Freitag, 9. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 2. Teil
Dort stand:
Liebe Kirstin!
Wenn Du diese Zeilen in Deinen Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben und Du vielleicht schon längst erwachsen. Ich habe einen Notar damit beauftragt, Dir meine Beichte zuzustellen, sobald ihn die Nachricht meines Todes erreicht. Ich konnte dies nicht tun, so lange ich lebte, denn dann hätte ich damit rechnen müssen, dass Du Strafanzeige gegen mich erstattest und ich hätte die nächsten Jahre im Strafvollzug verbringen müssen. Dazu war ich nicht bereit. Aber was ich getan habe, habe ich auch für Dich getan – und vor allem für jene, die Dir nachgefolgt wären, wenn ich nicht gehandelt hätte.
Ich war ungeheuer stolz auf meinen Sohn, der ein beachtliches Abitur hinlegte und sich anschließend für ein Studium der evangelischen Theologie entschied. Dass er in Tübingen und Marburg problemlos einen Studienplatz erhielt und mit Auszeichnung abschloss, beeindruckte mich umso mehr. Er fand früh eine ebenso attraktive wie respektable Ehefrau und gründete noch im Vikariat eine Familie. Bereits im Alter von 30 Jahren hatte er seine erste feste Stelle, damals im Kirchenkreis Siegen. Als ich ihn dort nach etwa einem Jahr zum wiederholten Mal für längere Zeit besuchte, fiel mir auf, dass eine 17-jährige Ehrenamtliche, die den Mädchen-Bibelkreis leitete, täglich bei ihm aufkreuzte und unverhältnismäßig lange blieb. Alexanders Frau bemerkte das nicht einmal, sie war viel zu sehr mit ihren damals zwei kleinen Kindern beschäftigt. Die glühenden Blicke, die der naive Backfisch meinem anziehenden Sohn zuwarf, waren jedoch kaum zu ignorieren und ich stellte fest, dass er sie unentwegt ermutigte, schamlos mit ihr flirtete und sie generös mit Komplimenten überschüttete, wie besonders sie sei, wie klug, wie einfühlsam und so weiter. Ich machte ihm die Hölle heiß und er ließ von dem Mädchen ab. Ich hielt es für einen Ausrutscher. Er war fast 33 Jahre alt, als er schließlich die Stelle hier in Spradow antrat und ich freute mich, dass ich endlich wieder die Gelegenheit hatte, täglich ihn und meine Enkel zu sehen, die mittlerweile zu dritt waren. Er war gerade ein halbes Jahr in seinem neuen Wirkungskreis, da bemerkte ich seinen Annäherungsversuch an eine 14-jährige Neukonfirmierte, den ich sogleich im Keim erstickte. Etwa ein halbes Jahr später fand ich heraus, dass er sich direkt im Anschluss eine 16-Jährige geangelt hatte, dabei war er allerdings viel geschickter vorgegangen. Ich hatte ihn nur zufällig entdeckt und stellte ihm ein Ultimatum: endlich damit aufzuhören oder ich würde ihn anzeigen.
Zwei Jahre später – er war mittlerweile 35 Jahre alt und seine Älteste ging bereits zur Schule - erwischt ich ihn erneut mit einer 15-Jährigen – mit Dir. Ich war ja schon außer mir, als er den jungen Mädchen mit überfreundlicher Zuwendung und unangemessenem Körperkontakt die Köpfe verdreht hatte, aber was er mit Dir angestellt hat, das sprengte meine Vorstellungskraft. Es wäre mir schon peinlich gewesen, ihn mit seiner Frau zu überraschen, aber als ich dann sah, dass Du es warst, eine minderjährige Kindergottesdiensthelferin, da stürzte meine Welt ein wie ein Kartenhaus. In meiner Verzweiflung stellte ich seine Wohnung auf den Kopf, ohne einen Plan, was ich da eigentlich suchte. Schließlich fand ich Massen von Fotos, Briefen und Aufzeichnungen, die belegten, dass er mit mindestens zwölf Mädchen Affären gehabt hatte.
Wie konnte ich zulassen, dass der Mann, dem ich das Leben geschenkt hatte, den ich zu dem erzogen hatte, was er heute war, reihenweise die Seelen junger Mädchen zerstörte, nur um seinen absonderlichen Trieben zu frönen? Ich musste ihn aufhalten. Sicher, ich hätte ihn anzeigen können, dann wäre er ins Gefängnis gekommen und hätte nie wieder als Gemeindepfarrer arbeiten können. Aber spätestens nach zehn Jahren oder eher wäre er aus der Haft entlassen worden und ich bin sicher, dass er einen Weg gefunden hätte, erneut Mädchen zu missbrauchen. Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. Ich war dafür verantwortlich, dass er existierte, ich musste dafür sorgen, dass er nie wieder Schaden anrichtete. Vielleicht war auch ein wenig Egoismus im Spiel, als ich beschloss, ihn ohne das Bekanntwerden seiner ungeheuerlichen Taten in den Tod zu schicken. Ob das verzeihlich ist, weiß nur Gott. Wäre jemand anderes des Verbrechens bezichtigt worden, das ich begangen habe, hätte ich mich sofort gestellt. Aber das war nicht nötig, der Arzt stellte einen natürlichen Tod fest. Als Krankenschwester weiß ich, wie man einen Infarkt auslöst, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hoffe, die Wunden, die mein Sohn Dir in jungen Jahren zugefügt hat, werden im Laufe Deines Lebens verheilen. Ich wünsche Dir für Deinen weiteren Weg alles Gute.
Deine Anneliese Buschmann
Ende

... comment

 
vielleicht sollte ich erwähnen, dass Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen nicht beabsichtigt sind und wenn sie denn jemandem auffallen, wären sie rein zufällig.

... link  


... comment