarze Feuer, aber das, was man in seiner Vorstellung dazu übelegen muss, die Ausschmückung der Geschichte, wie sich alles für die Beteiligten anfühlt, das bezeichnet man als das weiße Feuer. Das ist eine uralte jüdische Tradition, derer Joseph Roth, der ja ebenfalls jüdischer Herkunft war, sich möglicherweise bedient hat.“
„Wie sie eben bereits beschrieben hatten.“, erklärte Horst und sah Karl-Heinz strafend an, als er sich an ihn wandte: „Wenn du schon nicht zuhören kannst, solltest du dich beim Gespräch besser raushalten.“
„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, rechtfertigte Karl-Heinz sich. „Schließlich habe ich den Kuchen mitgebracht. Ich kann doch nicht an alles denken.“
Damit war das Stichwort gefallen, auf das alle gewartet hatten und man sprach über Primeln und wer gerade im Sterben lag, wo zur Zeit das günstigste Gemüse zu bekommen war und was die Kinder und Enkelkinder so trieben. Die Zeit verging wie im Flug und während die Küchencombo spülte, tratschten diejenigen, die sich nur schwer trennen konnten noch eine Weile auf dem Vorplatz, bis schließlich Irene den Schlüssel umdrehte und alle mehr oder weniger dynamisch nach Hause humpelten. Von den schwarzen Gedanken, die die eine oder andere dabei im Herzen trug, ahnte niemand etwas.
Ende Teil 2 – Fortsetzung folgt

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Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 1
Irene war die Erste. Irene war immer die Erste, darum verwahrte sie auch den Schlüssel. Wenn die beiden Damen eintrudelten, die zum Helfen eingeteilt waren, hatte Irene längst den Kaffee aufgesetzt und die Thermoskannen vorgewärmt: zwei für Bohnenkaffee, zwei für Entkoffeinierten und einmal Teewasser für Herrn Iring.
Den Kuchen brachte Karl-Heinz mit. Karl-Heinz kam immer zu spät, aber sie konnten die Teller ja schon mit den Kuchengabeln auf dem Servierwagen verteilen. Sie füllte gerade das heiße Wasser zum Aufwärmen in die Kaffeekannen, da kam die zwei Jahre jüngere Charlotte im Stechschritt auf das Gemeindehaus zu. Ihr übellauniges Herrenmenschengebaren, das sie nicht erst zur Schau trug, seit sie Neunundsiebzig war, hatte Irene schon oft die gute Laune verdorben. Sie kannten sich seit der Jugend – damals hatten sie zusammen den Mädchenkreis besucht. Charlotte stammte aus der gehobenen Gastronomie und ihre Familie hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Sie selbst hatte als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet und hatte mit ihrem zurückhaltenden Mann zwei Kinder und einen Enkel. Sie hätte allen Grund gehabt, glücklich und zufrieden zu sein, doch sie strahlte nichts als Arroganz, Missgunst und Härte aus.
Ihr folgte Renate auf den Fuß. Die ging Irene auf andere Weise auf die Nerven. Renate wurde mit ihren achtzig Jahren nur noch von ihrem spachteldicken Make-up zusammengehalten, nichts an ihr war echt, aber sie prahlte gern mit den zahlreichen Amouren ihrer ersten vier Lebensdekaden, bis sie schließlich einen sicheren Anker gefunden hatte, der auch bei ihr geblieben war, als die Fassade deutlich zu bröckeln begann. Nun war sie seit fünf Jahren Witwe und hatte keine Kinder, die sie über den Verlust und die Einsamkeit hinwegtrösten konnten.
„Kaffee läuft durch, Teewasser ist aufgesetzt, Kannen sind angewärmt.“, erklärte Irene den Stand der erledigten Aufgaben. „Wenn ihr jetzt schon mal Dessertteller mit Kuchengabeln auf dem Servierwagen bereit stellt, kümmere ich mich um Tassen, Löffel, Zucker und Kondensmilch.“
Im Grunde wäre Irene zufrieden gewesen, wenn sie die Vorbereitungen allein getroffen hätte, aber hier mitzuwirken, das ließen die anderen Damen sich nicht nehmen, auch wenn Renate ohnhin die meiste Zeit hilflos im Weg herumstand und Charlotte mit planlosem, zur Schau gestelltem Aktionismus meistens alles durcheinanderbrachte. So auch jetzt.
„Wieso sollen wir die Teller denn auf den Wagen verteilen, wenn der Kuchen noch gar nicht da ist? Dann muss man sich ja bücken, um die Teilchen auf die Teller in den unteren Etagen zu bugsieren, da geht doch alles daneben.“
„Warum soll da was daneben gehen?“, fragte Irene herausfordernd.
„Na, ja, so ein gedeckter Apfelkuchen, der bricht leicht auseinander.“
„Heute gibt’s Berliner.“
„Na, dann pudern wir alles mit dem Zucker voll.“
„Die sind mit Guss.“
„Aber dann muss man die doch mit der Zange auflegen, sonst hat man gleich ganz klebrige Hände.“
„Ich mach das schnell mit Handschuhen.“
Renate begann zu kichern. „Klingt so, als würdest du ein Kapitalverbrechen planen. Bloß keine Fingerabdrücke auf den Tortentellern hinterlassen.“
„Mach darüber keine Witze.“, fuhr Charlotte Renate an. „Ich weiß zufällig, dass eine Ehegattenmörderin unter uns ist. Ich habe lange gezögert, aber morgen gehe ich zur Polizei.“
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt

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Freitag, 2. Februar 2018
Fröhliches Schreibspiel – ein Improvisationskrimi – bitte mitspielen!!!
Es hat nicht funktioniert, der Plan ist nicht aufgegangen. Wer Spaß hat kann unsere beiden Sätze ja noch einmal lesen ;-) Morgen gibt es einen neuen Beitrag.
Rotraut hatte vollkommen vergessen, noch einmal durch den farbenverwöhnten Garten zu gehen und einen vollendeten Herbstblumenstrauß zusammenzustellen, doch statt noch einmal umzukehren, entschied sie sich für eine pragmatische Lösung. (C. Fabry)
...Beherzt nahm sie den Trockenblumenstrauß aus der Vase im Flur und hielt ihn über Kopf über Wasserdampf, damit er einigermaßen frisch aussah; für ihre zukünftige Schwägerin sollte das allemal reichen - um ihr unmissverständlich klarzumachen, dass sie nicht willkommen ist. Jedenfalls nicht, was Rotraut betraf ...(Keinmann)

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Donnerstag, 25. Januar 2018
Sturm - abgeschlossener Kurzkrimi
Sie hatte Mühe, etwas zu erkennen, denn die dichten, schulterlangen Locken tanzten anarchisch vor ihren Augen. Friederike nahm allmählich Fahrt auf, aber noch war es nicht wirklich lebensgefährlich, vor die Tür zu gehen. Ab 11.00 Uhr war die Kirche geöffnet und um 11.30 Uhr kam Ludger immer zum Üben. Sie trudelte regelmäßig um 11.15 Uhr ein und versteckte sich in irgendeiner dunklen Ecke, wo sie heimlich seinem überwältigenden Orgelspiel lauschte – oft die gesamten zwei Stunden. Sie blieb dann noch eine Viertelstunde sitzen und verließ die Kirche gegen 13.45 Uhr. Heute würde sie wohl bleiben müssen, bis der Küster zum Abschließen kam, aber vielleicht, würde Ludger auch bleiben und wer wusste schon, was alles passieren konnte, wenn man zu zweit in einer kühlen, altehrwürdigen Kirche festsaß, während draußen ein Orkan toste.
Sie wartete ungeduldig im Seitenschiff und fragte sich gerade, ob er vielleicht heute gar nicht käme und auf die Übungsstunden verzichtete, aber dann öffnete sich die Eingangstür und schon hörte sie seine vertrauten, schweren Schritte auf der knarrenden Holztreppe. Sie hatte ihn noch nie Sonntags im Gottesdienst erlebt, er war ja hier als Organist tätig. Sonntags schlief sie immer besonders lange und gönnte sich eine Pause von der Musik, die sonst ihr ganzes Leben bestimmte. Die unzähligen Stunden an der Musikhochschule, in denen sie Seminare und Vorlesungen besuchte und sich die Finger wund spielte. Ludger war derjenige, von dem sie am meisten lernen konnte. Eigentlich hieß er für sie ja Professor Doktor Hallwachs, aber es konnte sich nur noch um eine ganz kurze Zeit handeln, dann würde es ganz selbstverständlich sein, dass sie ihn Ludger nannte und er sie Raphaela. Sie hatte es in seinen Augen gesehen und er hatte seine Hände sprechen lassen, die sie zuerst sanft an den Schultern berührt hatten und dann nervös über die Kalviatur geflattert waren, während sein Atem sich ungewohnt beschleunigte. Er wollte sie so sehr, wie sie ihn wollte, da war sie ganz sicher. Er wollte nur nicht gegen die Etikette verstoßen – ein Professor, der mit einer Studentin anbändelte, das war eines Professor Dr. Ludger Hallwachs unwürdig. Und noch war er ja verheiratet, auch wenn seine Frau nie in Erscheinung trat, sie teilte seine beruflichen Leidenschaften wohl nicht – und möglicherweise auch keine anderen. Er trug schon lange keinen Ehering mehr und wirkte auch sonst eher wie ein einsamer Junggeselle auf der Suche nach ein wenig Wärme – und die wollte sie ihm geben. Wenn sie das Examen bestanden hatte, würde sie sich ihm offenbaren.
Das Gebläse startete, einige wenige Register wurden gezogen. Er spielte die Air von Bach und so wie er sie interpretierte, glich sie dem zarten Flötenspiel einer überirdischen Elfe. Sie glitt dahin auf dem ruhigen Strom der barocken Harmonien, als das Orgelspiel unerwartet abrupt abbrach. Ihr Herz stockte. Was war geschehen? Er hatte sich nicht verspielt, also warum hatte er den Flow unterbrochen? Fühlte er sich nicht wohl? Sie wollte gerade nach oben eilen und nachsehen, da hörte sie weibliches Gekicher und seine leise Stimme, undeutlich was den Inhalt betraf, überdeutlich in Bezug auf die Absichten. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, sah sie deutlich vor sich, wie die beiden sich grinsend neckten, gegenseitig ihre Ohren beknabberten, wie ihre Lippen über das Gesicht des jeweils anderen flatterten, wie die Hände über den geliebten Körper fuhren, und ein eindeutiges Rascheln verriet ihr, dass sie sich nach und nach ihrer Kleidung entledigten. Zwischendurch hörte sie es schmatzen, stöhnen und keuchen, dann wieder kichern und sie wäre sofort nach draußen gelaufen, wenn sie sich nicht vor dem entsetzlichen Sturm gefürchtet hätte. So musste sich die Hölle anfühlen: in alle Ewigkeit dem Entzücken der Anderen lauschen während man selbst zum Dasein als Zaungast verdammt war. Sie ließen sich Zeit, Ludger und seine Gefährtin. Das Brausen des Orkans wurde heftiger genauso wie die Liebesseufzer die hinter der Orgel entstanden. In Raphaela brodelte eine giftige Suppe aus Enttäuschung, Trauer, Schmerz, Demütigung, Kränkung und Zorn. Als die spitzen Schreie der Lust grotesk durch die Kirche hallten, ertrug sie es schließlich nicht mehr. Der Lebensgefahr zum Trotz trat sie nach draußen. Zuerst bekam sie den Eingang kaum auf, denn der Sturm kam aus Westen und drückte die Tür zu. Schließlich schlug sie mit einem großen Schwung herum und nur ein gelber Wertstoffsack, den der Wind an die passende Stelle geweht hatte, verhinderte ein verräterisches Krachen. Ihr bot sich ein Bild der Verwüstung. Auf dem Vorplatz der Kirche lag alles voller zerbrochener Dachziegeln und noch immer kamen welche krachend vom Dach. Sie konnte nicht dort entlang gehen, das war einfach unmöglich. Nicht weit von ihren Füßen lag eine Ziegel, von der bisher verhältnismäßig wenig abgebrochen war. Sie hob sie auf, ging zurück in die Kirche und begann, hinter sich zu zu machen. Sie hatte Mühe, die schwere Eichentür herumzuziehen und dann dafür zu sorgen, dass sie nicht mit einem lauten Knall ins Schloss flog, denn der Orkan wirkte mit beträchtlicher Kraft auf das Westwerk. Rechts neben dem Eingang befand sich der Aufgang, der zur Empore und zum Turm hoch führte. Sie versteckte sich unter der Treppe und bekam noch gerade das Finale des ungewöhnlichen Liebesaktes mit. Die Dachziegel hielt sie dabei fest umklammert.
Dann war es still. Die ganze Kirche war Schweigen, nur draußen brüllte Friederike aus Leibeskräften und in Raphaelas Bauch rumorten düstere Gefühle mit zu viel Magensäure und Darmwinden um die Wette. Die Finger, die die kalte, nasse Dachziegel umklammerten wurden kalkweiß. Was wollte sie eigentlich damit? Warum hatte sie das kalte, schwere Ding nicht einfach liegenlassen? Oben rührte sich wieder etwas.
„Spiel was für mich.“, sagte die Orgeldirne.
Was willst du hören?“, fragte der Professor.
„Besame Mucho.“
„Auf der Kirchenorgel?“
„Na und? Wir haben uns doch am Fuße derselben geliebt – und geküsst. Viel geküsst. Besame mucho, eben. Küss mich viel, würde Google-Übersetzer sagen.“
Ein solches Sakrileg würde Ludger niemals begehen. Was bildete die Schlampe sich ein? Raphaela wartete gespannt auf seine Reaktion.
Ein A-Moll-Akkord ertönte, dann D-Dur, dann wieder A-Moll... und dann begann die Hure aus voller Kehle zu singen. Für wen hielt sie sich? Für die Carmen? Plötzlich wusste Raphaela, was zu tun war. Sie nutzte die Geräuschkulisse um unbemerkt auf den Turm zu schlüpfen. Oben lauerte sie. Besame Mucho verstummte. Eine Weile drang kein Geräusch aus der Kirche, dafür war es draußen umso lauter. Der Orkan erreichte gerade seinen Zenit. Dann hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie hörte Ludger rufen: „Bleib doch noch. Ist doch viel zu gefährlich jetzt.“
„Ach was“, rief die Drecksdirne zurück. „Es sind nur ein paar Schritte bis ins Pfarrhaus. Keine Bäume, keine fliegenden Untertassen. Bis Sonntag.“
Raphaela hörte, wie die Tür des Haupteingangs aufflog. Der gelbe Sack, der bei ihr noch als Puffer gedient hatte, hatte sich wohl verabschiedet.
„Ach du Elend!“, rief die Liebhaberin. „Da muss ich jetzt flitzen, damit ich heil da durch komme.“
„Ja, flitz du nur.“, flüsterte Raphaela mit düsterem Blick. Die Pfarrerin schloss mühevoll die große Eichentür. Dann startete sie zum Sprint in Richtung Pfarrhaus. Raphaela hatte das kleine Turmfenster bereits geöffnet und nun schleuderte sie die Ziegel in hohem Bogen in Richtung der liederlichen Theologin. Die Dachziegel erwischte die Pfarrerin am Kopf. Drinnen begann Ludgers Orgelspiel. Hier oben klang es ganz leise. Als sie herunterstieg, begann die Orgel zu brausen. Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge E-Moll. Der Sturm war noch immer auf seinem Höhepunkt. Draußen, in der Kirche und in ihr. Alles war in Aufruhr. Schon bald würde sie an die Stelle der Frau treten, die jetzt sterbend vor der Kirche lag. Sobald Ludger die Trauerarbeit bewältigt haben würde, wäre er endlich bereit für sie. Sie verbarg sich In der Sakristei, dort gab es eine Notausgangstür. Wenn er aufhörte zu spielen, würde sie hinausschlüpfen.

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